Bevor wir in den Kindergarten kommen, quälen wir Eltern, Onkeln und Tanten sowie größere Geschwister, damit wir endlich diese seltsamen Schnörkel in Sprache übersetzt bekommen. A, B und C erkennen wir mit immenser Freude bald in jedem Text und beglücken unsere Umwelt mit lautem Juchzen ob dieses Umstandes, am liebsten in der mit lauter gestressten und genervten Menschen gefüllten U-Bahn. „Mama, Mama, da ist ein A. Gell, das ist ein A? Ich hab‘ recht, nicht? Das ist ein A.“ Die literarische Reise geht weiter mit unserem Namen, den wieder alle Verwandten, Bekannten und auch Unbekannten für uns auf ein Blatt Papier schreiben müssen. Diese Geduld, diese Hartnäckigkeit wird es in diesem Ausmaß kaum mehr in unserem Leben geben. Stundenlang ziehen wir da die Linien nach, bis Verwandte, Bekannte und Unbekannte uns mit Lob überschütten, wie gescheit wir nicht sind, dass wir schon in diesem zarten Alter unseren Namen schreiben und lesen können, wenn gleich die Umsetzung der entsprechenden Schnörkel eher einem Kunstwerk als einem geschriebenen Wort gleicht.
Mit der Schultüte in der Hand beginnt die nächste Phase unserer Lesereise. Jetzt werden vor allem geduldige sowie genervte Volksschullehrer und Innen gequält. „Frau Lehrerin, ich kann das schon alles lesen. Und schreiben kann ich auch schon das ganze Alphabet. Mir ist sooooo fad.“ Und dann gibt es noch die andere Kategorie der Tafelklässler, die sich weiter voll Elan und Eifer jeden Buchstaben mühsam erarbeiten. Lehrer: „Lies doch mal diesen Satz vor, Martin.“ Martin: „Mmmaaammmaaa …maaag ….Mmmiiiiaaa?“, liest Besagter unter Stöhnen der ganzen Klasse im Tempo einer gehbehinderten Schnecke vor.
Ja, hier macht sich die Zweiklassengesellschaft bereits bemerkbar, im zarten Alter von sechs Jahren. Und die Kluft soll noch größer werden, aber dazu später mehr. Bleiben wir mal noch schön im Klassenzimmer. Diejenigen, die bald schon Bücher lesen wie „Der Name der Rose“ von Umberto Eco oder die gesammelten Werke von Nietzsche verspotten diejenigen, die auch nach vier Jahren noch lieber Bilderbücher bevorzugen. Die ewig verspotteten Nichtleser werden dank jahrelangen herabmachenden Bemerkungen auch später am liebsten Donald Duck, Micky Maus und die „Heute“ lesen. Aber auch die Shakespeare/Nietzsche und Die Bibel-3xgelesen und das jeweils im Original stoßen oft auf Unverständnis Ihrer Umwelt. BuchverweigerInnen versus BuchverehrerInnen ist ein Krieg, den niemand gewinnen kann.
Ist nicht „The Peanuts“ mit Charly Browns Alltagssprüchen und Snoopys philosophischen Weisheiten auch ein Werk der Kunst? Und gibt es nicht Bücher, die zur Weltliteratur zählen, die man unbedingt gelesen haben muss, die jedoch ganzen Generationen das Lesen für immer abgewöhnt haben. „Der alte Mann und das Meer“ von Ernest Hemingway mag für manche eine atemberaubender Heldenepos mit tiefgründigen Methapern sein, andere hätten es bevorzugt, dass der alte Fischer Santiago den Merlin schnell wieder frei gelassen und uns 143 endlose Seiten erspart hätte.
26 Buchstaben hat das Alphabet und es ist kaum zu glauben, welche Genialitäten und welche Schwachsinnigkeiten man in einer zufälligen bzw. gewollten Aneinanderreihung derselben erschaffen kann. Unlängst im worldwideweb ein Artikel über ein Huhn, dem man eine Tastatur in den Stall gestellt hat und ab und zu pickt es mal drauf. Bis dato ist die Ausbeute noch gering, aber man hofft ins Buch der Rekorde zu kommen mit dem längsten logischen Wort der tierischen Geschichte. Traurig oder genial – das lässt die Internetcommunity in diversen Sozialforen einen feurigen Federstreit ausfechten.
Lesen können ist ein Privileg, welches wir nicht unterschätzen sollten, denn vielen ist das Glück des Lesenlernens nicht gegönnt. Die noble Gesellschaft schaut nur zu gern herab auf diese armen Ungebildeten. Vielleicht aber wird das Lesen in sogenannten primitiven Kulturen manchmal gar nicht gebraucht, um glücklich zu sein. Auf der anderen Seite gibt es für viele von uns unzählige Stunden des Glücks, um in den Figuren von Büchern die Welt zu erleben, das eigene Leben mal vergessen zu können, über Menschen vor unserer Zeit zu erfahren, um sich Wissen anzueignen und um einfach nur Spaß zu haben. Lesen ist keine Selbstverständlichkeit, aber selbstverständlich kann lesen bilden und manchmal sogar die Welt ein bisschen verändern.
Sollten Sie diesen Text nicht lesen können, lassen Sie ihn sich bitte von jemanden vorlesen, sonst entgeht Ihnen etwas….oder eben auch nicht. Das können Sie aber erst entscheiden, nach dem Sie ihn gelesen haben. Lesen Sie jedoch nicht zu viel in meine Zeilen hinein, sie bestehen schließlich auch nur aus zufällig bzw. absichtlich aneinandergereihten 26 Buchstaben.
Dieser Text ist im VHS-Kurs Kreatives Schreiben bei Nicole Kovanda entstanden (Info siehe LinkTipps). Vorgabe war eine Satire, Persiflage oder Parodie über Lesen, Autoren, Schreiben, ... zu verfassen.