„Das erste Mal passierte es am Freitag, ja genau, denn am Freitag, da bin ich immer in dieser Bar. Sie wissen schon, eine von den angesagten, wo man halt hingeht, wenn man die Nacht nicht alleine verbringen will. Ich bin da schon länger herumgesessen und irgendwie wollte es diesmal nicht so funken. Die, die mir gefallen haben, waren nicht interessiert und die eine, die sich in mich verguckt hatte, nö, nicht mein Typ, dann doch lieber alleine ins Bett. Ich trank schon meinen dritten Martini und mehr ist bei mir nie drin, ich will ja schließlich nicht sturzbesoffen sein. Da kam eine sexy Blondine mit langen Beinen und rotem Kleid herein. Mit der Zigarette in der Hand blieb sie vor mir stehen und bat mich um Feuer. Dir werde ich schon Feuer geben, habe ich mir gedacht und ihr mal das Feuerzeug hingehalten. Sie hat sich dann aber zu einem anderen Kerl gesetzt und mich ganz wild gemacht. Wie sie mich immer wieder angesehen und den Rauch in meine Richtung geblasen hat, so richtig aufreizend, da war ich knapp am Auszucken. Viel hätte nicht mehr gefehlt und ich hätte mich wie ein Panther auf sie gestürzt, den Typen neben ihr zerfleischt und mich dann auf sie geworfen. Ich bin aufgesprungen und habe mich im letzten Moment noch so weit in den Griff bekommen, stattdessen auf die Toilette zu stürmen. Dort habe ich ein paar Mal auf die Wand gehaut und den Handtuchhalter runtergerissen. Ich konnte einfach nicht an mich halten. Wenn ich diese Energie nicht rausgelassen hätte, wäre ich umgekommen oder ich hätte was ganz Furchtbares getan. Und da, plötzlich, habe ich im Augenwinkel ein großes schwarzes Raubtier auf mich zuspringen sehen. Instinktiv habe ich mich geduckt, aber dann bin ich mir blöd vorgekommen, weil woher soll denn in einer Bar plötzlich ein Panther daherkommen. Und klar, da war auch keiner. Aber ich hätte schwören können, dass ich zuvor einen gesehen hatte. Ich war ganz zittrig und habe mir nach dem Schrecken kaltes Wasser über den Kopf laufen lassen bis ich wieder klar denken konnte. Da dachte ich mir, dass ich doch zu viel getrunken hätte und bin raus. Die Blondine war nicht mehr da, der Mann daneben auch nicht mehr, und inzwischen war mir sowieso jede Lust vergangen.“
„Wie gesagt, das war das erste Mal.“
„Soso, am Freitag war das. Und Sie meinten, Sie hätten einen Panther gesehen?“
„Einen Panther ja, und das war das erste Tier, das ich gesehen habe.“
„Das erste, soso. Dann meinen Sie, dass da am Freitag noch andere Tiere waren.“
„Nein, nicht am Freitag. Aber am nächsten Tag ging es dafür umso wilder weiter.“
„Dann erzählen Sie mal.“
„Also, nach besagter Freitagnacht habe ich bis 11 Uhr durchgepennt und bin mit einem Brummschädel aufgewacht. Daher wollte ich mir Aspirin holen, die habe ich im Badezimmer. Ich torkle also da rein, mit halb geschlossenen Augen, weil alles viel zu grell war, auch meine weißen Fliesen. Dann angle ich nach dem Aspirin, drücke mir eines raus, schlucke es und trinke Wasser nach. Nicht zu wenig, weil so einen Brand habe ich gehabt, dass ich eine ganze Badewanne hätte aussaufen können. Wie ich mich dann aufgerichtet habe, ist mir das Herz in die Hose gerutscht, und mir ist praktisch die Luft weggeblieben. Da stand ein Bär hinter mir in der Badezimmertür, aufgerichtet auf den Hinterpfoten und starrte mich an. Da würde wohl jedem die Luft wegbleiben.“
„Wenn ich in den Rocky Mountains unterwegs bin, hätte ich sicher auch einen Schock. Da gebe ich Ihnen völlig Recht. Aber schien es Ihnen nicht seltsam, dass da plötzlich in Ihrer Wohnung mitten aus dem Nichts ein Bär aufgetaucht war? Haben Sie nicht in Frage gestellt, dass so etwas sehr unwahrscheinlich ist?“
„Natürlich habe ich das, aber ich schwöre Ihnen, der Bär war genauso real wie Sie da jetzt sitzen.“
„So real wie der Panther?“
„Ja, noch realer, weil den Panther habe ich nur aus dem Augenwinkel gesehen. Aber der Bär da, der starrte mich aus seinen dunklen Augen an, schüttelte den Kopf, brummte..“
