Diskurs-kostenlose-Infrastruktur-Werres

Hallo

York Werres schrieb:

ich sehe das differenzierter:
Die Bestrebung, ein Grundeinkommen nicht nur als Grundgeldzahlung, sondern auch als preisgünstige Infrastruktur auszurollen, unterstütze ich. Mobilität, Internet, Krankenversorgung, Bildungszugang, Energie, Wasser, Nahrung und was weiß ich sonst noch muss je nach ökologischen Implikationen ganz oder in einer Grundversorgung kostenlos erhältlich sein. Manche (auch Du offenbar) schließen sogar Kleidung und Wohnen mit ein. Wesentlich ist die Idee dahinter: Die Idee der aktivierenden Versorgung in einer klassenlosen Gesellschaft.

Wessen Idee ist das, die der „aktivierenden Versorgung in einer klassenlosen Gesellschaft“?

Tafeln institutionalisieren das Gegenteil dieser Idee. Sie sind ein zutiefst neoliberales Konstrukt der Armutsverfestigung, Sozialstaatszerstörung und Menschenklassenbildung. Bereits in http://www.ipernity.com/blog/73329/267375 zitierte ich aus einer Zeitung (die Quelle ist dort verlinkt) dies:
"Tafeln nehmen immer häufiger institutionelle Eigeninteressen und nur noch selten die Perspektive der Nachfrager in den Blick. Sie etablieren beschirmherrschaftete Scheinwelten, in denen sich Erwartungen verstetigen und in denen Perspektivlosigkeit zunimmt. Tafeln sind unauflösbar ambivalent: Sie veröffentlichen und skandalisieren Armut, aber sie schaden gleichzeitig den Armen. Dann, wenn sie parallelweltliche Reservate schaffen, in denen sich Menschen 'abgespeist' fühlen. Dies ist schädlich, weil sich am Ort der Abspeisung niemand mehr als gleichwertiges Mitglied der Gesellschaft fühlen kann."

Das würde aber die „Form des Angebots“ betreffen (Ist die Essensausgabe entwürdigend? Wen ja, was daran?) und das müssen die Menschen selber entscheiden, wie sie eine kostenlose Infrastruktur wahrnehmen, denn um die geht es doch. Ich käme nie auf die Idee, mich „abgespeist“ zu fühlen, wenn ich kostenlos den ÖPNV benutzen könnte. Und wenn die Universitätsmensa hier vor Ort plötzlich von 14 Uhr bis 15 Uhr eine kostenlose Essensausgabe machen würde, könnte die jeder in Anspruch nehmen der will. Das wäre für mich auch kein „veröffentlichen und skandalisieren“ von „Armut“. Wieso auch? Wenn es im Paket weitergehender kommunaler Infrastruktur als einen zum Beispiel ersten Baustein eingeführt würde, wäre das für mich völlig o.k.

„Perspektivlosigkeit, beschirmherrschaftete Scheinwelten“ und „abgespeist“ ist unterstellt. Jeder einzelne Betroffene müsste das schon selber sagen, wie er die Dinge sieht.

"Die Tafeln schaden den Armen, weil sie die wirkungsmächtige Erosion des Sozialstaats fördern. Sie untergraben das soziale Grundrecht, dass jeder und jede einen gesetzlichen Anspruch auf eine menschenwürdige Grundsicherung hat. Sie erlauben, den Sozialstaat zu demontieren, und begrüßen gleichzeitig auf ihren Festveranstaltungen reihenweise Politiker und Politikerinnen, die mit der einen Hand Sanktionen gegen Hartz-IV-EmpfängerInnen verhängen und gleichzeitig die Arbeit der Tafeln bejubeln. Armut kann politisch nützlich sein, Tafeln werden unter der Hand zu einem sozialpolitischen Instrument, den verfallenden Sozialstaat zu beblümen."

Das ist von der Wirkung und Absicht tatsächlich nicht wünschenswert. Ich kann mich auch an entsprechende Zeitungsartikel erinnern (Weihnachts-Tafel in Berlin bei der politische Prominenz vorbeischaut, wie die GRÜNEN-Abgeordnete Renate Künast, wo doch die GRÜNEN Hartz4/Agenda2010 mitverschuldet haben). Aber ich hatte genau diese Perspektive bei Stefan Selke kritisiert, weil ich den praktischen Aspekt höher einschätze als die richtige theoretische Sicht auf die Dinge, die du jetzt noch mal wiederholst. Mir war schon klar, worauf Selke hinaus will.

