Sein Leben startet neu
Alexander Hammer aus Bopfingen lag zwei Jahre lang im Wachkoma
Von Bernhard Hampp
BOPFINGEN - Alles weg. Alexander Hammer erinnert sich an rein gar nichts mehr. Nicht an den Sturz von der Treppe vor zwei Jahren. Nicht an die Behandlung seiner schweren Hirnverletzung in zahllosen Kliniken, nicht an die Überweisung zurück in seine Heimatstadt Bopfingen – in die Wachkoma-Pflegeeinrichtung. Hierher kommen Patienten mit der niederschmetternden Diagnose „Kein Reha-Potenzial“. Und doch geschah hier das kleine Wunder: Alexander Hammer erwachte aus dem Dämmerzustand Wachkoma, begann zu schlucken, dann zu sprechen, die Arme und Beine zu bewegen, zu gehen. Seit Mai ist Hammer kein Pflegefall mehr. Sein Leben startet neu. Der 38-Jährige ist einer von 90 Patienten, die das Wachkoma-Pflegeheim in knapp zehn Jahren aufgenommen hat. Fast zehn Prozent von ihnen haben ihren Weg zurück ins Leben gefunden. Aufgegeben wird niemand. Aussichtslos, unheilbar, Endstation: Vokabeln, die es hier nicht gibt. „Früher ist oft vorschnell gesagt worden: Da ist nichts mehr“, so der Unnaer Medizinforscher und Krankenpfleger Ansgar Herkenrath auf einer Tagung zum Wachkoma im Jahr 2012 in Bopfingen. Dabei hätten neue Verfahren gezeigt, dass Wachkoma- Patienten durchaus am Geschehen teilnehmen, auch wenn sie, von außen betrachtet, keine Reaktionen zeigten, keine Laute und Bewegungen von sich geben könnten.
Auf kleinste Zeichen achten
Martina Weber aus Leimersheim in der Pfalz ist Chefredakteurin einer Zeitschrift für Schädel-Hirnverletzte und ihre Angehörigen. Ihr eigener Sohn Raphael lebt seit 29 Jahren im Wachkoma. Ein Auto hat ihn im Alter von dreieinhalb Jahren überfahren: „Direkt vor unserem Haus, in der verkehrsberuhigten Zone.“ Seitdem muss Raphael künstlich beatmet werden. Als er – noch im Kleinkindalter – eine Lungenentzündung bekam, gaben Ärzte Martina Weber den Rat, lebenserhaltende Medikamente abzusetzen. Die Familie entschied sich dagegen. „Ich habe das nie bereut“, sagt Martina Weber. Heute ist Raphael 32 und wird von einem Intensivpflegedienst betreut. „Er lacht sehr viel, freut sich, wenn wir ihn mit zum Motorsport oder Fußball nehmen“, schwärmt Martina Weber: „Sein Leben ist für ihn lebenswert.“ Schlimm sei nur, wenn er weine. „Er kann mir nicht sagen, was ihm wehtut und ich muss versuchen, es herauszufinden.“ In der Bopfinger Wachkoma-Einrichtung achten die Schwestern und Pfleger auf kleinste Zeichen. Manche Bewohner können mit den Augenlidern kommunizieren: Augen schließen bedeutet „Ja“. Andere zucken mit der Fingerspitze. „Manche sehen ins Leere, und man muss ein Gespür entwickeln, ob sie sich über verstärkte Atmung, Schwitzen oder höhere Anspannung im Körper mitteilen“, sagt Stationsleiterin Bettina Weiß. Sie ist überzeugt: „Alle Patienten bekommen etwas mit.“ Die Therapie beginnt schon beim Waschen, das die Patienten mit verschiedenen Reizen wie nass, warm oder kalt und unterschiedlichen Materialien wie Waschlappen und Frotteesocken konfrontiert. Zum Einsatz kommen in Bopfingen Physiotherapie, Logopädie und Ergotherapie, ergänzt durch basale Stimulation und moderne Entspannungstechniken. Regelmäßig besucht eine Musiktherapeutin die Pflegeeinrichtung. Mit Klangschalen und Klanghölzern fährt sie am Körper der Patienten entlang: Manche bekommen davon eine Gänsehaut, andere lächeln. Auch Märchenerzählerinnen und Klinikclowns sind oft zu Gast. Die Bopfinger Realschüler organisieren jährlich ein Sommerfest in der Wachkoma- Pflege. Das Haus in der ehemaligen „Klinik am Ipf“ hat aktuell 16 Bewohner im Durchschnittsalter von Mitte 40. Der Jüngste ist 19 Jahre alt. Ein Mann wird bereits seit neun Jahren hier betreut.