„Aha, er brummte auch. Hat der Panther auch Töne von sich gegeben?“
„Nein, doch, ich bin mir nicht sicher. Aber hören Sie mal, das ist doch nicht so wichtig.“
„Was wichtig ist oder nicht, dass lassen Sie mal mich entscheiden. Fahren Sie lieber mit Ihrem Bären fort.“
„Irgendwie habe ich es geschafft, mich aus dieser Starre zu lösen und mich umzudrehen. Da stand aber kein Bär. Im Spiegel habe ich auch keinen mehr gesehen. Trotzdem habe ich noch minutenlang wie betäubt nur so dastehen können, bevor ich mich getraut habe, den Rest der Wohnung zu durchsuchen. Weit und breit kein Bär. Und so leicht lasse ich mich auch wieder nicht ins Bockshorn jagen und so beschloss ich, meinen Kater völlig loszuwerden und schwimmen zu gehen. Ich schnappte mir meine Badesachen und stürmte schnellen Schrittes ins Hallenbad ums Eck. Nach 50 Längen Kraulen fühlte ich mich wie neu geboren. Sie müssen wissen, ich fühle mich wie ein Fisch im Wasser, das ist mein Element.“
„Ja, 50 Längen sind nicht unbeachtlich, da kann ich Ihnen schon mal körperliche Gesundheit attestieren.“
„Beim Schwimmen ist aber immer seltsam, dass ich nachher ganz dringend Wasser lassen muss, so als ob das über die Haut in meinen Körper hineingelangen würde. Daher eilte ich zum WC. Und wie ich mich erleichtere, schwimmt in aller Seelenruhe ein bunter Fisch über den Gang. Im Spiegel sah es aus, als ob er über den Gang schwimmt also eigentlich schwebt, weil der Gang war nicht unter Wasser. Wie ich dann aber auf den Gang geschaut habe, war da nichts. Und da ist mir dann klar geworden, dass es jedes Mal ein Spiegel war, in dem ich zuerst den Panther, dann den Bären und nun den Fisch gesehen hatte. Also bin ich zurück zum Spiegel und habe wieder hineingeschaut, aber da war nur mein Gesicht.“
„Nun gut. Das heißt, Ihre Augen haben Ihnen nach einer durchzechten Nacht offenbar ein paar Trugbilder geliefert. Haben Sie an diese Möglichkeit gedacht?“
„Natürlich habe ich versucht, mir das einzureden. Aber Sie haben ja noch nicht alles gehört. Nachdem ich mich angezogen hatte, musste ganz dringend ein Frühstück her, vor allem starker Kaffee. So habe ich mich ins nächste Kaffeehaus hingesetzt und mir das Wiener Frühstück bestellt, gleich mit einer Kanne starken Kaffee. Weil schließlich dachte ich mir auch, dass ich womöglich doch mehr als meine üblichen drei Martini zu mir genommen hatte, und das alles nur Nachwirkungen waren. Weil ich Kohldampf hatte und generell recht eine Sau beim Essen bin, habe ich nicht nur die Semmel mit Butter und Marmelade beschmiert, sondern auch mein Hemd. Weiches Ei kam dann als Verzierung dazu und schlussendlich noch ein paar Kaffeeflecken. Ich war schließlich nicht in Gesellschaft, und wozu hat man eine Waschmaschine. Geschmeckt hat mir das Frühstück jedenfalls ausgezeichnet. Wie ich mich mit der Zeitung gemütlich zurücklehnen will, kommt der Ober vorbei mit einem silbernen Tablett. Und wie er an mir vorbeieilt, schauen mir aus dem Tablett zwei Augen und ein rosa Rüssel entgegen. Hinter mir saß eine Dame mit einer rosa Bluse, und ich habe versucht, mir einzureden, dass es die Spiegelung davon gewesen war. Der Appetit war mir aber schon wieder vergangen, und ich habe gezahlt und bin in Richtung meiner Wohnung gegangen. Dabei fiel mir in einer Auslage ein äußerst schicker Pullover ins Auge. Da ich meinen ja ziemlich versaut hatte, dachte ich, das ist ein Wink mit dem Zaunpfahl und bin in das Geschäft reingegangen. Der Pullover, ein hellblauer, hat total gut zu meinen Augen gepasst, und der Schnitt hat meine Figur betont. Und wie ich da so in der Ankleidekabine gestanden bin, dachte ich bei mir, was für ein fescher Kerl ich bin und wie gut gebaut. Und plötzlich verwandelt sich mein Spiegelbild in einen Pfau. Wenn ich mein Gesicht zur Seite gedreht habe, hat auch der Pfau seinen Kopf gedreht. Wenn ich ein Auge zugekniffen habe, hat das auch der Pfau gemacht. Und wie ich vor lauter Entsetzen einen Schrei ausgestoßen habe, hat auch der Pfau seinen Schnabel weit aufgerissen. Da bin ich voll Panik aus dem Geschäft gelaufen.“
