Der Vergangenheitsdeuter
Der renommierte Archäologe Saturnino Agüera ist in Mazarrón als Original bekannt
Von Bernhard Hampp
Saturnino Agüera ist von gestern. Sein Reich ist eine kunterbunte Insel inmitten von eintönigen Wohnblocks am Hafen von Mazarrón. Mandelbäume umwuchern das mit Mosaiken, Zinnen und tausend anderen Schnörkeln und Spielereien verzierte Haus. Auf der steinernen Türschwelle steht: „Bevor du eintrittst, schau auf dein Gewissen.“ Wer die Schwelle überschritten hat und Agüera, der mit seinem hageren Gesicht und dem langen weißen Bart wie ein Zen-Meister aussieht, gegenübersteht, sollte nicht lange staunen über das kauzige Original. Er sollte vielmehr zuhören, was der ältere Mann zu sagen hat. Denn manche seiner Sprüche klingen in der Tat so, als wären auch sie in Stein gemeißelt.
Saturnino Agüeras Welt ist die Archäologie. Seit 1970 hat er im Dienst der Provinz Murcia unzählige Ausgrabungsstätten entdeckt. Anfang 2007 wurde deshalb das neu eröffnete Kulturzentrum in Puerto de Mazarrón nach ihm benannt. Agüera, vor 76 Jahren in Mazarrón geboren, schlug sich in seiner Jugend als Schäfer, Fischer und Bergmann durch. Als in der Heimat kein Auskommen mehr war, wanderte er nach Frankreich aus, wo er sich als Maurer und Maler verdingte. Er sagt:
„Die Zeit, in der sie leben, bewegt die Menschen, mal nach Norden, mal nach Süden.“
Kurz nach seiner Rückkehr in den Süden fand Agüera eine Anstellung als Archäologe bei der Provinzverwaltung von Murcia. Zu seinen spektakulären Funden gehört eine Fischtrocknerei aus römischer Zeit, in der heute Mazarróns Archäologisches Museum untergebracht ist. In Cartagena leitete er Ende der 70er Jahre die Ausgrabungen der umfangreichen römischen Siedlung El Molinete. Besonders stolz aber ist Agüera auf zwei winzige Reagenzgläser und eine Spritze, die er in Mogabar bei Córdoba fand. Wie sich herausstellte, waren es Gerätschaften, mit denen die großen muslimischen Ärzte um Abul Qasim Al-Zahravi im 11. Jahrhundert den grauen Star behandelten, „rund 800 Jahre, bevor die westliche Schulmedizin ein Verfahren gegen diese Augenkrankheit entwickelte“, sagt Agüera und fügt hinzu:
„Manchmal ist das Große klein und das Kleine groß.“
Inzwischen steht er den örtlichen Archäologen nur noch beratend zur Seite, doch er nimmt die Arbeit weiterhin ernst. Mit mittelhartem Bleistift zeichnet er jedes Fundstück, jede einzelne Scherbe in feinsten Schattierungen und Umrissen ab. Das Arbeitszimmer im Dachgeschoss ist voll mit Ordnern. Trotzdem fühlt sich Agüera nicht als Wissenschaftler, denn in den Universitäten, so findet er, würde nur das untersucht, was andere geschaffen hätten:
„Wissenschaft entsteht im Alltag, nicht an der Universität.“
Wo kommen wir her?
Zur Altertumsforschung haben ihn seit seiner Kindheit die immer gleichen Fragen getrieben: Wo kommen wir her? Wer war vor uns da? Was sind unsere Wurzeln? Dafür durchstreifte er Gebirge, inspizierte Baustellen und stieg in metertiefe Höhlen hinein. In Mazarrón förderte er so eine Keramikscherbe aus der Bronzezeit zutage. Auf ihr war die symbolische Darstellung eines menschlichen Herzens zu sehen: Ein frühes Zeugnis für die Anatomiekenntnisse unserer Vorfahren.
„Die Fundstücke sprechen, nicht wir.“
Gab es menschliche Siedlungen auf dem Gebiet Mazarróns schon vor 500.000 oder erst seit 125.000 Jahren? Ab wann wurde das Mittelmeer mit Schiffen befahren? Warum finden sich in ganz Europa antike Vasen in der gleichen Glockenform? Warum gibt es nahe Almería ein fast gleich ausstehendes Gegenstück zum Löwentor in Mykene? Waren die Phönizier nur Händler oder eroberten sie auch? Spannende Fragen, über die Agüera gerne spekuliert:
„Archäologie heißt, in den Gedanken der Menschen von einst lesen.“
Von allen Epochen ist ihm die „Steinzeit“, die er „das große Erwachen des Menschen und seiner Träume“ nennt, die liebste. Dennoch ist Agüera froh, in der Jetztzeit zu leben. Und wieder klingt es ein bisschen wie ein weiser Kalenderspruch, wenn er sagt:
„Wie alle Menschen bin ich zu dem Zeitpunkt geboren worden, an dem ich gebraucht wurde.“
Erschienen in Costa Cálida Nachrichten, 8. 6. 2007