„Herrschaftszeiten nochmal, Schwester, Sie brauchen nicht mit mir wie mit einem Kleinkind zu reden. Ich habe mich schon selbst angezogen, da waren Sie noch nicht mal auf der Welt. Ich kann mich gut an meine Kindheit erinnern, an Mutter und Vater. Sieben Kinder waren wir, war ja keine Seltenheit damals. Drei Brüder habe ich gehabt und vier Schwestern, wobei zwei Kleine haben das erste Jahr nicht überlebt. Und da war der Lumpi, dem habe ich so gerne Stöckchen geschmissen. Ich erinnere mich an unseren Hof, an die kleine Stuben und die große Küche. Und da war die Minka, die immer ganz leise reingeschlichen ist und sich hinter den Ofen gelegt hat, eigentlich hätte sie ja nicht rein dürfen, aber wir Kinder haben sie immer reingelassen, war ja arm, die Minka, in den kalten Winternächten. Gell Minka, pass nur auf, dass dich der Vater nicht erwischt.“ „Die Susi darf aber nur kurz auf Ihrem Bett liegen, die anderen wollen Sie ja auch noch streicheln. Hören Sie, wie sie schnurrt. Das ist was Schönes, nicht?“
„Nein, verdammt noch einmal, ich weiß nicht, was ich gestern zu Mittag gegessen habe. Ich weiß auch nicht, was ich heute gegessen habe.“ „Einen guten Kaiserschmarrn hat es heute gegeben, den essen Sie doch so gerne. Ausnahmsweise haben Sie auch eine zweite Portion bekommen“. „Und ich weiß auch nicht, wer am Vormittag da war, wenn sich überhaupt noch jemand die Mühe macht, diese leere Hülle von einem Körper zu besuchen. Warum sollten sie auch, wo ich zumeist nicht einmal mehr meine eigene Tochter Elisabeth erkenne und auch nicht die liebe kleine Klara?“
„Himmelzwirnundzugenäht, auch wenn ich den Löffel kaum mehr zum Mund bringe, will ich entscheiden können, wann ich genug habe. Ihr habt’s es ja alle nur auf mein Geld abgesehen, die ganze Bagage. Gestern hat eh schon wieder eine 2 Schilling-Münze aus meiner Geldbörse gefehlt, die ich immer ganz hinten im Nachtkasterl hinter meinem Schnupftuch versteckt habe. Was heißt da, Schilling gibt es nicht mehr, ich werde doch wohl noch unsere Währung kennen. Und die gute Schokolade, die ich da gehabt habe für die kleine Klara war auch weg. Gesindel, alles Diebe.“ „Aber Frau Herta, die 2 Euro haben Sie gestern der Nachtschwester zugesteckt, weil die so nett zu Ihnen war, wie Sie Arme so viel weinen haben müssen. Und die Schokolade haben Sie ja gerade selbst gegessen.“ „Ich werde doch noch wissen, was ich ausgeben habe, wo ich doch mein Leben lang Buchhalterin war und da hat nie ein Groschen gefehlt, in all den Jahrzehnten nicht, kein einziger Groschen. Da hat die Eisenbahn drüber fahren können, immer war die Abrechnung korrekt. Und nennen Sie mich nicht Herta, ich heiß noch immer Frau Regner für Sie, haben Sie denn gar keine Manieren, Sie Trampel, Sie?“
„Was wollte ich gerade holen? Warum stehe ich jetzt im Bad? Ich wollte doch irgendwas, was war das gleich? Da liegt der Kamm, na vielleicht wollte ich mich frisieren. Warum muss der gar so winzig sein? Das Ding kann man ja gar nicht halten. Nichts Gescheites kriegt man heute mehr, alles nur Schund. Und kosten tut es ein Vermögen. Wenn mein armer Werner das noch erlebt hätte? Der muss sich umdrehen im Grab, was das für Zeiten geworden sind. Und die Jugend, keine Manieren mehr, alles Tachinierer und Nichtsnutze, starren die ganze Zeit auf diese viereckigen Dinger und können nicht einmal mehr Kopfrechnen. Das hätte es zu unserer Zeit nicht gegeben. Gell Werner, die haben uns schon was Gescheites beigebracht in der Schule.“ „Frau Herta, sollen wir wieder ein bisschen Karten spielen. Ein bisschen Jolly vielleicht? Das Schnapsen geht ja leider nicht mehr. Schade, da waren Sie so gut drin und das hat Ihnen so viel Spaß gemacht.“