„Den Rest kennen Sie ja. Ich hatte eben noch den Markenpullover an und die haben geglaubt, ich will den stehlen. Der Kaufhausdetektiv hat mich nach einigen Gassen eingeholt und wollte mich zurückzerren. Ich war außer mir vor Sinnen und habe gekämpft wie ein Löwe. Seitdem weiß ich nur, dass ich in dieser Gefängniszelle aufgewacht bin, und alle mich die ganze Zeit seltsam anstarren. Mir wurden Fotos gezeigt und hundert tausend Fragen gestellt. Der Mann ist tot, und ich soll ihn so zugerichtet haben. Aber das ist unmöglich. Das kann kein Mensch gewesen sein. So was kann nur eine große Raubkatze gemacht haben, so tiefe Bisse und Kratzer. Ich bitte Sie, helfen Sie mir. Ich glaube, ich werde wahnsinnig. Aber ich habe keinen Mord begangen. Sie müssen mir glauben.“
„Der Kaufhausdetektiv hat sie in einer Sackgasse eingeholt, wo Sie ganz alleine mit ihm waren. Der Mann, der Sie rausrennen hat sehen, hat ausgesagt, dass Sie voller Blut waren und einen wahnsinnigen Eindruck gemacht haben. Als er den Verletzten gefunden hat, hat er Rettung und Polizei verständigt. Die Rettung konnte allerdings nichts mehr für den Detektiv tun, er ist an Ort und Stelle gestorben. Die Polizei hat Sie kurz darauf gefasst und mit Elektroschockern außer Gefecht gesetzt, weil Sie sich so gewehrt haben, dass mehrere Polizisten Sie nicht unter Kontrolle bringen konnten. Inzwischen wurde Ihnen DNA abgenommen und diese stimmt mit der beim Toten gefundenen übereinander. Wie erklären Sie sich das?“
„Ich habe mich der Verhaftung durch den Typen widersetzt, und ich habe um mich geschlagen. Aber ich habe ihn doch nicht umgebracht.“
„Aber es wurde nur Ihre DNA gefunden. Wie erklären Sie sich das?“
„Dafür habe ich keine Erklärung. Aber Sie sind ja kein Ermittler, sondern Gerichtspsychiater. Ich habe Ihnen erzählt, welche seltsamen Tiererscheinungen ich vorher hatte. Was kann das bedeuten? Hat mir womöglich jemand bei der Bar was in den Drink gemischt? Es soll doch Drogen geben, die Halluzinationen hervorrufen. Das wäre doch eine Erklärung, oder?“
„Das wäre eine Erklärung für Ihre Tiererscheinungen, aber es erklärt nicht, warum Sie bei der Leiche eines Mannes gefunden worden sind, der aussieht, als ob er von einem Löwen zerfleischt wurde. Und kein Löwe aus dem Zoo ausgekommen, niemand hat ein Raubtier in der Gegend gesehen oder gemeldet. Aber wie Sie richtig sagen, in meiner Funktion als Psychiater bin ich nicht dafür angestellt, den Fall zu klären, sondern um mir über Ihren Geisteszustand ein Urteil zu bilden. Daher die Frage, ob Sie schon früher irgendwelche Wahnvorstellungen hatten, egal ob Tiere oder etwas anderes? Leiden oder litten Sie jemals an irgendeiner Geisteskrankheit? Haben Sie schon mal Psychopharmaka genommen? Wie schaut es mit Drogen aus?“
„Ich habe in meiner Jugend mal Hasch probiert, aber das war nichts für mich. Ich bin ein ausgeglichener Mensch und habe noch nie Psychopharmaka gebraucht. Und den einzigen Wahn, den ich jemals hatte, war der, einem unfähigen Gefängnispsychiater den Hals umzudrehen.“
„Du Alex, der Doktor ist aber jetzt schon lange drin. Sollten wir nicht mal nachschauen.“
„Ja Heinz, ich mache mir auch schon Sorgen. Er wollte ja alleine mit dem Häftling reden, aber ganz wohl ist mir bei der Sache nicht. Vor allem nicht nach dieser seltsamen Geschichte, wie der Kaufhausdetektiv abgekratzt ist. Ja, lass uns mal lieber nach dem Rechten schauen.“
„Doktor, Doktor, was ist mit Ihnen? Was ist passiert? Und wo ist der Häftling? Heinz, lös‘ sofort den Alarm aus, hol Verstärkung und die Rettung. Mein Gott, der stirbt uns unter den Händen weg. Sein Hals ist total angeschwollen, er kriegt keine Luft und ganz blau ist er. Was ist hier bloß passiert?“
In dem ganzen Trubel unbemerkt, schlängelt sich ein länglicher Tierkörper aus dem mit schweren Eisenstäben versehenen Fenster.
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Foto: Eigenes Werk (Tiergarten Schönbrunn)