Meine ersten Sorgen
Meine ersten Sorgen
Recht bald beschlossen meine Tochter und ich, nicht mehr nur im Urlaub sondern auch zu Hause reiten zu gehen. Wir meldeten uns auf dem Reiterhof an, den meine Tochter bereits kannte. Was ich da erlebte und was mich zum Nachdenken über den Umgang mit Pferden veranlaßte, lesen Sie in der folgenden Geschichte.
Vorsichtshalber habe ich die Namen aller Beteiligten geändert. Eventuelle Übereinstimmungen oder Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
Donnerstag, vierzehn Uhr. Ich packte meine Aktentasche und verabschiedete mich von meinen Kollegen.
"Viel Spaß! Und fall' nicht 'runter!", sagte Kalle.
Er war Vater einer siebzehnjährigen Tochter, die ebenfalls regelmäßig reiten ging. Jeden Tag. Eigentlich wohnte sie fast auf ihrem Reiterhof. Zum Leidwesen ihrer Eltern. Ich tröstete Kalle einmal damit, dass dies doch besser sei, als wenn sie ihre Zeit bis spät in die Nacht in Diskotheken verbringen würde, wo sie mit Jungs und Drogen in Kontakt kommen könnte. Er pflichtete mir bei, meinte aber, dass es trotzdem anstrengend sei, die Tochter am Wochenende zu irgendwelchen Turnieren bringen zu müssen, um dort mehrere Stunden lang aus den Lautsprechern des Reitplatzes hören zu müssen: "Auf dem Zirkel geritten!" oder "Bei C im Arbeitstempo angaloppieren, ganze Bahn!".
Zu Hause angekommen, aß ich noch etwas zu Mittag und zog mich um. Als auch meine Tochter Petra fertig war, fuhren wir los. "Papa, sehe ich nicht albern aus mit meinen Reitschuhen? Die Leute gucken bestimmt alle aus den Fenstern und amüsieren sich über uns. Ist mein Zopf gerade?", fragte Petra.
"Laß' die Leute sich doch freuen! Ich sehe allerdings niemanden aus dem Fenster schauen. Deine Reitschuhe sehen wie ganz normale Schuhe aus. Und dein Zopf ist nicht verrutscht.", versuchte ich sie zu beruhigen. ‚Das sind eben die Sorgen eines zwölfjährigen Mädchens.', dachte ich bei mir.
Um zum Reiterhof zu kommen, mussten wir aus der Stadt herausfahren. Auf dem Wege dorthin, fuhren wir an einem großen Schild vorbei, dass Werbung für eine Fleischerei machte. Es trug die Aufschrift "Alles Gute vom Pferd!". Ein Stück weiter machte ein Geschäft für Reitzubehör mit einem Schild an der Straße auf sich aufmerksam. Recht bald danach bogen wir rechts ab, um die letzten zwei Kilometer zum Reiterhof auf einer etwas kleineren Straße zurückzulegen.
"Da ist er ja, der Reiterhof.", bemerkte ich. "Und da sind sogar Parkplätze!" Ich parkte den Wagen ein, und wir stiegen aus. Ich war etwas aufgeregt, denn ich wusste nicht genau, was uns hier erwarten würde. Dass es etwas anders ablaufen würde, als in Tschechien, war mir schon nach dem Telefonat mit der Reitlehrerin klar. Wir gingen durch das Tor auf den Hof. Dort fragte ich zwei Mädchen nach der Reitlehrerin. Die brachten uns gleich zu ihr. Ich stellte mich vor, und die etwa vierzigjährige Frau gab mir die Hand. "Dann wollen wir 'mal die Pferde holen."
Petras Pferd stand schon angebunden an der Stallwand. Meine Tochter begann gleich, das Pferd zu putzen. Mein Pferd und mich führte man auf die andere Seite des Gebäudes. Die Reitlehrerin, Frau Pflüger, eine weitere Frau und mehrere Mädchen begleiteten uns. Frau Pflüger band das Pferd an und gab mir eine Bürste in die Hand. "Damit müssen Sie das Pferd putzen. Vor allem in der Sattellage muss es sauber sein, damit dort keine Scheuerstellen entstehen."
Ich begann also, an dem Pferd herumzubürsten. Dabei streichelte ich es immer wieder mit der anderen Hand. "Na, du hast es aber gut, Wotan!", sagte die andere Frau zum Pferd. Nach und nach verschwanden die beiden Frauen und die Mädchen. Die einen, weil sie meinten, dass ich mit dem Pferd allein zurechtkäme, die anderen, weil sie selbst noch etwas anderes zu tun hatten.
Wotan sah, dass wir allein waren. Ich sah das auch. Wotan schaute sich noch in die andere Richtung um, ob wir wirklich allein wären. Er bewegte seine Ohren nach hinten und zeigte mir seine oberen Zähne. Es sah aus, als würde er lachen. Ich putzte freundlich lächelnd weiter. Dann drehte er sich in meine Richtung und schnappte zu. Entsetzt sprang ich zwei Schritte zurück, und wartete völlig verunsichert in dieser Position bis mir irgendwann jemand zu Hilfe kam.
"Wotan kommt von der Trabrennbahn. Dort ist man wohl nicht immer sehr freundlich mit ihm umgegangen. Er mag jetzt keine Menschen mehr.", erklärte mir die Frau, die mir zu Hilfe gekommen war. Sie blieb in der Nähe, während ich vorsichtig wieder das Pferd putzte. Wotan wirkte jetzt noch etwas größer und breiter als vorher.
‚Wirklich ein schönes Pferd! Da soll ich drauf?', dachte ich.
