Die Suche nach der verlorenen Form
Ein Besuch in der Werkstatt des deutschen Druckgrafikers und Kalligraphen Emilio Sdun
Von Bernhard Hampp
Das Haus des Druckkünstlers Emilio Sdun bei Cuevas del Almanzora beherbergt Hunderttausende Buchstaben. Sie sind aus Blei oder Holz, verschnörkelt oder eckig, groß wie Streichholzschachteln oder klein wie Stecknadelköpfe. Als wären sie aus Hunderten von Büchern und Zeitungen gepurzelt, um vom Meister der schwarzen Kunst wieder ordentlich in Regale sortiert zu werden.
Er bewahrt sie auf, damit sie nicht verloren gehen. Aber er erweckt sie auch zu neuem Leben. Sdun, Jahrgang 1944, besitzt weder Computer noch Handy. Dafür ist seine Werkstatt voll mit Hightech-Apparaturen von anno dazumal. Er rettet, was das Computerzeitalter achtlos wegwirft.
Einen gusseisernen Handtiegel zum Beispiel, mit dem jedermann kinderleicht drucken kann: Per Hebelgriff wird eine Druckform von zwei Walzen eingefärbt und auf ein Blatt Papier gepresst. Eine Radierpresse steht neben einem altertümlichen Schriftenmessgerät. Sduns prominentestes Stück aber ist die 14 Zentner schwere Korrex Andruckpresse von 1954. Wenn Sdun die mächtigen Druckzylinder in Bewegung setzt, sich zuerst die Druckform einfärbt, dann die Farbe auf den Papierbogen übergeht, sitzt jeder Handgriff. Doch er sieht sich nicht als Handwerker: „Dazu fehlt mir die Geduld, ich muss expressiv arbeiten“, sagt er.
Zeugnisse seiner schöpferischen Arbeit schmücken die Wände des Natursteinhauses. Etwa der Linoldruck „Yucatan“, der mexikanischer Volkskunst nachempfunden ist: Hier ist Farbschicht über Farbschicht gedruckt, wobei Sdun die Linoleumplatte für jede Schicht ein Stück weiter zugeschnitten hat. Künstler nennen es das „Prinzip der verlorenen Form“ – die Matrize wird zerstört, was bleibt, ist das Werk.
Viele von Sduns Grafiken sind von Texten Federico García Lorcas inspiriert. Im Heimatdorf des Dichters gestaltete Sdun mit Schülern bereits eine Ausstellung. Auch die Texte anderer Autoren, klassischer oder moderner, Sprichwörter, Lyrik, sogar Textfetzen aus der Boulevardpresse hat er mit seinen Drucken zu bibliophilen Kostbarkeiten gestaltet. „Es geht nicht darum, Texte Satz für Satz zu illustrieren, sondern etwas Eigenes zu schaffen, das der Leser mit Fantasie interpretieren kann“, sagt er.
Meisterlich beherrscht Sdun die Kunst der Kalligraphie – per Hand kunstvoll Buchstaben zu gestalten. Einer seiner Lehrer und Wegbegleiter, Hansgeorg Hoefer, ist der Erfinder der „fälschungserschwerenden Schrift“, die auf deutschen Autokennzeichen prangt. Ein anderer ist Typographiepapst Hermann Zapf, der Schöpfer legendärer Schriften wie Palatino, Optima, oder Zapf Dingbats.
Dieter Emil Sdun, der in Sachsen geboren wurde und im Ruhrgebiet aufwuchs, eine Ausbildung zum Schriftsetzer machte und an der Meisterschule für Kunsthandwerk in Berlin studierte, war in Frankfurt tätig, bevor er 1996 mit seiner Frau und 22 Europaletten Druckereiausrüstung nach Spanien übersiedelte. Das neue Zuhause Spanien bescherte ihm den Vornamen Emilio und frische Farben: „Auf meiner ersten Fahrt nach Granada faszinierten mich die Erdfarben der Landschaft, Ocker, Hellgelb, Grüntöne, Terracotta, Violett.“ Seitdem verwendet er diese für die meisten seiner Grafiken. So können sie nebeneinander existieren, ohne schreiend zu wirken, findet er.
Sein Wissen vermittelt Sdun auch in Kursen: „Fast vergessene Künste wie Druckgrafik und Kalligraphie werden in Spanien mit Begeisterung aufgesogen“, sagt er. Sdun bringt Schulkindern mit Setzkästen bei, dass man Lettern spiegelverkehrt in die Druckform einsetzen muss. Kunstlehrern erklärt er, wie Druckplatten oder Klischees im Photopolymer-Verfahren hergestellt werden, wie das andalusische Sonnenlicht bei diesem Verfahren hilft, und wie selbst lebendige Insekten als Druckvorlage dienen können.
Aber auch in Deutschland ist Sdun bekannt. Für das Gelände der Frankfurter Buchmesse gestaltet er jährlich eine große Fahne, die das Gastland symbolisiert. Mit einer Schar Druckkünstler trifft er sich einmal im Jahr zum Druckertreffen „Typomania“ in Uelzen.
Wie sieht er sich selbst? „Als Künstler, Verleger, Typograph, Drucker, Binder, Verkäufer.“ Er will verkaufen, was er herstellt, bloß nichts für sich behalten. „Auch wir Künstler leben schließlich nicht ewig“, schmunzelt er. Der Künstler geht, die Form geht verloren. Vielleicht überdauert ja das Werk.
Erschienen in Costa Cálida Nachrichten, 29. 6. 2007