Es war ein warmer Frühlingstag im März, einer dieser Tage, der zum ersten Mal wieder Haare ohne Hauben zum Vorschein brachte und an denen man keine ganze Parkbank für sich alleine besetzen konnte. Die Winterjacken wurden aufgeknöpft und die Herzen seit langer Zeit wieder mal ausgelüftet. Die Menschen hielten die Köpfe nicht mehr vor lauter Kälte eingezogen wie Schildkröten, vielmehr schauten sie wieder auf und lächelten sich sogar an.
Meine kleine Hanna und ich hatten als unser Ausflugsziel Schönbrunn gewählt. Aber nicht den Tiergarten, sondern die kleinen Seitenwege, in denen man sich fast wie in einem wilden Wald vorkommen konnte. Der Vergleich ist vielleicht an den Haaren herbeigezogen, aber ich bin ja auch ein Stadtkind und für mich waren halt schon ein paar Bäume und kiesbedeckte Wege die Natur in reinster Form. Und Hanna liebte es, dass sie hier nicht an der Hand gehen musste so wie im Straßengewirr der Stadt, in dem wir normalerweise unterwegs waren. Sie war mir gleich nach dem Maria-Theresia-Tor vorausgehüpft und schien in ihre Fantasiewelt vertieft.
Da sie haargenau wusste, welche Parkbank wir anstrebten, lief sie zielstrebig voraus und ich sah keine Veranlassung, sie aus ihrer Fantasiewelt herausholen. Nutzte ich doch selber die Zeit für mich, um meinen Gedanken nachzuhängen. Diese purzelten jedoch wie wilde Kaninchen durcheinander und schienen sich meinem bewussten Willen zu entziehen. War da gerade noch der Gedanke an die Einkaufsliste, die wir nach dem Spaziergang abzuarbeiten hatten, durchkreuzte gleich darauf eine Erinnerung an die erste – leider katastrophale - Ausfahrt von Hanna im Kinderwagen Begriffe wie Brot und Shampoo. Und plötzlich überrollten Eindrücke des morgendlichen Streites mit Hans den Gedankenweg von Kinderwagen, Brot und Shampoo. Da waren wir uns ja wieder mal ganz schön in die Haare geraten und das nur wegen meiner Bemerkung, dass es höchste Zeit wäre, mit Hanna zum Friseur zu gehen (womit ich offensichtlich seinen Stolz verletzt hatte, weil ja immer er ihr die Haare schnitt).
„Mama, guck doch, ein Eichkatzerl. Bitte, bitte, gib mir eine Nuss. Schnell!“ Der Ausruf meiner Tochter riss mich abrupt aus meinem Gedankenlabyrinth. Ich kramte in meinem Rucksack und nach längerem Suchen fand ich neben der Wasserflasche, unter der Haube für Hanna (man konnte ja nie wissen) und unter der Lektüre, die ich fürs Vorlesen mitgenommen hatte, endlich das Sackerl mit den Nüssen, die ich für diesen Fall mithatte.
Hanna war schon zu mir gelaufen und hatte mir ungeduldig beim Kramen im Rucksack zugesehen bis ich ihr endlich ein paar Nüsse in die Hand gab. Sofort lief sie dem Eichkätzchen ein paar Schritte entgegen, hielt dann aber inne und hockte sich ruhig hin, so wie ich es ihr beigebracht hatte. Das putzige Tier hob den Kopf, überlegte wohl, ob es sich lohnte und war dann in drei eleganten Sprüngen ganz nahe bei Hanna. Diese hatte die Zunge zwischen die Zähne geschoben und ich spürte förmlich ihre kindliche Anspannung und wie schwer es ihr fiel, stillzuhalten, um das Tier nicht zu verschrecken.
Als sich das rothaarige Fellbündel blitzschnell und ganz vorsichtig mit der Schnauze eine Nuss von der Hand meiner Tochter holte, hielt es Hanna nicht mehr aus und sprang mit einem Freudenschrei auf. „Hast du gesehen? Es hat die Nuss genommen. Direkt von meiner Hand. Ist es nicht süß? Kommt es noch mal zurück? Soll ich ihm noch eine Nuss geben?“ Eine Frage nach der anderen prasselte auf mich ein und es wurde keine Antwort darauf erwartet, sondern nur die Bestätigung, dass ich diesen Moment mit ihr erlebt hatte. Zum Glück war ich meinen Gedankenschleifen rechtzeitig entkommen, um die Freude mit meiner Tochter zu teilen.