Die Reitstunde war dann gar nicht so schlimm. Ich würde sogar sagen, dass sich Wotan beim Reiten große Mühe mit mir gab. Die letzten zehn Minuten durfte ich sogar ohne Longe reiten.
Ich ruckte mit dem Gesäß auf dem Sattel herum, indem ich versuchte, das zu imitieren, was ich bei den anderen gesehen hatte, und Wotan ging tatsächlich los. Ich zog am Zügel nach rechts und er ging dorthin. Das gleiche nach links.
‚Prima, ich kann ja reiten!!'
So schaffte ich es, ihn - wie von der Reitlehrerin gewünscht - diagonal über den Platz zu dirigieren.
‚Ist doch gar nicht so schwer', dachte ich stolz.
‚Noch ein paar Reitstunden, und ich kann es.'
Dann sollten wir absteigen. Als erfahrener Reiter - dies war ja immerhin meine fünfte Reitstunde - schwang ich mein rechtes Bein nach hinten auf die linke Seite, und ließ mich am Pferd heruntergleiten. War das hoch!
‚Auh, meine Füße!', dachte ich. ‚Der Boden hier ist aber hart!', ließ mir aber nichts weiter anmerken. Ich ging mit Wotan wieder zu unserem Anbindeplatz, und jemand zeigte mir, wie man ein Pferd absattelt und die Trense wieder abnimmt.
Ich sollte Wotan dann noch etwas putzen. Diesmal ließ man uns nicht allein, ich hatte also Glück. Dann zeigte mir ein Mann mit kupferfarbenen Haaren, wie man die Hufe eines Pferdes auskratzt. Den Vorderhuf auf der anderen Seite sollte ich selbst versuchen. Ich griff also nach dem Pferdebein und sagte:
"Fuß!" und nichts passierte.
Der Pferdefuß stand genauso da wie vorher. Ganz fest auf der Erde stand er. Es war nichts daran zu rütteln. Ich versuchte es noch einmal:
"Fuß!", sagte ich.
Wieder nichts. Dann hörte ich es klatschen, dazu ein giftiges "Wotan!!" von dem Kupferhaarigen, und Wotans Fuß war oben. Mit einem unguten Gefühl, weil ja das Pferd wegen mir geschlagen worden war, begann ich den Huf auszukratzen. Das war vielleicht anstrengend! Das Pferdebein wurde immer schwerer. Recht bald gab ich auf, ließ Wotans Bein wieder herunter und meinte zu dem Mann:
"So, ich denke, das müsste reichen, nicht?"
"Ja, sicher. Aber das nächste Mal nehmen Sie zuerst Ihr eigenes Bein da weg, bevor Sie das Pferdebein wieder herunterlassen! - So ein Pferd ist etwas schwerer als Sie!"
"Aha. Hatte ich mein Bein denn nicht...?"
"Nein. Ihr Fuß stand einen halben Zentimeter neben dem Huf."
"Oh."
"So, nun bringen Sie das Pferd wieder zurück auf die Koppel. Ich geh' vor und mach' Ihnen auf."
Als ich freundlich auf Wotan zuging, um ihn loszubinden, drehte er sich um und schnappte nach mir. Ich wich zurück und hörte es wieder klatschen: "Wotan!!". Diesmal wuchtete der Kupferhaarige seine klodeckelgroße Hand gegen Wotans Hinterteil, welches plötzlich 10 Zentimeter weiter links stand.
"Wenn der so'was macht, müssen Sie in den ersten drei Sekunden zuschlagen! Vorhin, als er Ihnen den Huf nicht gab, waren Sie auch zu langsam. In den ersten drei Sekunden zuschlagen. Das ist ganz wichtig! Sonst macht der was er will. So, jetzt ab auf die Koppel."
Bedrückt führte ich Wotan zur Koppel (oder führte er mich? Ach, egal!). Mir tat das Pferd leid. Sicher, dass er zweimal versucht hatte, mich zu beißen, gefiel mir natürlich auch nicht. Das war nicht in Ordnung! Aber wenn ich von nun an gezwungen sein sollte, das Pferd jedes Mal zu schlagen, wenn es sich daneben benahm, dann wollte ich doch lieber auf das Reiten verzichten.
"Mach's gut! Danke fürs Reiten!" sagte ich ganz leise zu Wotan, damit der Mann, der uns die Koppel geöffnet hatte, es nicht hörte.
"So, jetzt drehen Sie ihn herum, mit dem Kopf zum Ausgang.", rief er nun. "Dann erst machen Sie den Führstrick ab und kommen wieder her."
Wir gingen einen Bogen, weil ich nicht wusste, wie ich Wotan drehen sollte. Dann hakte ich den Führstrick aus dem Halfter aus und ging wieder zurück. Wotan trabte langsam davon. ‚Mach's gut!', dachte ich noch einmal in seine Richtung.
Mit ziemlich gemischten Gefühlen schlich ich zu meinem Auto, um wieder nach Hause zu fahren. Petra lief hinter mir her und wunderte sich wohl, warum ich so einen niedergeschlagenen Eindruck machte.
‚Es sind wohl nicht alle Pferde so nett wie Aramis.', dachte ich. ‚Wenn man Wotan das nur abgewöhnen oder sich irgendwie mit ihm anfreunden könnte… Beim Reiten hat er sich richtig Mühe gegeben.'
Unterwegs im Auto dachte ich darüber nach, wie ich Wotan davon überzeugen könnte, mich nicht mehr zu beißen. Aber ich hatte ja keine Ahnung von Pferden! Und wenn die Fachleute auf dem Reiterhof der Meinung sind, dass man bei ihm nur noch mit rechtzeitigen Schlägen weiterkommt, dann ist das zwar traurig, aber sie werden wohl Recht haben.