Panzerkreuzer Potemkin aus Papier
Oliver Stoll bastelt seit 24 Jahren an "seiner" russischen Flotte, die aus mehr als 200 Schiffsmodellen besteht
Von Bernhard Hampp
„Ich bin nur ein selbstäniger Ölhändlertrottel“, sagt Oliver Stoll über sich selbst. Wenn der 43-jährige Ingolstädter abends seinen Tanklastzug in die Garage gestellt hat, will er vom Öl nichts mehr wissen. Seine Frau, die er „Schnuppi“ nennt, weiß, dass sie ihren Mann für jetzt zwei Stunden alleine lassen muss. Denn Oliver Stoll reist in seinem Bastelzimmer hundert Jahre in die Vergangenheit. Mit Schere und Kleber lässt er die russische Flotte der Jahrhundertwende auferstehen – aus handelsüblichem Rechenpapier. „Das ist mein Reich, hier bin ich der Marineminister“, sagt Stoll. Warum gerade die russische Flotte, die 1904 im Chinesischen Meer von den Japanern zerstört wurde? - „Aus Mitleid mit den Schwachen. Das ist wie, wenn ich einem Waisenkind helfe.“
Im Neuburger Rathaus ist die Papierflotte, an der Stoll nun seit 24 Jahren bastelt, bis zum 24. Juni ausgestellt. Die mehr als zweihundert Schiffsmodelle sind zwischen zehn und 120 Zentimeter lang, darunter Zerstörer und Panzerschiffe, Eisbrecher und Passagierdampfer, Kohleschiffe und Torpedoboote. Um die Schiffe herum erstreckt sich eine zweihundert Quadratmeter große, liebevoll gestaltete Hafenanlage mit Trockendocks, Brückenanlagen und einem Elektrizitätswerk.
Sogar ein orthodoxes Gotteshaus gehört zu dem Hafen aus Papier, in dem es recht international zugeht: Auf den Gleisanlagen rangiert eine mexikanische Gebirgslokomotive neben einem kanadischen Kohlezug und einer bayerischen Steilrampenschublock.
Fast unglaublich ist die Detailgenauigkeit, mit der der Ingolstädter zu Werke gegangen ist. Da gibt es schwenkbare Kanonen,
Bänke in der Kirche und aufklappbare Toilettenschüsseln im Zugwaggon.
Ganz originalgetreu aber ist die Flotte nicht, gibt Stoll zu. Die Russen hätten bei einigen Schiffen „katastrophale Konstruktionsfehler“ begangen. „Die haben den Tiefgang falsch berechnet und die Kähne sind ins Schlingern gekommen.“ Deshalb hat der „Marineminister“ es sich zur Aufgabe gemacht, seine russische Flotte zu veredeln. Wo er die Originalkonstruktionen für schwach hält, fügt er englische und deutsche Bauweisen ein, die er sich aus Fachbüchern aneignet. Seine Schiffe aus Eisen hätten den Japanern eher Paroli geboten, glaubt Stoll. Schicht auf Schicht Papier klebt der Bastler und bearbeitet es mit Schere, Skalpell, Rasierklinge und Locher. Bemalen will er seine Kunstwerke nicht, denn das Karomuster der Rechenblöcke soll erkennbar bleiben.
„In ganz Europa habe ich Gleichgesinnte gesucht, aber niemanden gefunden, der die gleiche Technik anwendet“, sagt Stoll. Auch von seinen fünf Kindern konnte er keines für sein Hobby begeistern. Dabei war er selbst ein Kind, als er mit den Papierbasteleien begann. Als Neunjähriger verlor er seinen Vater. Für Spielzeug war kein Geld da, also baute der Junge aus Papier Autos und Flugzeuge für Mensch-ärgere-dich-nicht-Figuren. Sogar seine seine Teddybären bewaffnete er. Sein Lebenswerk, die russische Flotte, die er 1977 begonnen hat, ist noch lange nicht vollendet. Auf einem richtigen Schiff ist der "Marineminister" übrigens erst einmal gefahren. Es war eine Butterfahrt zwischen Kiel und Langeland: „Da ist mir furchtbar schlecht geworden.“
Erschienen in Süddeutsche Zeitung, 13. 6. 2001