Zirka eine halbe Stunde und drei Eichkätzchen später kamen wir bei unserem Bankerl an. Wer Schönbrunn kennt, glaubt jetzt womöglich, dass wir es bis in den Maxingpark und dort womöglich schon gar bis zum Hietzinger Friedhof geschafft hatten, aber die Zeit mit einem sechsjährigen Mädchen verläuft eben anders und Wegstrecken werden nicht nach Schritten gemessen, sondern nach Eichkätzchen, Meisen und anderen interessanten Tieren, Menschen oder Vorkommnissen. So waren wir zwar schon an der Gloriette vorbeigekommen, vor der Touristen und Einheimische gleichermaßen den schönen Tag mit einem Kaffee und einer Torte genossen. Wir befanden uns aber noch vor dem Tirolerhaus, in einem Bereich des Parkes, den ich besonders mag, da es hier eben keine Sehenswürdigkeiten gab und die meisten Touristen und auch die Einheimischen von einer Sehenswürdigkeit zur anderen eher den Hauptweg nutzten.
Um ein Haar hätten wir es geschafft, „unser“ Bankerl für uns allein zu haben, aber eine weißhaarige Frau, die uns entgegenkam, schien gleichzeitig zum Rasten eingeladen worden zu sein. Die alte Frau schien auch in Gedanken versunken, uns daher erst beim Niedersetzen zu bemerken und schaute überrascht auf. „Was für ein wunderschöner Frühlingstag, nicht wahr?“ versuchte sie gleich eine verbale Brücke zu bauen.
„Und du, süße Kleine, hast du schon ein Eichkätzchen gesehen?“. Die zweite Frage wurde von meiner Tochter gleich mit einem Wortschwall beantwortet, dass sie nicht erst ein, sondern schon drei Eichkatzerl gesehen hätte und nicht nur gesehen, nein, sondern sogar gefüttert. Und sie hätten ihr aus der Hand gefressen. Und sie war so geduldig gewesen und hätte sich stundenlang nicht bewegt. Die Frau lächelte mich wissend an und hörte dann wieder eifrig meiner kleinen Tierforscherin zu.
Nach einiger Zeit gingen jedoch sogar meiner Tochter die Worte aus und sie schien unruhig zu werden. Da suchte ich wieder in meinem Rucksack und kramte das Buch heraus und begann, vorzulesen:
„Rapunzel, Rapunzel, lass mir dein Haar herunter!“ Rapunzel hatte lange, prächtige Haare, fein wie gesponnen Gold. Wenn sie nun die Stimme der Zauberin vernahm, so band sie ihre Zöpfe los, wickelte sie oben um einen Fensterhaken, und dann fielen die Haare zwanzig Ellen tief herunter, und die Zauberin stieg daran hinauf.“
Hanna liebte es, wenn ich ihr vorlas. Sie konnte dann sogar ganz lange still sitzen. Dass ich eine zweite Zuhörerin hatte, war etwas ungewohnt, doch gelangte ich schnell ans Happy End, welches Hanna natürlich immer besonders freute: „So irrte er lange Zeit umher, ernährte sich nur von dem, was er am Wegesrand fand und trauerte um seine geliebte Rapunzel. Irgendwann jedoch, nach langer Zeit und viel Kummer kam er in die Gegend, in der Rapunzel ärmlich lebte. Als das schöne Mädchen ihren Liebsten sah, weinte sie so sehr vor Wiedersehensfreude, dass ihre Tränen die Augen des Königssohns trafen, der daraufhin wieder sehen konnte. Er führte sie in sein Königreich, wo sie lange und voller Glück lebten.“
Ich gab das Buch gerade Hanna in die Hand, damit sie sich noch mal in Ruhe die wunderschönen Zeichnungen anschauen konnte, als die alte Dame mich fragte: „Wissen Sie eigentlich, dass das nicht die Originalversion der Brüder Grimm ist, und dass Rapunzel ursprünglich Zwillinge, einen Knaben und ein Mädchen, geboren hatte?“ Nein, das hatte ich nicht gewusst und wagte ich zu bezweifeln, aber die Dame schaute mich so ernsthaft an, dass ich ihr wohl glauben musste. Woran ich auch gut tat, denn meine Google-Recherche am gleichen Abend ließ mich prompt herausfinden, dass sie völlig recht gehabt hatte. „Nun ja“, fügte sie hinzu, „Märchen sind immer wieder gut für Überraschungen – so wie das Leben. Rapunzel, dieses Märchen hat für mich eine besondere Bedeutung. Es gab eine Zeit, da konnte ich es nicht hören ohne in Tränen auszubrechen. Aber das ist glücklicherweise schon lange her.“
Die alte Frau schien in ihren Gedanken an einen bestimmten Punkt in ihrer Vergangenheit zurückgekehrt zu sein. „Wollen Sie mir Ihre Geschichte erzählen?“, fragte ich behutsam. „Nur wenn sie wollen natürlich, aber ich würde gerne mehr erfahren. Wo Sie mir doch bei Rapunzel zuhören haben müssen, und ich offenbar diese Erinnerungen in Ihnen geweckt habe.“
