Ich hasse es, wenn mir das passiert. Da sehe ich jemanden kurz an und ohne es zu wollen, hält mein Gehirn automatisch ein Schild hoch, auf dem steht: „Nicht anstreifen!“. Gut, in diesem Fall hatte das Schild sogar einen gewissen Sinn, schließlich handelte es sich um einen Mann in einem Overall mit lauter weißen Farbflecken. Und dass mein Denkapparat mir da ans Herz legte, mich nicht zu nahe zu setzen, hatte ja wirklich einen guten Grund. Dem inneren Befehl gehorchend setzte ich mich auf den freien Sitzplatz quer gegenüber dem jungen Mann im Malergewand. Dies obwohl ich ungern gegen die Fahrtrichtung sitze, weil eben gleiches Denkorgan meint, rückwärts Sinneseindrücke zu verarbeiten sei viel zu anstrengend und bringe meine ganze Wahrnehmung völlig durcheinander.
Wie ich nun da so saß, gegen die Fahrrichtung, wollten auch meine Augen was zu tun haben und blickten sich neugierig im Wagon um. Da waren viele interessante Menschen zu sehen, denen meine Gehirnwindungen gleich wieder Schilder umhängen wollten. Bevor sie das tun konnten, hatte ich aber meinen Kopf schon wieder weiter gedreht und mir wurde fast schwindelig von diesem rasch wechselnden Bilderkarussell. Um nicht völlig auszusteigen, blickte ich den leeren Sitz mir gegenüber an. Dieser hätte mir ja eigentlich die Möglichkeit geboten, in der richtigen Richtung zu sitzen, aber da bemerkte mein Sehorgan einen kleinen weißen Fleck auf der Sitzfläche und die Fast-schon-Aufsteh-Bewegung wurde sofort von mir abgebrochen. Und dieser Malertyp saß ja wirklich zu knapp daneben und sein Overall schaute so farbfrisch aus, dass ich mir bildlich vorstellen konnte, wie meine dunkelgrüne Daunenjacke mit weißen Farbflecken verunstaltet würde, die nie im Leben rauszubekommen wären.
Nein, nein, ich blieb schön auf meinem verkehrten Sitz platzen und lenkte mich von der mir falsch entgegenkommenden Landschaft vor dem Fenster mit dem Beobachten des Mannes in Weiß ab. Der bemerkte meine Blicke aber nicht, weil sein Kopf auf die Brust gesunken war, und er in einen seligen U-Bahn-Schlaf gefallen war. Nach getanem Malerwerk und einem langen Arbeitstag schien mir das nur recht und billig. Als er durch irgendeinen Traum, ein Geräusch oder die Angst, seine Ausstiegsstation zu verpassen, aufwachte und sein Kopf erschreckt in die Höhe schnellte, machte sein Gegenüber eine kurze Bemerkung zu ihm.
Dies war der Moment, wo mir klar wurde, dass die beiden zusammengehörten oder sich zumindest kannten. Der Mann gegenüber von meinem „Malertypen“ schien einem anderen Berufsstand anzugehören oder schon die Möglichkeit gehabt zu haben, seinen Overall mit Jeans, einem Sweater und einer schwarzen Lederjacke zu tauschen. Nichtsdestotrotz hatte ich mir, unabhängig von der Kleidung, von beiden Männern die gleiche Meinung gebildet, und diese fiel nicht gut aus. Aus innerem Empfinden und Erfahrungswerten heraus hängte ich beiden das Schild „Testosterongesteurte Machos“ um. In meiner Jugend hätte ich mich sicher nicht neben die beiden gesetzt, aber das ist ein Vorteil des Alters, das man weniger angemacht wird. Dies mag teilweise an mehr Selbstbewusstsein liegen, teils an wenig auffälliger Kleidung und zu vielen Teilen daran, dass bei älteren Männern, in deren Zielgruppe frau dann eher fällt, das Testosteron weniger wird. Wie dem auch sei, die Männer kamen bei mir nicht gut weg, obwohl sie noch gar nichts getan hätten, um dies verdient zu haben.
