Für ihre Nachbarn waren die Mitglieder der Sekte „Zwölf Stämme“ lange harmlose Exoten – Nach TV-Berichten kippt die Stimmung
Von Bernhard Hampp
NÖRDLINGEN - Ein Mädchen, drei
oder vier Jahre alt, schreit vor
Schmerzen. Doch die Frau in der
schwarzen Pluderhose schlägt weiter
zu. Immer wieder auf das nackte
Gesäß des Mädchens, minutenlang.
Die Fernsehbilder, die ein verdeckter
RTL-Reporter in einem Keller der
Glaubensgemeinschaft „Zwölf Stämme“
auf dem Gut Klosterzimmern
bei Nördlingen (Landkreis Donau-
Ries) gedreht hat, gehen Kriemhilde
Krause nicht aus dem Kopf.
„Sie hatten sich eine so tolle Maske
gegeben, als nette Nachbarn, als
liebevolle Eltern“, sagt die Nördlingerin.
Sie wohnt in der Nähe des
Cafés, das die Sekte jahrelang in der
Kreisstadt betrieben hat. Die nun gezeigten
Bilder von den grausamen,
systematischen und andauernden
Kindesmisshandlungen haben sie
kalt erwischt: „Ich kann nicht davon
sprechen, ohne zu zittern.“
Hilfsbereit, freundlich, fromm: So
erschienen die Mitglieder der „Zwölf
Stämme“ Heinz Hubel. Mit der Ortsgruppe
Bopfingen des Schwäbischen
Albvereins hat er das Gut Klosterzimmern
zweimal besichtigt. „Sie
bewirteten uns unheimlich großzügig,
erklärten uns das Leben auf dem
landwirtschaftlichen Anwesen und
beantworteten bereitwillig Fragen“,
sagt er. Und dann das. „Das müssen
richtige Schauspieler sein.“ Anders
kann er es sich nicht erklären.
Die bärtigen Männer mit den langen
Haaren, die seit dem Jahr 2000
mit ihren Frauen und Kindern auf
dem Gut im Nördlinger Ries wohnen,
galten den meisten als kauzige,
harmlose Sonderlinge. Sie waren keine
Geheimniskrämer, schotteten
sich nicht ab. Im Hofladen und auf
dem Nördlinger Wochenmarkt verkauften
sie Ökogemüse und Brot. Bei
Sommer- und Erntefesten in Klosterzimmern
staunten Besucher über
Musik- und Theateraufführungen
von Erwachsenen und Kindern.
„Wie eine schöne Idylle“ empfand
es der katholische Nördlinger Dekan
Paul Erber, als er das Gehöft einmal
besuchte. Ihr Café „Prinz und Bettler“
in Nördlingen gaben die „Zwölf
Stämme“ wieder auf. Die Gäste kamen
zahlreich, um gut und günstig
zu speisen – aber nicht, um mit den
Gemeinschaftsmitgliedern über ihren
Glauben zu sprechen: Zweck verfehlt.
„Eines der Mitglieder war bei
uns in der Feuerwehr“, erzählt Karlheinz
Stippler, Bürgermeister der
Gemeinde Deiningen, in der Klosterzimmern
liegt. „Freundlich und eloquent“
seien sie gewesen, hätten
Steuern gezahlt und Behördengänge
korrekt erledigt. Nun fragt er sich:
War die Freundlichkeit Tarnung?
Als sich sieben Väter der Gemeinschaft
im Jahr 2002 verhaften ließen,
weil sie ihre Kinder nicht in die staatliche
Schule geben wollten, ernteten
sie neben Kritik auch Verständnis bei
Nachbarn. Die „Zwölf Stämme“ erhielten
schließlich die staatliche Erlaubnis,
Kinder in der Hofschule
selbst zu unterrichten und dabei Sexualkunde
und Evolutionstheorie
auszusparen. Das Bayerische Kultusministerium
schloss die Schule erst
im Juli 2013.