„Haare“, fing die alte Dame ihre Geschichte an. „Kaum jemand denkt daran, was Haare wirklich bedeuten. Sicher überlegt jedes Mädchen schon, wie es seine Haare haben will, ob kurz oder lang, geflochten oder offen. Und in heutiger Zeit fangen sogar die jungen Dirndln schon zu überlegen an, ob sie vielleicht lieber blond sein wollen oder wie ihnen eine blaue Strähne passen würde. Und welches Kind hat nicht probiert, sich selbst die Haare zu schneiden und wurde von der Mutter dafür fürchterlich ausgeschimpft. All das ist ganz selbstverständlich, aber was es bedeutet, überhaupt Haare am Kopf zu haben, darüber denkt niemand nach, warum sollte man auch.“ Hier machte sie eine lange Pause und schien wieder vor ihrem inneren Auge etwas zu sehen, dass mir verborgen
„Wissen Sie, wenn man so jung ist wie Sie, dann denkt man nicht an Krankheit und Tod. Ich habe das in Ihrem Alter genau so wenig getan. Ich hatte immer ein sehr fröhliches Gemüt und genoss das Leben gerade in vollen Zügen, denn ich hatte einen Mann kennengelernt, Karl hieß er, war fünf Jahre älter als ich und sah so gut aus mit seinen schwarzen Haaren, seinem gepflegtem Schnauzer und dem dunkelblauen Anzug, den er immer trug. Apotheker war er noch dazu und einer mit viel Humor, eine gute Partie, wie man es damals nannte. Und so dachte er auch von mir. Sie müssen wissen, ich war früher wirklich hübsch mit langen blonden Haaren, einer guten Figur, und als Buchhalterin war ich auch keine schlechte Partie. Wir trafen uns ein paar Mal hier in Schönbrunn zum Spazierengehen und schon bald wurde aus Verliebt-sein Liebe. Er hielt um meine Hand an, ganz romantisch, auf den Knien und außer dem Ring gab er mir eine langstielige rote Rose. Wir hatten die Hochzeit schon angesetzt, das Leben schien nicht mehr wundervoller werden zu können, als ich plötzlich auf einem unserer Spaziergänge keine Luft mehr bekam und zusammenbrach, und man mich ins Spital brachte. Lungenkrebs hieß die Diagnose, die uns wie aus heiterem Himmel traf. Ich war doch erst 25, ich hatte doch ein Leben vor mir, Heirat, Kinder, so viel, was ich noch erleben wollte. Und dann begann sich plötzlich die ganze Zukunft in Nichts aufzulösen, mit einem Wort, einer Diagnose – Krebs. Karl war genau so von der Nachricht getroffen wie ich selbst. Er kümmerte sich rührend um mich, versuchte mir, seinen Kummer nicht zu zeigen und mich mit Scherzen aufzuheitern.“
„Die OP habe ich gottseidank gut überstanden und die Ärzte gaben uns sogar Hoffnung. Der Krebs hatte noch nicht ausgestrahlt und sie konnten mit großer Wahrscheinlichkeit alles entfernen. Chemo blieb mir trotzdem nicht erspart. Und wissen Sie, was mich am meisten getroffen hat? Nicht die Operation, nicht die Narbe, nicht das Schlechtsein nach jeder Behandlung. Nein, diese Dinge gehörten irgendwie dazu und erschienen mir eher als Notwendigkeiten auf dem Weg zur Besserung. Es war so nach der dritten Chemo, als ich wie sonst jeden Tag meine hundert Bürstenstriche machte, und ich plötzlich ein ganzes Büschel Haare in der Hand hielt. Ich griff mir an den Kopf und das Haar fiel mir überall aus, einfach so. Innerhalb von wenigen Tagen wurde ich ganz kahl. Und da konnte ich nicht mehr daran glauben, dass ich am Weg der Besserung sein sollte. Wie sollte das möglich sein, wo mir aus dem Spiegel dieses kahlköpfige skeletthafte Gesicht entgegenstarrte? Wie sollte mich Karl lieben – ohne Haare? Heute klingt das so oberflächlich, auch für mich selbst, aber ich habe durch meine Haare jeglichen Lebenswillen und auch die Liebe verloren. Und das war das Schlimmste. Ich habe den Krebs überstanden, aber Karl habe ich verloren. Nicht, weil er mich ohne Haare nicht lieben konnte, aber weil ich mich nicht mehr lieben konnte.“
„Man kann das Rad der Zeit nicht zurückdrehen, aber man kann aus der eigenen Geschichte lernen. Und das habe ich getan. Nachdem ich wieder ganz gesund geworden war, habe ich auf Friseurin umgelernt und habe alles über Haare gelernt, was man nur lernen kann. Ich war so dankbar, dass ich mit meinem Beruf Menschen glücklich machen durfte. Perücken habe ich auch hergestellt und mich besonders bemüht um Frauen mit Haarausfall bemüht. Das wurde meine Lebensaufgabe und ich hätte sie nicht gefunden ohne meine eigene Erfahrung mit dem Krebs. Aber das wusste ich damals noch nicht und die einzige Speiche im Rad der Zeit, die ich ändern würde, ist eben Karl, aber sonst würde ich es nicht anders haben wollen.