Das Blatt sollte sich allerdings schnell wenden. Der Mann neben mir reichte dem Malertypen sein Handy hinüber, auf das er zuvor die ganze Zeit intensiv gestarrt hatte. Ich hatte nicht darauf geachtet, ob er SMS oder Whatsapp las, Facebook-Postings durchscrollte oder sich ein YouTubeVideo reinzog. Letzteres stellte sich dann als die richtige Option heraus. Der Malertyp schaute sich eine kurze Sequenz an und kommentierte: „Geil!“. Bei dieser Bemerkung begann meine innere Einschätzung der beiden voll enthusiastisch mit dem Kopf zu nicken und mir zuzuflüstern: „Ich habe es ja gewusst. Kenn‘ mich ja aus mit solchen Typen. Eh klar. Zieht sich der da ein Porno rein, mitten in der U-Bahn. Schlimmer geht’s ja wohl nicht!“. Der Malertyp schien allerdings nicht so sehr an der Sache interessiert zu sein und gab das geile Video nach ein paar Sekunden wieder seinem Kumpel retour. Dieser starrte weiter gebannt auf den Bildschirm. Ich konnte nicht umhin, auch darauf zu blicken, weil ich Beweise sammeln wollte. Und was sah ich da? Nicht wie erwartet nackte Frauen, üppige Busen und eindeutige Szenen. Nein, auf dem kleinen Screen waren Hunde zu sehen, die miteinander im Schnee tollten.
Hastig trat mein Vorurteil einen geordneten Rückzug an. „Naja, solche Dinge passieren halt. Sorry. Aber wer kann schon wissen, dass die beiden so tierlieb sind? „Geil“ ist ja nur so ein Ausdruck, heißt ja noch nichts, wird ja heutzutage für alles verwendet. Gut, ich geh‘ dann mal. Habe gerade andere wichtige Dinge zu erledigen. Du verstehst schon? Tschüss, bin dann weg.“ Tja, und da saß ich dann neben den beiden offenbar Doch-nicht-Machos, sondern tierliebenden jungen Männern, mein Vorurteil hatte sich vertschüsst, und ich blinzelte weiter auf das Handydisplay, weil süßen Hunden kann ich nicht widerstehen. Also, die beiden Exemplare in dem Video spielten total ausgelassen in einer verschneiten Landschaft. Da kamen dann noch ein paar Beine ins Bild. Seltsamerweise waren da viele Beine zu sehen, eigentlich ein Kreis aus Beinen und sonst nichts. Die Kamera schwenkte nicht auf die Gesichter. „Seltsames Tiervideo“ wurde ein kurzer Gedanke bei mir vorstellig. Da bemerkte ich, dass der eine Hund den anderen Hund nicht nur spielerisch ansprang, sondern sich in seinem Fell verbiss. Um Gottes Willen, jetzt würde wohl gleich eine der Personen, die zu den vielen Beinen gehören mussten, eingreifen. Aber nein, die Beine bewegten sich nicht, standen weiter im Kreis um die zwei Hunde. Und da kam mir ein schrecklicher Verdacht.
Zwei große Hunde, ein Kreis voller Menschen, den Beinen nach eher Männer – was konnte das bedeuten? Unglaublich, aber mein Sitznachbar schaute sich mitten in der vollen U-Bahn ein Video von einem Hundekampf an! Das fand ich keineswegs besser als einen Pornofilm. Ich konnte meinen Blick nicht mehr von dem Bildschirm lösen und sah verzweifelt, wie die Hunde immer mehr übereinander herfielen, Blut auf den weißen Schnee zu tropfen begann und der Kreis Männer nicht eingriff, vielmehr das blutige Spektakel zu genießen schien. Mit Willenskraft löste ich meinen Blick nun von dieser grauenhaften Aufzeichnung eines realen Ereignisses, was sich irgendwo, irgendwann tatsächlich abgespielt hatte. Einer dieser beiden wunderschönen großen Hunde war inzwischen wahrscheinlich auf brutalste Weise von dem anderen Hund, den absolut keine Schuld traf, zerfleischt worden. Das war so grauenhaft, dass ich kurz die Augen schließen und tief durchatmen musste, um mich wieder zu fangen.
Und solches Grauen gab es deshalb, weil es Leute gab, die dafür Geld bezahlten, um sich an diesen furchtbaren inszenierten Hundemorden zu ergötzen. Dass so was auch im Internet und auf YouTube kursierte, hätte mir klar sein müssen, aber bis dato war ich glücklicherweise von diesem Wissen verschont geblieben. Und hier wurde es mir mit voller Härte präsentiert, mitten in der U-Bahn. Und der Typ neben mir gehörte zu dem System dazu, welches diese Brutalität unterstützte. Wenn es niemanden gäbe, den so was interessiert, würde es von selbst aufhören, weil kein Geld mehr damit zu machen wäre. Aber es gab eben leider Menschen, die dieses Blutvergießen am Leben erhielten.