Irgendwo steht da auch, dass Tafeln eher Trog heißen müssten, weil ihr Sinn darin bestehe, sich durch die Fütterungsaktionen selbst über die "armen Schweine" zu erheben anstatt sich zu fragen, welchen ursächlichen Anteil man selber an deren Schicksal hat und wie man diesen strukturell bekämpfen kann.

Also das ich selbst jetzt Schuldbekenntnisse ablegen müsste, sehe ich nicht. Ich glaube auch, dass ich im Rahmen meiner Möglichkeiten mich mit darum bemühe, eine bessere Welt zu erreichen. ;-)

Die Formen (strukturell“) und Methoden („bekämpfen“) muss jeder für sich selbst finden. Das kann man nicht vorschreiben.

Genau das ist das Menschenbild dahinter! Und davon wegzukommen, also am Menschenbild zu drehen, ist der Sinn der Debatte um das bedingungslose Grundeinkommen. Auf genau der Ebene muss man das Thema adressieren. Nicht niederdrücken und untenhalten (Tafeln und Hartz 4), sondern aktivieren muss man die Menschen! Das geht aber nur durch Infrastruktur- und Transferleistungen, die allen Menschen GANZ bedingungslos zur Verfügung stehen.

Ich glaube zu sehen, welche Perspektive du wählst und hier ansprichst (und sie mag auch die von Selke sein). Aber statt die Auseinandersetzung zu suchen (Streit, Kampf, Klassenkampf, was auch immer) und mich da lange aufzuhalten, möchte ich einen „kampflosen“ Sieg der Bevölkerung, als „Mehrheitsentscheid“ durch pure Umsetzung von dem, was gebraucht wird. Das ist schmerzfrei und möglich und jedem „Blutvergießen“ ;-) vorzuziehen.

Auch finde ich wichtig, dass die „Einschätzung der Lage“ immer überwiegend von den Betroffenen selbst kommt. Was hilft oder nicht hilft, sollten nicht die Experten formulieren, sondern die, die Hilfe bekommen. Und das ist bei uns in Deutschland leider überhaupt nicht üblich.

Ein anderes Feld, wo die Experten (sind die, die mit der Handhabung des Themas Geld verdienen) die Diskussion bestimmen, ist der Gesundheitsbereich. Dieser ist sinnigerweise seit Jahren (Jahrzehnten?) in katastrophalem Zustand.

Sollten also Umstände ganz und gar nicht wünschenswert sein, so wäre es das Beste, dass die Menschen, die dies erkennen, sofort handeln und das jeweils „Bessere“ installieren.

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Meine Befürchtung war, dass Selkes Kritik zu einer „Aufgabe der Hilfe“ führen könnte, was ich nicht für wünschenswert halte. Deshalb meine Antwort. Wenn Selke (und du?) eine andere Lösung will, dann sollte nicht die Kritik an der bestehenden, sondern die zügige Umsetzung der gewünschten Vorrang haben.

Allerdings mag meine Kritik an Selke in sofern missverständlich sein, da ich ihm in der Sache durchaus recht gebe. Nur scheint mir der Ansatz der „kostenlosen Infrastruktur“ dermaßen vielversprechend, dass es lohnender wäre, die Energien auf diesen Bereich auszurichten. Also im übertragenen Sinne „die Tafeln ausbauen“. Darauf wollte ich wohl aufmerksam machen.

Mit Grüßen

Thomas

PS:

Ich habe jetzt noch mal deinen „Engel“ durchgelesen, auf „ipernity“. Also der Blick auf die Dinge, so wie du das schreibst, ist selbstverständlich möglich. Und ich kann das auch. Siehe hier: http://goo.gl/OuwJS

Noch wichtiger aber finde ich, sich Gedanken zu machen, wie die gewünschten Veränderungen jetzt schnell eintreten könnten. Und völlig sinnlos fände ich es, einfach nur auf die Tafeln zu verzichten, ohne das genau diese Veränderungen stattgefunden hätten.