Martina: „Ich muss voraussetzen, dass ich wirklich ein tierliebender Mensch bin. Wer mich kennt, weiß, dass ich jeder Katze hinterher laufe. Und selbst tiefste Kratzer entschuldige ich mit dem Kommentar, dass ich ja selbst schuld war. Jeder Hund bekommt gleich einen Knochen von mir und jedes Pferd einen Apfel. So weit so gut. Aber diesen Hahn konnte man beim besten Willen nicht als Tier bezeichnen, er war die Ausgeburt der Hölle. Das ist meine erste Entschuldigung. Die lassen viele nicht gelten. Aber meine zweite stößt meist auf mehr Verständnis. Ich habe es aus Liebe getan. Nein, nicht aus Liebe zu diesem stolzierenden aufgeblasenen Wecker von Gockel. Aus Liebe zum allerbesten, treuesten, schönsten, gutmütigsten Mann der Welt. aus Liebe zu Jonathan.“ Jonathan: „Jetzt übertreibst du aber. So toll bin ich nun auch wieder nicht. Vielleicht ein bisschen von all dem, na gut, wahrscheinlich schon etwas über dem Durchschnitt. Naja, wenn ich es genau bedenke, gebe ich dir eigentlich ganz recht.“ Martina: „Schon gut Jonathan. Andere nehmen dich vielleicht noch ernst, die kennen ja deine ironische Seite nicht. Willst du jetzt weiter erzählen oder soll ich?“
Jonathan:„ Ich bin ja schon ruhig. Bitte erzähl du weiter, ich höre dir so gerne zu, wenn du diese Geschichte erzählst. Schließlich hat ja so unsere große Liebe begonnen.“
Martina: „Eben, ich träume zwar heute noch von dem Mistvieh, aber was tut man nicht alles für die Liebe. Nun fange ich aber besser ganz am Anfang an, sonst kennt sich ja niemand aus. Wir schreiben das Jahr 2015, und es ist der Morgen nach Weihnachten. Ich wohne ja in dieser kleinen Reihenhaussiedlung am Rande von Wien. Und wie ich mich gerade gemütlich auf die andere Seite drehen und weiter schlafen will, dringt ganz laut ein kräftiges Kikeriki an mein Ohr. Und gleich noch einmal und noch einmal und es nimmt einfach keine Ende. Genervt gebe ich irgendwann den Gedanken auf Weiterschlafen auf und begebe mich in den Garten. Dort traue ich meinen Augen nicht, weil am Zaun sitzt ein großer bunter Hahn, der mich misstrauisch anguckt und sogleich erneut einen markerschütternden Schrei ausstößt.“
Jonathan: „Jaja, es war wirklich ein Engel von einem Federvieh, der mit himmlischer Stimme mindestens die Stunden, wenn nicht sogar die Minuten, eingesungen hat. Jeder, der ihn gehört hat, hat sofort an den Himmel denken müssen.“
Martina: „ Ja, aber nicht der süßen Tönen wegen, sondern vielmehr wie himmlisch das Vieh sich in einer Bratpfanne machen würde. Aber greifen wir nicht vor. Ich stehe da also am Zaun und verfluche meine tierliebende Nachbarin, die offenbar diesmal zu weit gegangen war. In den Vorjahren durfte sich ihre Tochter unter dem Christbaum über einige lebende Geschenke freuen. Zuerst war da diese riesige orange Perserkatze, fast so groß wie ein Puma. Dann das Kalb von einem Berner Sennenhund. Im Jahr darauf der Papagei, der aber zum Leidwesen der Tochter kein Wort spricht. Und von dem Chamäleon voriges Jahr wollen wir gar nicht reden. Aber ein Hahn. Das geht wirklich zu weit. Und wie ich da so stehe und vor Ärger fast so grün wie der Hahn bin, sehe ich ein Grundstück weiter hinten einen Mann stehen. Das muss wohl der neue Nachbar sein, denke ich mir, habe ihn noch gar nicht gesehen.“
Jonathan: „Martina ist da gestanden in ihrem neckischen Nachthemd mitten im Schnee und schien die Kälte vor lauter Wut gar nicht zu spüren. Und ich war sofort Feuer und Flamme für sie. Was für eine Frau, dachte ich bei mir. Soweit man bei dem Lärm überhaupt etwas denken konnte.“
Martina: „Ja Jonathan, der verflixte Vogel war unser Fluch und unser Segen zugleich. Wer weiß, ob wir uns sonst so schnell kennen gelernt hätten, wenn er uns mit seinem Morgengeschrei am 25. Dezember nicht beide in den Garten gelockt hätte. Aber das sollte ja dann nicht nur am Morgen so gehen, sondern die nächsten Wochen erklang sein Kikeriki zu allen Tages- und sogar Nachtzeiten. Das Vieh hatte in der Nacht offenbar eine Persönlichkeitsspaltung und hat sich für eine Eule gehalten.“
Jonathan: „Naja, dich hat es nicht kalt gelassen, aber du bist ja generell so gutmütig und hättest dich sicher damit abgefunden. Und ich bin so ein harter Kerl, dem das ja wirklich überhaupt gar nichts ausgemacht hat. Völlig egal war mir das, nicht war, meine Liebe?“
Martina: „Jaja, mein Jonathan und seine Ironie. Der war völlig fertig. Der zieht sich ja schon den Polster über den Kopf, wenn in der Früh nur ein Spatz den kleinsten Pieps von sich gibt. Ist halt ein richtiges Mimöschen in so manchen Dingen. Beim Anbandeln übrigens auch. Nach dem ersten Morgen und dem Austausch gemeinsamer Hasstiraden gegen den Gockel haben wir uns noch oft über die Gartenzäune hinweg unterhalten. Und interessiert war er von Anfang an mir, aber viel zu schüchtern. Naja, und so ist es halt dann passiert.
Valentinstag habe ich die Steinschleuder aus meiner Kindheit vom Dachboden geholt. Und ich war immer schon eine gute Schützin. Kabumm, lag der arme Vogel schon neben dem Zaun. Ich schnell hin und ihn still und heimlich in mein Haus gebracht. Die Federn von dem Mistvieh zupfen war das Schlimmste, aber ich habe das durchgezogen. Ab in die Pfanne mit dem Vogel und zu Mittag habe ich dann damit bei Jonathan angeläutet.“ Jonathan: „„Hier, ein Valentinspräsent! Ich hoffe, das Vieh wird uns schmecken.“, hat meine Herzallerliebste damals zu mir gesagt. War aber ein zäher Brocken, hat nicht besser geschmeckt als er geklungen hat. Ein wirklicher Teufelsbraten, egal ob lebendig oder tot. Aber war die Stille nicht einfach himmlisch!“ Martina: „Tja, und seitdem sind wir ein Paar. Das war es mir wert. Und wie gesagt, ich bin wirklich total tierliebend. Erst gestern habe ich wieder eine Biene aus der Regentonne gerettet.“ Jonathan: „So, aber jetzt genug von den Viechereien. Lass uns unseren Jahrestag feiern. Und alles Liebe zum Valentinstag, mein allerliebste Hähnchenmörderin. Ich werde dir diese Tat nie vergessen. Und der unmusikalische Gockel möge in Frieden ruhen!“
Fotos: Eigene Bilder (Anmerkung: Bei diesem Werk wurden keinerlei Tiere verletzt - und auch keine Menschen.)
Auch zu finden unter Kurzgeschichten.