Eine Stadt ergreift Besitz
Ingolstadt ehrt Marieluise Fleißer
Von Bernhard Hampp
"Ehrenbürgerin wird sie nicht“ schrieb Kritiker Alfred Kerr 1929 über das Verhältnis Marieluise Fleißers zu ihrer Heimat Ingolstadt. Trotz aller Kämpfe, die die Dramatikerin der Stadt und ihren Bürgern, den "Barbaren der Kleinstadt", ausgefochten hat, bleibt ihr Leben und Werk untrennbar mit der Garnisonsstadt an der Donau verbunden, von der sie sich ihr Leben lang nicht zu trennen vermochte. Sie wusste das, als sie 1956 Lion Feuchtwangers Einladung nach Berlin ausschlug: "Ich würde ich mich dort todunglücklich fühlen, verwurzelt wie ich hier bin in der Landschaft und der Sprache." Die Verwurzelung sah man ihr auch äußerlich an: Am Auftreten, an der schmucklosen Kleidung und der Hornbrille - wie eine einfache Frau aus der Provinz.
In ihren Stücken zeigte sie die beengende Welt der Kleinstadt mit ihren Brutalitäten, Demütigungen und Abhängigkeiten, das beziehungslose "Durcheinanderwimmeln von Lebewesen", in dem die Ausgestoßenen letzte Zuflucht in Gewalt und Sprachlosigkeit finden. Auch Fleißers Sprache, eine unverwechselbare Mischung aus Dialekt, Hochsprache und biblischem Vokabular, die die beklemmende Atmosphäre verinnerlicht hat, lässt die Wurzeln der Dichterin im katholischen Kleinbürgertum Ingolstadts durchscheinen.
Den Tiefpunkt erlebte die Beziehung der Dramatikerin zu ihrer Stadt im Jahr 1929, als Fleißers "Pioniere in Ingolstadt" in Berlin Premiere hatten. Das Stück löste in der Heimatstadt und in konservativen Kreisen darüber hinaus einen Skandal aus. Als "Schmäh- und Schandstück" beschimpfte es der Ingolstädter Bürgermeister und die Lokalpresse schrieb: "Wenn an unserem Stammtische einer solch ein Stück verbrochen hätte, dann würden wir sagen: Der spinnt. Aber das dürfen wir bei Marieluise Fleißer nicht sagen. Denn sie ist ja eine Dichterin." Fleißer antwortete: "Mir scheint, dass Sie in dieser unruhigen Zeit an einem etwas bösen Furunkel leiden. Wenn dies Furunkel aufgegangen ist, werden Sie wieder gesünder sein." Doch die unruhige Zeit setzte auch der Autorin zu.
Im literarischen Leben Berlins sah sie sich von Männern ausgenutzt und instrumentalisiert. Sie kehrte zurück an die Donau, wo sie keineswegs mit offenen Armen empfangen wurde: Die Nazis verbrannten ihre Bücher, 1935 erhielt sie Schreibverbot und stand fortan im Tabakladen ihres Mannes. Auch nach dem Krieg gelang es ihr zunächst nicht, Fuß zu fassen. Erst mit Einsetzen einer Fleißer-Renaissance in den sechziger Jahren, in der Autoren wie Fassbinder und Kroetz die Ingolstädterin zur "Mutter" erhoben, besann sich die Heimatstadt auf ihre Tochter.
1961 erhielt Marieluise Fleißer den neu eingerichteten Kunstförderpreis der Stadt. An Fleißer, die 1974 starb, erinnert heute eine Gedenktafel in der Nähe jenes Steges, wo in dem umstrittenen Drama die Pioniere ihren Feldwebel ertrinken lassen; außerdem ein im vergangenen Jahr eingerichtetes Dokumentationszentrum. Am 23. November wäre die Schriftstellerin 100 Jahr alt geworden.
Aus diesem Anlass bietet die Stadt ein breites Programm mit
Lesungen, Symposien, Ausstellungen und Theateraufführungen. Von Mitte November an zieren Ingolstadts Plätze, Brücken und Häuser Transparente mit Fleißer-Zitaten wie: "Es ist was mit dem Herzen und du weißt es nicht." Die Dramatikerin Petra Morsbach erhält am 23. November den 1981 gestifteten und mit 15 000 Mark dotierten Marieluise-Fleißer-Preis. An diesem Tag beginnt im Stadtmuseum eine Ausstellung mit dem Titel "Diese Frau ist ein Besitz" - einem weiteren Alfred-Kerr-Zitat - über die Briefwechsel der Autorin mit Literaten ihrer Zeit. Dass die Ingolstädter schließlich doch noch Besitz ergreifen würden von ihrer Dichterin, die sie zwar nicht hassten, die ihnen aber, wie sie vermutete, "nicht ganz geheuer" war, hatte die Fleißer vorausgesehen: "Wenn ich mal gestorben bin, das ist beruhigender, da weiß man, jetzt kann sie nichts mehr anstellen."
Erschienen in Süddeutsche Zeitung, 24.10. 2001