Opfer eines Tankstellenüberfalls
Der erste Patient nach der Eröffnung der Wachkoma-Pflege war Michael Sanwald aus Ellwangen. Bei einem Tankstellenüberfall wurde er lebensbedrohlich verletzt. Im Krankenhaus erlitt er plötzlich eine Gehirnblutung und fiel ins Wachkoma. Bei ihm führte der Weg aus der Pflegeeinrichtung zurück in die intensive Rehabilitation. Und von dort in ein normales Leben, das er heute fast ohne Einschränkung führen kann. Er hat es geschafft. Die Besonderheit am Fall von Alexander Hammer ist, dass der ehemalige Schweißer vielleicht irgendwann wieder in seinem alten Beruf arbeiten kann. „Die Reha ist bei ihm sehr gut verlaufen“, sagt Knut Frank, Leitende Pflegefachkraft in Bopfingen. Allgemein, so Frank, sei das Reha- Potenzial bei Hirnverletzungen durch Stürze höher, als wenn es zu Sauerstoff-Unterversorgung gekommen ist. Noch muss Alexander Hammer eine Augenklappe tragen. Vormittags auf dem linken, nachmittags auf dem rechten Auge. Sonst sieht er doppelt. Aber seine Hand kann er schon fast komplett auf- und zumachen, wie er stolz demonstriert. „Ich freue mich, wieder an den Seen rund um Ellwangen zu angeln“, lächelt der Mann, der als Spätaussiedler aus Kasachstan nach Deutschland gekommen ist. Auch auf ganz normales Essen freut er sich: „Suppe und Maultaschen“. In der kommenden Zeit wird ihm ein Betreuer bei den alltäglichen Dingen helfen. Die Wachkoma-Pflege hat Kontakt zu einer Bopfinger Behindertenwerkstätte aufgenommen. Dort soll Alexander Hammer zunächst arbeiten. Die Diagnose Wachkoma trifft nie nur einen einzelnen Menschen, sondern ist immer auch ein Schlag für die Angehörigen. „Die ganze Lebensplanung fällt von einem Moment auf den anderen zusammen“, beschreibt es Knut Frank. Zur persönlichen Tragödie kommen irgendwann die drückenden Kosten. Sehen Ärzte und Fachkräfte bei einem schädelhirnverletzten Patienten keine merkliche Verbesserung, zeigt er keine gerichtete Reaktion und lässt keinen „minimal bewussten Zustand“ erkennen, so gehen sie zur „Phase F“, der dauerhaft aktivierenden Behandlungspflege über.
Prominenter Fall Schumacher
Der Wachkoma-Patient ist nach der Logik des Gesundheitssystems in dieser „Phase F“ kein Kranker mehr, sondern ein Pflegefall. Für ihn ist jetzt die Pflegeversicherung zuständig. Die Kosten sind unermesslich“, kritisiert Pflegedirektor Günther Schneider. Von den 4000 Euro, die die Pflege in Bopfingen monatlich kostet, zahlt die staatliche Pflegeversicherung in keinem Fall mehr als 2000 Euro. Für den Rest müssen die Wachkomapatienten und ihre Angehörigen selbst aufkommen. Dazu kommen Zuzahlungen bei Medikamenten. Familien geben ihr Erspartes aus, verkaufen Haus und Hof. Irgendwann rutschen sie in die Sozialhilfe. „Es gibt in Deutschland Fälle, in denen mittelständische Unternehmen durch einen Wachkoma-Patienten in der Familie bankrott gegangen sind“, weiß Schneider. Angehörigeninitiativen kämpfen schon lange dafür, die „Phase F“ zu einem Fall für die Krankenversicherung zu machen. Vielleicht, so hofft Schneider, hilft der Fall des Formel- Eins-Stars Michael Schumacher, um in der Öffentlichkeit das Bewusstsein für Menschen im Wachkoma zu schaffen.
Eine zweite Chance
Wie im prominenten Fall Schumacher ist es auch bei den Bewohnern in Bopfingen: Familienangehörige opfern unvorstellbare Mengen Zeit für ihre Ehepartner, Eltern, Geschwister oder Kinder in der Wachkoma- Pflege. Einige legen hunderte Kilometer zurück, um täglich bei ihren Liebsten zu sein. Alexander Hammer hatte Glück. Aber er hatte auch Pech. Seine Familie ist in die Brüche gegangen. Der dreifache Vater wird nun erst einmal zu seinem Bruder nach Aalen ziehen. Dennoch will er seine zweite Chance beim Schopf packen. Noch einmal neu beginnen. „Es geht jetzt nach vorne“, spricht er sich Mut zu: „In ein ganz normales Leben.“
Erschienen in Schwäbische Zeitung, 21. Mai 2014