Anhörung vor Familiengerichten
2012 prangerten Sektenaussteiger
Prügelstrafen an. Das Jugendamt
fand keine Beweise, die Wogen
schienen sich zu glätten. „Auch ich
hatte anfangs Zweifel, denn es werden
gerne Menschen vorschnell verurteilt“,
räumt Nachbarin Kriemhilde
Krause ein. Selbst das Großaufgebot
der Polizei, das am vergangenen
Donnerstag in Klosterzimmern einrückte
und auf gerichtliche Anordnung
alle 40 Kinder abholte, erntete
Kritik. Darf man Kinder einfach den
Eltern wegnehmen?
Nun ist die Stimmung gekippt.
Heimlich gedrehte Bilder der Kindesmisshandlungen,
die am Montagabend
im Fernsehen liefen, haben für
Entsetzen, aber auch handfeste Reaktionen
gesorgt. Gegen ein Uhr fuhren
plötzlich hupende Autos in Klosterzimmern
ein, drehten Runden.
Reifen quietschten. Die Polizei beendete
den Spuk: „Wir werden keine
Übergriffe dulden und jede Straftat
konsequent verfolgen“, musste der
Nördlinger Polizeisprecher Raimund
Pauli drohen.
Die Anhörung der Eltern vor den
Familiengerichten Ansbach und
Nördlingen beginnt diese Woche. Im
Raum steht „erhebliche und dauerhafte
Kindesmisshandlung“, es droht
permanenter Sorgerechtsentzug.
„Die Mitglieder der Gemeinschaft
pflegen keinen Missbrauch, vielmehr
lieben sie ihre Kinder von ganzem
Herzen“, verteidigen sich die
„Zwölf Stämme“ auf ihrer Homepage.
Das glaubt unter Nördlinger Passanten
keiner mehr: „Sie sollen ihre
Kinder nicht wieder bekommen“,
sagt Janine Linse. „Warum haben die
Behörden nicht früher eingegriffen?“,
fragt sich Christian Turba.
Kommen die Bilder wirklich
überraschend? „Man hat immer gewusst,
dass sie ihre Kinder anders erziehen“,
sagt Deiningens evangelischer
Pfarrer Reinhard Caesperlein.
Er feiert in der früheren Klosterkirche
einmal im Monat Gottesdienst –
dieses Recht musste er sich erst gerichtlich
gegen die „Zwölf Stämme“
erstreiten. „Die sehen mich als
Feind“, sagt Caesperlein, der selbst
nie mit den Sektenmitgliedern Kontakt
hatte. „Manche haben gesagt,
dort würden altväterlich Ohrfeigen
verteilt“, sagt der Pfarrer.
Ob an den Prügelvorwürfen etwas
dran sei, fragte eine Anwohnerin die
Gemeinschaftsoberen bei einer Besichtigung
einmal. „Die Antwort
war, dass die Kinder, wenn nötig, gezüchtigt
würden – so wie es früher
eben auf dem Land war“, erinnert sie
sich heute. Warum haben viele so
lange am Bild von den harmlosen
Exoten festgehalten? „Sie sahen immer
so glücklich aus“, sagt Renate
Goss aus Nördlingen. Kein Stress,
kein Fernsehen, alles Bio.
Im Schaufenster
des geschlossenen Cafés
priesen die „Zwölf Stämme“ noch am
Dienstag selbst gefertigte Lederschuhe
an. Auf einem Blatt stand:
„Wir wohnen nun schon seit einiger
Zeit in Ihrer unmittelbaren Nähe, liebe
Rieser, und rufen Sie auf, Ihr Urteil
zu den Vorwürfen abzugeben.“
Das Fenster hat jemand mit Ketchup
verschmiert. Davor steht eine
Frau um die 30 in schwarzer Pluderhose.
Ja, sie sei eine Angehörige der
„Zwölf Stämme“, aber sie möchte
keine Auskunft geben. „Ich traue der
Presse nicht“, murmelt sie, geht ein
paar Schritte weg und bleibt, starr
und ausdruckslos vor sich hinblickend,
im Regen stehen.
Erschienen in Schwäbische Zeitung, 11. September 2013