„Was sitze ich jetzt da am Bett herum? Ich wollte mir doch die Hände waschen gehen, sind ja ganz klebrig von der Schokolade. War ich nicht schon im Bad? Na kann ja nicht sein, sonst wären die Hände ja sauber. Was man nicht im Kopf hat, hat man in den Füßen - das hat schon mein Großvater gesagt. Der war ein gescheiter Mann, der Großvater. Er war auch ein fescher Kerl, so wie mein Werner. Wir waren so ein fesches Paar bei der Hochzeit. Ich war aber auch eine hübsche Gretl, das haben alle gesagt. Beim Tanzen bin ich kaum zum Luft holen gekommen, weil mich alle Burschen aufgefordert haben. Was schaust du mich so an? Glaubst mir nicht? Ja, wie ich ausschaue? Keine Zähne mehr, kaum mehr Haare, das Gesicht eingefallen, die Haut hängt überall runter, der Busen auch, da ist nichts mehr schön dran. Miststück, du!!! Geh weg da, das bin ja nicht ich, das kann ich nicht sein, die alte Funzn da. Schleich dich!“
„Nehmen Sie gefälligst Ihre Hände weg von mir. Was kann denn ich dafür, wenn der Spiegel runtergefallen ist. Jaja, die Scherben. Scherben bringen Glück, das hat schon meine arme Frau Mutter gesagt.“ „So geht das nicht, Frau Herta. NEIN! Sie werden sich noch wehtun. Lassen Sie die Scherben bitte liegen.“ „HILFE, lassen Sie mich gefälligst los. Nein, ich will jetzt noch nicht ins Bett. Ich hab‘ doch nicht einmal noch was zum Mittagessen bekommen. So einen Blödsinn habe ich schon lange nicht gehört. Wann soll ich denn das Abendessen gegessen haben, ist ja noch ganz hell draußen. Sommer soll sein und das, wo ich mein langes Unterhemd anhabe.“
„Jetzt hören Sie mir einmal gut zu, ich war nie erfroren. Ich bin im tiefsten Winter sogar schwimmen gegangen in unserem kleinen Teich. Verfroren, das hat es nicht gegeben bei uns. Wenn Sie mitgemacht hätten, was ich erlebt habe im Krieg. Nichts haben wir gehabt, gar nichts. In den Erbsen waren die Würmer drin, da haben wir eine dünne Suppe daraus gemacht. Und waren froh, dass wir überhaupt was zum Essen gehabt haben.“ „Sie sind in Sicherheit Frau Herta. Bitte weinen Sie doch nicht. Es ist alles gut. Ich verspreche es Ihnen.“ „Ist nicht noch Krieg? Zuerst der Anton, dann der Georg und dann der Alfred, alle sind sie gefallen. Und die Resl, die jüngste, hat es nicht mehr geschafft in den Keller, und wir haben sie nicht mehr gefunden. Resl, Resl, mein Gott, ich muss meine Schwester holen! Es war doch gerade Bombenalarm. Bitte, bitte, helfen Sie mir doch! Ich muss raus, sie schafft das nicht alleine. Sie ist doch noch so klein.“
„Wenn ich nur sterben könnte! Es wäre eine Erlösung. Ist doch kein Leben mehr, so ein Dahinsiechen. Gefangen in dieser Bruchbude von Körper, der sich zu Lebzeiten auflöst und schon jetzt ausschaut wie ein Gerippe. Jede Bewegung tut mir weh, das Liegen tut mir weh. Nur mehr blaue Flecken überall und die Haut wund am ganzen Körper. Sehen tu ich fast nichts mehr, hören tu ich schlecht. Das ist kein Leben mehr. Und gefangen hier in diesem Heim mit all den anderen armen alten Krüppeln. Keine Würde mehr. Wo soll noch Würde sein, wenn ich eine Windel umhabe und Sie mir den Hintern auswischen müssen?“ „Frau Herta, das ist meine Arbeit. Mir macht das nichts, ich bin das gewohnt. Und Sie können es halt nicht mehr, das ist keine Schande. Sie haben Ihr Leben lang was geleistet. Jetzt bin halt ich dran, was für Sie zu tun.“
„Klara, bist du das? Liebes Mäderl, komm her zur Oma. Lass dich anschauen. Na, krieg ich keinen Kuss? So ist es gut. Ich habe da eine Schokolade für dich. Bist ja so ein braves Mäderl. Dann setz dich her da zu mir aufs Bett mit der Mama und erzähl mir was. Was macht die Schule? Einen Einser in Mathe. Jaja, bist halt eine Gescheite. Das hast von der Oma, die war ja auch gut im Rechnen, gell Lisbeth?“
Diesen Text habe ich für den Wettbewerb „Gefangensein“ vom muc-Verlag geschrieben und eingereicht.
Foto: Eigenes Werk