‚Du kannst einen Elefanten festhalten, wenn er fliehen, aber nicht das kleinste Haar auf deinem Kopf, wenn es fallen will‘. Sie werden den Spruch wahrscheinlich nicht kennen, aber ich kenne viele Sprüche über Haare und an diesen von Gerhart Hauptmann denke ich oft.“
„Sie haben Recht, dieses Zitat kenne ich leider nicht, aber ich kann gut verstehen, dass es Ihnen viel bedeutet. Sie haben Schweres durchgemacht, aber wie Sie selbst sagen, kommt es darauf an, was man daraus lernt und macht. Ich kenne da auch einen Spruch: ‚Eine Löwenmähne lässt noch nicht auf ein Löwenherz schließen‘. Der ist von einem gewissen Walter Ludin. Es tut mir sehr leid, dass Sie durch die Krankheit Ihre Liebe verloren haben, aber Sie haben es offenbar geschafft, doch auch die notwendige Stärke in sich zu finden und sich ein neues Ziel zu setzen.“
„Ein ganz Großer, Friedrich Schiller, hat das so formuliert: ‚Deine Weisheit sei die Weisheit der grauen Haare, aber dein Herz, dein Herz sei das Herz der unschuldigen Kindheit‘. Und wissen Sie, das ist es, wonach ich jetzt strebe. Sehen Sie doch Ihre Kleine an, wie zufrieden sie da mit ihrem Buch beschäftigt ist. Eigentlich braucht der Mensch nicht viel im Leben, aber manchmal muss man erst etwas verlieren, um diese Weisheit zu verstehen.“
Irgendwie kam mir noch ein passendes Zitat in den Kopf geschossen: „‘Du kannst nicht verhindern, dass ein Vogelschwarm über deinen Kopf fliegt. Aber du kannst verhindern, dass er in deinen Haaren nistet‘. Das hat zumindest Martin Luther gemeint.“
Auf dem Gesicht der alten Dame breitete sich ein Lächeln aus. „Wer hätte gedacht, dass ich noch jemanden treffe, der Zitate von Haaren kennt. Und ich dachte, ich bin die Einzige, die darauf spezialisiert ist. Desto älter ich werde, desto wichtiger ist Humor für mich. Hätte ich nur damals schon handeln können, wie es bei Shakespeare steht: ‚Was die Zeit dem Menschen an Haar entzieht, ersetzt sie ihm an Witz‘.“
„Glücklicherweise verfüge ich heute über mehr Humor.“ Ohne weitere Vorwarnung griff sie sich an den Kopf und hatte plötzlich ihr Haar in der Hand. „Das Schicksal hatte auch viel Humor bei mir. Mit 60 verabschiedete sich mein Haar nämlich zum zweiten Mal und diesmal für immer. Aber jetzt genieße ich, jeden Tag eine andere Perücke zu tragen, mal lang, mal kurz, mal auf weißhaarige Dame, dann auf reife Blondine oder geheimnisvolle Rothaarige. Und in der Nacht schlafe ich „nackt“. Wissen Sie, wie angenehm das ist, wenn man früher immer mit diesen unbequemen Lockenwicklern schlafen hat müssen?“
Bei diesen Worten dachte ich an Rapunzel, wie furchtbar schwer das meterlange Haar gewesen sein musste. Und wollte Rapunzels Tochter wohl lange oder kurze Haare?