Du bist in die Tiefe gegangen und ich konnte dir nicht folgen. „Ich gehe in die Tiefe“, hast du noch zu mir gesagt. Und „Ich bin nicht oberflächlich.“ Dann warst du weg. Es ging so schnell. In einem Moment warst du da, und im nächsten verschwunden. Schon länger wusste ich, dass dies passieren würde, dass du an diesen Ort gehen würdest, wohin ich dir nicht folgen konnte. Immer wieder war dieser Gedanke in meinem Kopf aufgetaucht, zu den unmöglichsten Zeiten (beim Schuhbänder zubinden, beim Scheitelziehen, während ich auf den Bus wartete) und an allen möglichen Orten (im Bad, im Wartezimmer beim Arzt, im Keller). Und immer war mir dabei zumute, als ob mich eine riesengroße Welle mitriss und mir alle Luft nahm. Desto mehr ich mich dagegenstemmte, umso mehr wurde ich davon überrollt. Man kann einem Meer nicht Einhalt gebieten. Und doch habe ich es versucht, einmal, mehrmals, jeden Tag, wochenlang, im Laufe von Monaten, über Jahre hinweg. Doch das Meer des Vergessens ist geduldig, es hat alle Zeit der Welt, es kann warten.
Aber warum rede ich von mir, wo doch du in die Tiefe gerissen wurdest, dich der Strudel der Gezeiten verschlungen hat. Auch du hast dich gewehrt, hast dich der Flut entgegengestemmt, mit all deiner Lebens- und Willenskraft. Immer wieder bist du vor den Zeitenbrechern davon gelaufen, bist um dein Leben gerannt, und doch wurdest du weggerissen von allem, woran du geglaubt hast und was dir lieb war. Anfangs konntest du dich noch festklammern an Gewohntem und Vertrautem, aber immer mehr zerfiel dein Selbst unter dem Ansturm der Zeit. Immer öfter trieben deine Erinnerungen im Ozean des Vergessens davon.
Und dann kam dieser Satz: „Ich gehe in die Tiefe.“. Ganz ergeben hast du ihn gesagt, du hattest dein Schicksal angenommen. Und du konntest dich nicht mehr wehren gegen das Vergessen. Ja, jetzt wolltest du sogar vergessen – all den Schmerz, das Leid und die Ausweglosigkeit.
Und ich war nicht mehr dein Sohn und du nicht mehr mein Vater. Manchmal war ich ein Fremder und manchmal ein Freund. Oft hast du mich mit einem freudestrahlenden „Papa“ begrüßt.
„Ich bin nicht oberflächlich“. Das war der andere Satz. Und für diesen bin ich dir so dankbar. Denn obwohl du in die Tiefe gerissen wurdest, hast du es geschafft, selbst dort verborgene Schätze zu entdecken. Du hast mich an der Hand genommen und mir gezeigt, dass es so viel zu erkunden gibt dort unten, am Grund des Lebens. Jetzt ist eine Nähe zwischen uns, die es so früher nicht gab. Ich lausche deinen oft so tiefsinnigen Sätzen, wir lachen über die albernsten Sachen und weinen gemeinsam über die Grausamkeit von Mensch und Natur. Und so gehe ich mit dir unseren ganz eigenen gemeinsamen Weg zwischen den Zeiten, mit Abstechern in die Vergangenheit, zum Hier und Jetzt in die Unendlichkeit.
Foto: Eigenes Werk (Doppelbelichtung)