Mein Vorurteil war inzwischen im Laufschritt zu mir zurückgekehrt und schrie mir schon von weitem entgegen: „Ich habe es dir ja gesagt. Ich wusste es doch. Solchen Typen kann man nicht trauen. Ob sie Frauen angehen oder Hunde zu Tode hetzen, das Testosteron tropft förmlich aus ihnen heraus, so voll sind sie davon. Ich habe dich ja von Anfang an gewarnt: „Nicht anstreifen!“, aber du hast mir ja nicht geglaubt. Das hast du davon!“ Ja, das hatte ich davon. Nämlich einen Cocktail an verschiedensten Gefühlen, der mich schwindelig machte. Da war irre Wut, gegen dieses Verbrechen an Tieren. Da war furchtbare Enttäuschung, dass Menschen so brutal sein konnten. Da war Hass, gegen die Typen, die den Hundekampf veranstaltet hatten, gegen die, die das Video gedreht und online gestellt hatten, und gegen den Typen neben, der sich das reinzog und gegen seinen Kumpel in Weiß, der das geil fand. Und da war die volle Verzweiflung, was ich nun mit all diesen Gefühlen machen sollte.
Ich bin kein mutiger Mensch. Ich versuche aber immer mehr, Zivilcourage zu zeigen und die Welt im Kleinen zu verändern. Gerade vor ein paar Monaten hatte ich auf einem Bahnsteig in eine wirklich brenzlige Situation eingegriffen und war ohne Nachzudenken auf einen Mann losgerannt, der einen anderen angegriffen hatte. Damals war mir zum Glück nichts passiert, aber die meisten hatten mir nachher gesagt, dass ich total leichtsinnig gewesen wäre. Und sie hatten ja Recht. Trotzdem gibt es oft nur einen Bruchteil einer Sekunde, wo man entscheiden muss oder vielmehr instinktiv reagiert. Hier, in dieser Situation, hatte ich Zeit zu überlegen. Und mein Denkapparat, mein Gewissen und mein Wertesystem fingen an Hand von Erfahrungen und Wahrscheinlichkeitstheorien an, heftigst miteinander zu diskutieren,
Meine Zivilcourage schrie: „Wir müssen etwas tun. So kann der Typ nicht einfach wegkommen. Macht schon was!“ Die Vorsicht mischte sich ein mit den Worten: „Nur mit der Ruhe. Bedenkt einmal, was passieren könnte, wenn wir dem Typen was an den Kopf werfen. Wir haben einmal Glück gehabt, aber immer geht das nicht.“ Der Zorn brüllte: „Der Typ hat eine ordentliche Lektion verdient. Rauf auf ihn mit Gebrüll!“ Die Zivilcourage fragte sich: „Wenn wir was tun, was? Was können wir zu ihm sagen? Was könnten wir machen?“ Die Vernunft meldete sich zu Wort und analysierte die Situation: „Ich bin der Meinung, dass hier Zivilcourage angebracht wäre, aber ich gebe der Vorsicht recht, dass wir wahrscheinlich den Kürzeren ziehen würden. Und da keinem von uns irgendeine und schon gar keine brauchbare Idee gekommen ist, werden wir NICHTS tun.“ Das förderte die Enttäuschung zu Tage: „Also ich bin so was von enttäuscht von uns. Einfach nichts tun. Wo bleibt die Zivilcourage, der Mut? Wo bleiben unsere Werte?“ Und sie schüttelte den Kopf und blickte gemeinsam mit der Traurigkeit und der Betroffenheit geknickt zu Boden.
Während dieser innere Dialog in mir tobte, standen die beiden Männer auf und stiegen aus der U-Bahn aus. Und da saß ich nun mit diesem Haufen von negativen Gefühlen und der Enttäuschung über mich selbst, dass ich NICHTS getan hatte, dass mir absolut NICHTS eingefallen war, wie ich reagieren hätte können. Bei der nächsten Station stieg dann ich aus, gemeinsam mit einem ganzen Haufen geknickter Gefühle. Meine vor dem Vorfall noch vorhandenen positiven Emotionen blieben jedoch in der U-Bahn sitzen und winkten mir heftig zu, um mich darauf aufmerksam zu machen, dass ich sie vergessen hatte. Aber leider dauerte es einige Stunden und Umstiege, bis wir uns wiedergefunden haben.