Heinrich von Kleist
Aus dem Programmheft zu "Amphitryon"
Von Bernhard Hampp
Heinrich von Kleist, geboren 1777 in Frankfurt an der Oder, lebte in Dresden, Paris, Thun, Potsdam, Königsberg, Besançon, Prag, Chalons-sur-Marne war Soldat, Student, Journalist, Häftling, Beamter und erschoss sich im Alter von 34 Jahren am Wannsee bei Berlin. Ob er Goethe und Schiller getroffen hat, ist nicht klar.
Aber Sie wollen mehr wissen. Sie wollen wissen, was er für ein Mensch war. Was trieb ihn um, was ärgerte ihn, was machte ihn glücklich, was brachte ihn zum Schreiben?
Sie denken: Wer den Autor kennt, versteht das Stück besser. Jeder Autor, das wissen Sie, schreibt letztlich über sich selbst. Wie bei einer Spinne: Den Faden für ihr Netz holt sie aus ihrem eigenen Leib hervor.
Hilft das Leben Heinrich von Kleists, seine Werke besser zu verstehen? Vielleicht, vielleicht auch nicht.
Kleist war flatterhaft, Kleist war unruhig, Kleist war psychisch labil.
Die Neurologin Adele Juda schreibt über den Dichter: „Schizoider Psychopath mit vielen hysterischen Zügen. Litt an chronischer Schwermut und ungeheuerlicher Maßlosigkeit in allen Dingen. Unbändiger Wandertrieb und absolutes Unvermögen, ein Amt zu übernehmen.“
Kleist log.
Als er mit einer kurzzeitigen Verlobten in der Schweiz ein kleines Haus auf einer Flussinsel gemietet hatte, schrieb er seiner Schwester in einem Brief: „Wir schiffen uns über, wir gehen in die Kirche nach Thun, ich besteige das Schreckhorn und nach der Andacht kehren wir beide zurück. Der Biograph Gerhard Schulz entgegnet: „Das müssen damals in Thun sehr lange Gottesdienste gewesen sein, denn immerhin ist das Schreckhorn 4087 Meter hoch und etwa 70 Kilometer entfernt von Thun.“
Kleist hatte wenig Freunde. Er litt darunter, dass seine Kunst kaum beachtet wurde.
„Ach, liebe Ulrike“, schrieb er seiner Schwester, „ich passe mich nicht unter die Menschen, es ist eine traurige Wahrheit, aber eine Wahrheit; und wenn ich den Grund ohne Umschweif angeben soll, so ist es dieser: sie gefallen mir nicht.“
Kleist litt an der Welt. Er fühlte sich krank.
Goethe schrieb: „Sein Hypochonder ist doch schon gar zu arg“
Kleist hatte große Probleme mit Frauen.
In seiner Kleist-Biographie schrieb Stefan Zweig: „Bei Luise Wieland, der Dreizehnjährigen, kostet Kleist den Reiz der geistigen Verführung ohne tätliche Beziehung, an Marie von Kleist drängt ihn mütterliches Gefühl, an die letzte Frau, an Henriette Vogel, bindet ihn gleichfalls kein Verhältnis (wie grässlich doch diese Worte sind), sondern nur die wütige Todeswollüstigkeit.“
Kleist liebte Männer. Zu seiner Zeit ein schweres Vergehen.
Kleist, der in der Familientradition zum preußischen Soldaten ausgebildet worden war, schrieb Briefe voller Gefühl an Männer. Einem gestand er: „Ich habe Deinen schönen Leib oft, wenn Du in Thun in den See stiegest, mit wahrhaft mädchenhaften Gefühlen betrachtet.“
Kleist onanierte oft und litt deswegen an Schuldgefühlen.
Kleist beschrieb in einem Brief einen vom Onanieren kranken Jüngling, den er in einem Spital darnieder gelegen habe: „mit nackten blassen ausgedörrten Gliedern, mit eingesenkter Brust, kraftlos niederhängendem Haupt“. Den Jüngling hatte Kleist in Wirklichkeit nirgendwo gesehen: Er war es selbst.
Kleist beging einen Mordversuch.
In einer Anwandlung versuchte Kleist, seinen Freund Adam Müller von einer Brücke in die Elbe zu werfen.
Wäre Kleist ein bloßer Aufschreiber seiner eigenen Geschichte gewesen – wie es viele Autoren sind: Er hätte er die Tragödie eines verklemmten, verbitterten jungen Mannes geschrieben, der Angst vor Menschen und sich selbst hat.
Doch Kleist hat diese Tragödie nicht geschrieben, sondern die Verwechslungskomödie vom Feldherren Amphitryon der mit einer unerhörten Maskerade hinters Licht geführt wird. Er hat die herrliche sympathische Frauenfigur der Alkmene, und Figuren voll poetischer Kraft wie Penthesilea, die Königin der Amazonen, den Prinzen Friedrich von Homburg und das Kätchen von Heilbronn geschaffen.
Er hat in seiner Erzählung „Über das Marionettentheater“ eine der schönsten Betrachtungen über den Weg des Menschen zu Schönheit und Wahrheit aufgestellt:
„Seit wir vom Baum der Erkenntnis gegessen haben, ist das Paradies verriegelt. Wir müssen die Reise um die Welt machen und sehen, ob es vielleicht von hinten irgendwo wieder offen ist.“
Kleist war auf diesem Weg, er hat ihn bis zum Ende beschritten. Nicht in seinem unglücklichen Leben, sondern in seinen grandiosen Stücken. Kleist war nicht nur ein Lügner, sondern auch ein wunderbar sprachgewaltiger Träumer und Phantast, der die bessere Welt, von der er träumte, in schillernden Farben auferstehen ließ.
Natürlich ist die Traumwelt in Kleists Dramen und Erzählungen ist lange nicht so ideal und perfekt ist wie die seiner klassischen Vorgänger. Nicht alles löst sich in Wohlgefallen und sittliche Harmonie auf. Kleists Figuren psychologisch komplexer, weisen in tiefe Abgründe. Dennoch zieht Kleists Werk, das oft mit der Musik Ludwig van Beethovens verglichen wird, das Publikum voll und ganz in ihren Bann, ist vollendete Dichtung und ganz große Show zugleich. Wie bei einer Symphonie sind am Ende alle Spannungen und Dissonanzen aufgelöst, Handlungsstränge entwirrt, die Figuren ihrer Bestimmung zugeführt. Befreit erklingt der Schlussakkord, wenn der Vorhang fällt.
Bevor sich Kleist am Wannsee eine Kugel in den Kopf jagte, schrieb er einen Brief an seine Schwester:
„Die Wahrheit ist, dass mir auf Erden nicht zu helfen war. Und nun lebe wohl; möge Dir der Himmel einen Tod schenken, nur halb an Freude und unaussprechlicher Heiterkeit dem meinigen gleich“, schreibt er seiner Schwester.
Vielleicht glaubte Kleist wirklich an dieses Happy End. Vielleicht hatte er uns – und vor allem sich selbst - die Show vom ganz großen Abgang auch nur inszeniert.
Erschienen im Programmheft zur Uraufführung von Amphitryon in Nördlingen,
Dramatisches Ensemble, 23. 11. 2007