Ikarus

Ikarus

Das ist er also, das "wirklich problematische Pferd". Ikarus ist ein Halbblut, sein Vater war ein Vollbluthengst. Im Umgang empfinde ich ihn als recht angenehm. Beim Führen versucht er die Führung zu übernehmen, und will schneller sein, als der Mensch neben ihm. Die richtigen Probleme kommen erst beim Reiten: Ikarus steigt desöfteren. Und er ist insgesamt sehr sensibel und übelnehmerisch, was die Hilfen betrifft. Oft bleibt er einfach stehen.

Die Chefin des Reiterhofes machte mir den Vorschlag, immer wenn ich dort bin, mich ausschließlich um ihn zu kümmern, damit er so etwas wie eine Bezugsperson bekommt. Die damalige Reitlehrerin war davon nicht so begeistert; u. a. meinte sie, daß ich mit ihm sicherlich keine Ausritte machen könne, da er seine Eigenheiten nie ablegen würde. Sie hatte ihn erst kürzlich bei einem Ausritt geritten, wobei er bald nur noch rückwärts ging und stieg.

Das hat mir natürlich nicht gerade Mut gemacht. Aber ich wollte es trotzdem mit ihm versuchen, notfalls auch ohne Ausritte. Er hatte mir leid getan, weil sonst niemand die Zeit hatte, sich so richtig mit ihm zu beschäftigen (gerade wegen seiner Probleme), und man schon über den Schlachthof nachgedacht hatte. Außerdem hatte ich ihn schon kennengelernt:

Der erste Besuch

Als ich ihn das erste Mal reiten wollte, konnte er wegen einer Beinverletzung nicht. Also machte ich zumindest einen Krankenbesuch, damit wir uns bekannt machen konnten. Ich ging in seine Box und drehte mich gleich so, daß ich dieselbe Blickrichtung hatte, wie er. Sofort kam er und schob seinen Kopf ganz dicht an meinen, und ich begann gleich, ihn am Hals zu streicheln, was ihm sichtlich gefiel. Den Besucher, der uns von draußen beobachtete, und uns ganz hektisch "alles" erklären wollte, um uns so an seinem reichen Erfahrungsschatz teilhaben zu lassen, den biß er in die Hand...

Die erste Platzrunde

Ach, war ich aufgeregt. Die Reitlehrerin erinnerte mich daran, daß Ikarus jederzeit ohne ersichtlichen Grund steigen konnte. Trotzdem begann ich ihn zu putzen, zu trensen und zu satteln. Dabei beruhigte ich mich etwas, weil er mir die Arbeit sehr leicht machte und sehr nett war.

Die Chefin (die selbst nicht reitet, aber ein gutes Gespür für Tiere und bestimmte Situationen hat) sagte mir vorher einmal, daß sie davon überzeugt ist, daß vor dem Steigen der jeweilige Reiter auch einen Grund dafür lieferte: Entweder wurde Ikarus geschlagen (mit Gerte oder Hand), oder anderweitig zu sehr zu etwas gezwungen, was er nicht wollte. Mit diesem Wissen ging ich in die erste Reitstunde. Ich versuchte ihm klar zu zeigen, was ich von ihm wollte, war aber insgesamt sehr vorsichtig und aufmerksam. Vor allem mit den Zügeln ging ich sehr behutsam um. Wie ich es sonst auch tue, lobte ich immer, wenn wir eine Übung erfolgreich ausgeführt hatten. Ich "klopfte" dabei nicht mit der Hand auf seinem Hals herum, sondern streichelte ihn kurz am Hals, legte die Hand ruhig auf seinem Widerrist auf, oder fuhr mit der Hand gegen den Fellstrich am Widerrist herauf.

Es ist nichts passiert. Auch nicht in den folgenden Reitstunden.

Patenpferd

Nach und nach wurde Ikarus zu meinem Patenpferd. Noch lange durfte ihn außer mir niemand reiten. Immer wenn ich dort Urlaub machte, waren wir zusammen. Später nahmen wir auch an Ausritten teil und noch später durften wir Ausritte auch allein machen. Nach und nach wurde Ikarus wieder Schulpferd und machte seine Sache gut. Oft war er Lieblingspferd der Reitkinder.

Sooft damals auf diesem Hof auch die Reitlehrer wechselten, behielt ich meinen Status: ich war der Einzige, der allein Ausritte machen durfte: Mit Ikarus. Das blieb über Jahre so. Irgendwann führten wir sogar Ausritte an. Ikarus war mir dabei immer eine große Hilfe, weil ich mich einfach auf ihn verlassen konnte. Einmal parierte er mir ein vor Angst galoppierendes Pferd mit einer kreischenden Reiterin zum Halten durch. Die Reiterin hatte mir vor dem Ausritt erklärt, daß sie alle drei Gangarten sicher beherrscht. Als wir zu traben begannen, fing sie an zu kreischen. Das machte ihrem Pferd Angst und es begann zu galoppieren. Danach sah ich mir alle Tagesgäste erst auf dem Reitplatz an.

Ikarus ist auf diesem Hof alt geworden. Von Schlachthof war nie wieder die Rede.

Resumée

Mit der derzeitig allgemein praktizierten Dominanz gegenüber Pferden, bin ich ja ohnehin nicht ganz einverstanden. Natürlich wird es gefährlich, wenn man einem Pferd grundsätzlich seinen Willen läßt, und sich somit unterordnet. So soll es auch nicht sein. Aber es darf durchaus Momente geben, wo ich als Reiter meinem Pferd eine eigene Meinung zugestehe, vorausgesetzt, ich bringe damit niemanden in Gefahr.

Es gibt sogar Pferde, die man mit der Methode "Dominanz um jeden Preis" nicht gefahrlos reiten kann. Solche Pferde wie Ikarus geben mir (und all denen, die das ganz ähnlich sehen) recht.