Diese Geschichte habe ich beim VHS-Kurs Kreatives Schreiben von Nicole Kovanda (s. LinkTipps). ursprünglich auf Englisch geschrieben. Die Vorgabe war der Beginn der Kurzgeschichte "The Signalman/Der Bahnwärter" von Charles Dickens. Mir gefällt meine englische Version besser, nachzulesen hier: A highly remarkable situation (2016/01)
„Hallo! Sie da unten!“ hörte ich eine Stimme vom Dach nach mir rufen. Da ich gerade erst das Fenster geöffnet hatte, um frische Luft zu schnappen, stieß ich unwillkürlich einen schrillen Schrei aus. Sie müssen wissen, dass ich im 5. Stock wohne und sich über mir nichts weiter als das Dach befindet. Normalerweise hört man da nur das Gurren der Tauben, und einmal bis zweimal pro Jahr das schreckliche Fauchen von kämpfenden Katzen. Wie dem auch sei, niemals zuvor hatte ich aus dem Fenster gesehen und jemanden von oben nach mir rufen hören.
Als ich mich hinauslehnte, um zu sehen, wer da eigentlich meine Aufmerksamkeit erregen wollte, konnte ich das Gesicht eines jungen Mannes erkennen, der zu mir herunter schaute. „Es tut mir wirklich unendlich leid, sollte ich Sie erschreckt haben. Aber ich stecke hier auf dem Dach fest, und ich wollte Sie höflichst bitten, ob Sie mich Ihr Fensterbrett benützen und Ihre Wohnung durchqueren lassen würden, um wieder Zugang zu der ebenerdigen Welt zu erhalten.“
Ich war noch immer zu geschockt, um irgendetwas Vernünftigeres als „Hmm, ah , ja“ erwidern zu können. Dies schien dem Mann aber als Antwort zu genügen, und er fuhr fort: „Sehen Sie, ich bin völlig unschuldig in diese Situation gelangt, und ich kann Ihnen versichern, dass ich niemals irgendetwas von Ihnen stehlen oder Sie in irgendeiner Weise verletzen würde.“ Diese Art von Gerede half allerdings überhaupt nicht. Hatte ich bis dahin noch nicht an so eine Möglichkeit gedacht, tat ich es jetzt aber ganz bestimmt. Der Mann musste seinen Fehler erkannt haben und fuhr rasch mit seiner Geschichte fort: „Hören Sie, Sie brauchen sich wirklich nicht zu fürchten. Ich werde keinen Schritt in Ihre Räumlichkeiten machen, nicht einmal auf Ihr Fensterbrett, wenn Sie dies nicht erlauben. Jedoch, wie Sie sich vielleicht vorstellen können, befinde ich mich hier in einer echten Notlage. Ich bin aus meiner eigenen Wohnung einige Dächer die Straße hinunter ausgesperrt worden. Ich Kindskopf, habe die Tür hinter mir zugemacht, ohne den Schlüssel einzustecken. Ich wollte ja eigentlich nur den Philodendron vor meiner Wohnung gießen.“ An diesem Punkt der Erzählung zeigte er mir eine alte Gießkanne, so als ob er seine Geschichte veranschaulichen und beweisen wollte. „Da ich nicht mehr in meine Wohnung konnte, versuchte ich aus dem Haus zu gelangen, aber irgendjemand hatte die Eingangstür zugesperrt. Daraufhin klopfte ich an die Türen meiner Nachbarn, aber niemand schien zu Hause zu sein. Da fiel mir keine andere Möglichkeit mehr ein, als aus einem Fenster zu klettern und aufs Dach zu steigen. Von dort gelangte ich auf ein anderes und noch ein weiteres, aber nirgendwo gab es die Möglichkeit, auf den Gehsteig zu kommen. Das ist der Grund, warum ich mich hierher gesetzt habe, um mich umzublicken und zu entscheiden, wo ich es als nächstes probieren könnte. Und gerade in diesem Moment, als ich mich in meiner immer größer werdenden Verzweiflung niedergelassen habe, öffneten Sie Ihr Fenster. Vielleicht verstehen Sie jetzt, warum ich keine andere Möglichkeit gesehen habe, als um Ihre Hilfe zu bitten.“ Selbstverständlich, jetzt verstand ich seine Bitte vollkommen.
Und aus diesem Grund gab ich ihm auch die Erlaubnis, über das Fensterbrett in meine Räumlichkeiten zu gelangen. Um beide Hände für den schwierigen Abstieg frei zu haben, reichte er mir zuerst die Gießkanne herunter. Als er meinen skeptischen Blick auf das alte und sogar zerlöcherte Ding bemerkte, bat er mich, sie sorgsam zu behandeln, da sie seiner geliebten Großmutter gehört hatte, die vor einigen Jahren gestorben war. Natürlich rührte mich dieses Detail, und ich stellte sie mit größtmöglicher Sorgfalt neben mich. Nachdem ich dies erledigt hatte, sah ich der fast artistischen Vorstellung des Mannes zu, wie er sich vom Dach auf mein Fensterbrett hinunterließ. Von dort zum Boden meines Wohnzimmers schien nur eine Kleinigkeit für ihn zu sein. Innerhalb von Sekunden nach dem Betreten meiner Wohnung durch das Fenster hatte er mir die Hand geschüttelt, mir aufs Allerherzlichste gedankt, und nachdem er seine geliebte alte Gießkanne aufgehoben hatte, mich gebeten, ihn zur Tür zu bringen und ihn in die Welt hinaus zu lassen, um einen Schlüsseldienst zu finden, der ihm die Tür zu seiner Wohnung aufsperren konnte. Das tat ich denn auch, und wir verabschiedeten uns innerhalb kürzester Zeit in der freundlichsten Art und Weise.
Wie Sie sich sicher vorstellen können, war dieser Vorfall die außergewöhnlichste Situation, die mir in geraumer Zeit passiert war. Nichtsdestotrotz gab es doch noch eine Steigerung. Und zwar als ich am nächsten Morgen auf der Titelseite der Zeitung folgende Schlagzeile entdeckte: „Äußerst kostbare Gießkanne aus dem Kunsthistorischen Museum in Wien gestohlen! Wie der Einbrecher hinein gelangte, ist noch nicht bekannt. Die Polizei hat allerdings Beweise gefunden, dass der Dieb übers Dach des Museums entkommen ist.“
Als ich den ersten Absatz des Artikels zu lesen begann, fragte ich mich, wie so ein junger netter Mann ein Dieb hatte sein können. Wäre er nicht in solcher Eile gewesen, hätte ich ihn doch glatt zu einer Tasse Tee eingeladen …und womöglich zu mehr.