Frankreich, ein kleines Kaff mitten in der Einöde an der Südküste Frankreichs. Sieben Jugendliche, Mädchen und Burschen, aus Österreich, Deutschland, Belgien, den Niederlanden, der Schweiz und Kanada. Ein bunt zusammengewürfeltes Grüppchen voll Träumen und Idealismus.
Ach wie schön war die Zeit der Jugend, wo alles möglich war und noch nicht eingeschränkt von den alltäglichen kleinen und großen Niederlagen des Lebens. Aber ich höre schon auf, mit der pessimistischen Stimme des Alters zu sprechen und erinnere mich lieber zurück an diese wunderschöne Mondesnacht in Frankreich im Jahre 1989.
Wir sind Baugesellen und –gesellinnen, die für ein Projekt einer internationalen Jugendhilfsorganisation drei Wochen lang der Emmausgemeinschaft beim Renovieren helfen. Dafür bekommen wir Kost und Quartier und als größten Lohn den Austausch mit Jugendlichen aus aller Welt. Meist unterhalten wir uns auf Englisch, aber immer wieder fallen deutsche und französische Begriffe. Egal welche Sprache jedoch, wir verstehen uns gut.
Abseits vom Baualltag hat uns Etienne, unser französischer Vorarbeiter, am Wochenende zu sich ans Meer eingeladen. Romantischer geht es kaum mehr: Ein wunderschöner Garten, fast direkt am Meer, ein Campingwagen zum Schlafen und wir sitzen gerade vorm Lagerfeuer, wo wir Würstel gegrillt und mit Gitarrenbegleitung gesungen haben.
Es ist schon spät, 23h, aber niemand von uns denkt ans Schlafen gehen. Brian, der Kanadier, schlägt vielmehr vor, nicht bis zum nächsten Tag zu warten, um an den Strand zu gehen, sondern jetzt loszuziehen. Der Vorschlag wird enthusiastisch angenommen und schon ziehen wir los. Dass der Garten samt Campingwagen irgendwo im Nirgendwo steht, beunruhigt niemand. Wie wir aber eine Zeitlang durch ein Wäldchen gehen, frage ich – schon damals eine Vorsichtige bzw. Ängstliche – ob sich jemand die Stellung vom Mond merkt, damit wir alle wieder gut zurückfinden. Na klar, sofort wird meine Sorge – und wahrscheinlich auch die Idee mit dem Mond - belacht. Ich habe es ja nur gut gemeint, lasse mich aber von der Sicherheit der Gruppe anstecken. Solange ich in der Gruppe bin, kann mir nichts passieren. Schon quatsche ich eifrig mit Melanie, der Deutschen, weiter und vergesse alles um mich herum.
Da merken wir beide plötzlich, dass die anderen verschwunden sind. Wir waren zwar langsamer, aber vorhin hatten wir sie ja noch gesehen. Alles Suchen und Rufen hilft nichts. Wir haben den Rest der Gruppe verloren. Ich glaube, das war der Moment, wo ich wusste, dass das eine lange Nacht wird, eine, an die ich mich noch lange zurückerinnern würde.
Von wegen Frau bzw. Mädchen hat keinen Orientierungssinn. Auch ohne die anderen und das starke Geschlecht haben Melanie und ich ohne Probleme den Strand gefunden. Lange Zeit haben wir das Meer mit allen Sinnen genossen, den salzigen Geruch des Wassers in der Nase, das sanfte Anschlagen der Wellen am Strand im Ohr, eine Hand feinen Sand durch die Finger rinnen lassen und die Meeresbrise auf unserer Haut gespürt. Doch irgendwann wurden wir müde von dem einschläfernden Geräusch der Wellen und sehnten uns nach unserem weichen und warmen Schlafsack.
Der Weg zurück: zuerst nach links, an dem kleinen Steinhäuschen vorbei, die kniehohe Mauer entlang, die Straße hinauf, nach der großen Tanne nach rechts – alles kein Problem. Bis wir zu der Lichtung kamen. Melanie und ich sahen uns mit einem „Was meinst du?“ in den Augen an. Ich deutete nach rechts, sie nach links. Kein gutes Zeichen. Na gut, ich war mir überhaupt nicht sicher, daher gab ich gleich nach. Es stellte sich jedoch heraus, dass wir weder nach links noch nach rechts den Weg zurück fanden. So liefen wir stundenlang in der nahen Umgebung herum ohne jedoch jemals an unser Ziel zu kommen.
Wir hatten insofern Glück, dass es eine Vollmondnacht war und wir gut sehen konnten und noch dazu eine laue, so dass wir nicht frieren mussten. Was jedoch nicht zu unseren Gunsten stand, war, dass wir beide fast kein Französisch sprachen, keinen Cent und auch keinen Ausweis bei uns hatten. Dass wir von unserem Quartiergeber überhaupt den Nachnamen wussten, war nur Zufall, weil Etienne im Normalfall in Frankreich ein Vorname ist, diesen wussten wir aber leider nicht, ich meine den Vornamen von unserem Vorabeiter nachnamens Etienne.
Um eine lange Nacht und Geschichte kurz zu machen: Wir selbst haben nicht zurück gefunden. Wir haben es dann so um 3h Früh aufgegeben und uns auf eine Parkbank gesetzt. Um 5h war das Schlimmste der Duft der Bäckerei, und wir kein Geld, um uns was kaufen zu können, was ab 7h mit ein paar France möglich gewesen wäre. Bis 9h mussten wir warten, bis die Post aufsperrt. Dort haben wir in gebrochenem Französisch um Hilfe gebeten: „Nous avons perdu.“ Jaja, ich weiß: „Uns haben verloren“ ist nicht gerade grammatikalisch richtig, aber wir wurden verstanden und das war das Entscheidende. Daraufhin folgte ein Schwall unverständlicher Fragen und gottsei- und den lieben Postlern sei-dank auch zwei Tassen heißer Tee sowie ein Anruf an die Polizei. Diese holte uns ab und hob beim Gemeindeamt die Adressen der ansässigen Etiennes aus, es gab fünf davon. Wir hatten großes Glück, dass das zweite Grundstück, welches wir anfuhren, das richtige war.
Da war es dann 10h Vormittag und die Etiennes waren in der Zwischenzeit auf die Polizei gefahren, um uns als vermisst zu melden. Das erfuhren wir vom Rest der Gruppe, der sich köstlich über unser Verschwinden und vor allem das Auftauchen mittels Polizeiwagen amüsierte. Etwas länger dauerte es, bis wir erfuhren, dass auch dieses Grüppchen fast nicht mehr zurückgefunden hätte und bis 3h unterwegs war. Melanie und ich waren hundsmüde, warteten aber bangen Herzens auf die Rückkehr der Etiennes. Diese waren zwar froh, uns unversehrt zurück zu haben, fanden es aber gar nicht lustig, welche Sorgen wir ihnen gemacht hatten. Wir fanden es damals auch nicht lustig.
Mit den Jahren jedoch fand ich selbst die Geschichte immer lustiger und auch die, denen ich sie erzähle. Was für eine Nacht! Was für ein Erlebnis! Seit damals bin ich aber nirgendwo ohne Geld oder ohne Ausweis anzutreffen und nach Adressen erkundige ich mich immer aber ganz genau. Und Französisch habe ich inzwischen auch gelernt.