Durch die Bauchdecke
Interview mit Ernst Alexander Rauter auf Mallorca (2004)
Von Bernhard Hampp
1957. Eine „Spiegel“-Titelgeschichte über Albert Vigoleis Thelens Mallorca-Roman „Die Insel des zweiten Gesichts“ und eine Zeitschrift beim Zahnarzt, in der stand, man könne auf Mallorca ein Haus für dreizehn Mark im Monat mieten, überzeugten Ernst Alexander Rauter: „Da muss ich hin.“ So kam er im Winter 1957 "in einer verbeulten Omnisbusschachtel nachts um 12 nach Cala Ratjada". Das Haus, das er schließlich mietete, kostete 29 Mark im Monat. Der Auswanderer, der anfangs noch keinerlei Spanischkenntnisse hatte, bestritt seinen Lebensunterhalt bald als Deutschlehrer.
Woher wissen gerade Sie, was richtige Sprache ist?
Gegenfrage – welches Wort erwarten Sie: „Es gibt modernere Goethe-Ausgaben als die Sophien-Ausgabe...
... aber...
Sehen Sie! Aber so funktioniert der Satz auch: „Es gibt modernere Goethe-Ausgaben als die Sophien-Ausgabe, umfangreichere gibt es nicht.“ Das Wort „aber“ ist schwächer, weil es durch die Bauchdecke signalisiert, dass der Autor den Leser für dümmer hält als sich selbst. Das tut nicht gut. Ich habe das auch erst im Lauf der Zeit lernen müssen. Ich mache diese Arbeit seit 20 Jahren, damit ich bessere Texte schreibe. Ich bin mein bester Schüler.
Sind Sie dabei auf das Geheimnis des guten Schreibens gestoßen?
Ich habe mich entschieden, freier Schriftsteller zu werden, weil ich morgens nicht aufstehen wollte, weil ich mich von anderen Leuten nicht kommandieren lassen wollte. Jetzt musste ich den Leuten mit Texten das Geld aus den Taschen herausschreiben. Ich hatte sehr bald verstanden, dass Behagen und Unbehagen beim Schreiben die Orientierungssonde sind. Gabriel García Márquez sagte einmal: Wenn sich der Autor beim Schreiben langweilt, langweilt sich auch der Leser. Natürlich! Der langweilt sich noch viel früher!
Empfindet dieses Unbehaben jeder?
Ja. Man kann es trainieren wie einen Sport. Machen Sie sich bewusst bei jedem Text: Da bin ich zufrieden, da empfinde ich Unbehagen. Ich habe einmal eine Reportage über die Fischer von Cala Ratjada geschrieben. In einem Café saße sie alle: schmal, faltig, braun, dunkel. Da kam einer rein: glatt, rund, rosig. Der setzte sich hin und war der Alleinunterhalter. Alle haben ihn bewundert. Ich schrieb: „Ab und zu spricht er Spanisch, damit ich auch etwas von ihm habe.“ Aber ich empfand Unbehagen, als ich diesen Satz schrieb. Also drehte ich den Satz um: ,... damit er auch etwas von mir hat“. So stimmte es! Damit auch ich ihn bewundern konnte!
Glauben Sie, den Journalismus mit Ihrer Arbeit verbessert zu haben?
Ich gebe mich inzwischen damit zufrieden, dass der eine oder andere Lust am Text bekommt und dann ein Artikel in einer Zeitung besser ist, als er sonst gewesen wäre. Nietzsche hat vor 120 Jahren gesagt: Noch 100 Jahre Zeitung und alle Worte stinken.
Und? Stinken sie?
Es wird so viel Blödsinn geschrieben. Ich habe gestern in der Zeitung gelesen: Der Hoffnungsschimmer konnte nicht zerschlagen werden. So geht es ununterbrochen.
Welche sprachlichen Unarten sind derzeit in Mode?
Es wird viel Unsinn mit Bildern getrieben. Die „Spitze des Eisberges“ war einmal ein schöner Fund. Jetzt ist alles die „Spitze des Eisberges“. Eine Redewendung ist eine Textschwäche, weil sie immer abstrakt ist. Abstraktes dient der Faulheit des Autors, weil er nicht nachfragen, nicht begreifen muss. Die Faulheit vernebelt uns die Wahrnehmung.
Noch mehr solcher Sünden?
Ich muss nur Fahrrad sagen, da denkt jeder Drahtesel. Ich muss nur Hund sagen, da denkt jeder Vierbeiner. Als gäbe es nichts anderes! Ich habe einmal Thomas Manns „Herr und Hund“ gelesen. Ich wollte wissen, ob der Nobelpreisträger das Wort Vierbeiner gebraucht – 100 Seiten, der Hund ist Protagonist – natürlich nicht. Er hat die Synonyme immer der Situation entnommen: „der traurig Blickende“, „der verwirrte Jäger“, „der Feind der Enten an der Isar“.
Kennen Sie die Angst vor dem weißen Blatt Papier?
Nein, überhaupt nicht mehr, weil ich mich an der Realität entlang artikuliere.
Was ist Realität?
Die Frage ist nicht nur legitim, sondern auch produktiv. Mit Realität meine ich, Wiedererkennens-Erlebnisse im Leser auslösen. Das können Sie nicht durch Abstraktes erreichen, nur durch Bilder. Es gibt von Marcel Proust den Satz, der Leser suche in Texten nach sich selbst. Mitgehen können mit dem Autor, das macht Spaß beim Lesen.
Wie viele Zeitungen lesen Sie am Tag?
Immer weniger. Ich halte es mit Kurt Tucholsky, der sagte: „Das bisschen was ich lese, schreibe ich mir selbst.“
Erschienen in Mallorca Zeitung Nr. 218, 28. Woche 2004