Charlotte Thürling Berlin, 11. März 2015
Bundesministerium für Arbeit und Soziales
11017 Berlin
Sehr geehrte Frau Nahles, sehr geehrte Frau Dr. Tabbara,
zunächst einmal möchte ich mich herzlich für den persönlichen Brief vom 15. Dezember 2014 auf meinen vom 3. August des Jahres bedanken. Das war für mich nicht selbstverständlich, da ich auf einen früheren Brief an unsere damalige Ministerin – Frau Dr. Ursula von der Leyen – nur ein aus Textbausteinen zusammengestelltes und von einer Angestellten beglaubigtes Schreiben im Auftrag von Frau Rauschenbach erhielt.
Zunächst einmal sind mir die geschilderten Bedenken zum BGE bekannt. Ich höre sie und andere im Gespräch mit Menschen. Und natürlich ist es nicht möglich, Hals über Kopf ein BGE einzuführen. Aber es gibt nicht wenige beachtenswerte Vorschläge zur Umsetzung, die diese Bedenken berücksichtigen. Das wissen Sie sicher. Ich werde mich weiterhin für ein BGE einsetzen und im Brief auch Gründe nennen.
Zunächst habe ich Ihre Anregungen aufgenommen und nachgeschlagen, was GUTE ARBEIT bedeutet und wie diese durch die INITIATIVE NEUE QUALITÄT DER ARBEIT umgesetzt wird. Wirkliches Bemühen. Wenn ich jedoch lese, dass der Beschluss der Arbeitsstättenverordnung von den Arbeitgebern zurückgewiesen wird und ich von Bekannten höre, die ihre prekäre Arbeitssituation beschreiben, frage ich mich, ob die Initiative vorankommt.
Dann habe ich den Begriff Nachranggrundsatz nachgeschlagen und festgestellt, dass meine Vorstellungen zu Leistungen und Leistungsträger leider gar nicht mit den juristischen Begriffen übereinstimmen. Habe ich denn so eine schlechte Bildung?
Besonders verwundert es mich, dass unser Staat die begrenzten Ressourcen dahin lenkt, wo sie tatsächlich gebraucht werden. Dann könnte es doch wirklich nicht sein, dass auch in Deutschland die Schere zwischen Arm und Reich immer größer wird, dass es überhaupt Obdachlose und Bettler gibt.
Gar nicht nachvollziehbar sind für mich die Aussagen zu den finanzpolitischen Auswirkungen eines BGE. Hier verweise ich auf das Buch von Götz Werner „Womit ich nicht gerechnet hätte“ und hier auf die Abschnitte zu Steuern und Grundeinkommen.
Gern gehe ich von meinem gesunden Menschenverstand aus. Ich bin in erster Linie ein Kind dieser Welt. Seit hunderten von Jahren sind Wirtschaft und Handel schon global. Erst an zweiter Stelle zähle ich mich zum deutschen Volk und bin Staatsbürgerin der BRD. Ich spreche und denke in keiner anderen Sprache so gut wie in der deutschen und habe Traditionen und Bräuche meiner Heimat verinnerlicht. Aber ein Volk, Sprache etc. sind nichts Statisches und Staatsgrenzen teilten und teilen in erster Linie Machtbereiche. Mit der Nowosibirsker Schwiegermutter meiner Tochter verbindet mich mehr als mit meinem deutschen Schwager, der von mir für eine Übernachtung in seinem Bungalow Geld fordert, das er nicht braucht, weil er genug hat.
Geld ist ein künstlich geschaffenes Bedürfnis. Ich brauche es nur deshalb, weil es die Anwartschaft auf Güter ist. Ich kann es nicht essen und es ersetzt mir keinen Freund. Es ist ein Ersatz für eine echte menschliche Beziehung. Es ist ein Zwitter – Tauschmittel und zugleich Zwinger in ein Schuldsystem, das auf Ausbeutung beruht. Da ich kein Land besitze (geht nur juristisch, ist kein Naturrecht), auch keine Immobilien und keine hohen schwarzen Zahlen für die Anwartschaft auf Güter, wäre ich auch heute gezwungen für das künstlich geschaffene Bedürfnis Geld zu arbeiten. Lange Jahre war ich aber Lehrerin und erhalte jetzt, da ich vor 1960 geboren und psychisch krank wurde, eine teilweise Erwerbsminderungsrente wegen Berufsunfähigkeit von rund 760,00 €. Zurzeit bin ich noch auf Honorarbasis als Lerntherapeutin tätig, weil ich gern Lehrende und Lernende bin, und gebe ehrenamtlich (Begriff fraglich) Deutschstunden für Menschen, die in unser Land gekommen sind. Beides kann ich genauso gut freiwillig tun, ohne an eine Institution gebunden zu sein. Die Arbeit als Möglichkeit meiner Selbstverwirklichung wäre haargenau dieselbe.
Tausende Jahre hat sich die Menschheit ohne das Kulturgut Geld entwickelt. Sicher hat es in der Zeit der Geldwirtschaft einen ungeheuren Entwicklungssprung gegeben. Aber tiefste menschliche Verletzungen im Namen von Macht und Mammon haben viele auch zu Ungeheuern werden lassen, egal ob aus Untertanengeist oder Gier.
Das Finanzsystem besteht. Und wenn Steuern wirklich einen Sinn machen, dann nur als Anwartschaft für Güter der Gemeinschaft. Sie werden aber zu großen Teilen genutzt für die völlig undurchsichtige Rettung von Banken (Welche einzelnen Menschen werden hier gerettet oder bedacht?), für Rüstung (Der Sinn von Waffen ist töten) und für eine unsäglich aufgeblähte und undurchschaubare Bürokratie, die unnötig viele neue Arbeitsplätze (?) schafft, um Menschen zu verwalten. Kaum jemand aus meinem Bekanntenkreis, der hier einen Einkommensplatz (!) gefunden hat, macht diese Arbeit gern.
Ich lehne diese Verwendung von Steuergeldern ab.
Und das wird mein Widerstand sein: Solange sich daran nichts ändert, werde ich nur von meinem Grundeinkommen gut und gerne leben und ein Mehr bedingungslos, ohne den Umweg über die staatliche Institution Finanzamt zu gehen, abgeben.
Das ist mein freier Wille.
Heute wird viel darüber diskutiert und geforscht, ob wir einen freien Willen haben. Zum Glück bewahrt die Welt ihr Geheimnis. Aber über das Wohl des Einzelnen entscheiden heute längst Menschen im Namen juristischer Personen. Aber wer sind juristische Personen, wenn nicht auch wieder Einzelne mit ihrem Willen? Oder sind juristische Personen Gott?
Es besteht die Sorge, dass in absehbarer Zeit die AGENTUR FÜR ARBEIT (Was ist das? Eine GmbH?) der undurchsichtige ERWERBSARBEITGEBER(ZUWEISER) sein wird – für alle die Menschen, die sich NICHT SELBST TRAGEN können. Das kann aber niemand, auch Vermögende nicht! Schon heute gibt es die Eingliederungsvereinbarung für Menschen, die in Hartz-IV GEFALLEN sind. Und viele Schreiben von Institutionen sind maschinell erstellt und ohne Unterschrift gültig. Wird das Gespräch von Mensch zu Mensch durch den Internetkontakt ersetzt? Glasnost nur auf einer Seite?
Es besteht also die Sorge, dass Zwangsarbeit als Bonbon verkauft wird. Zu Recht?
Weiter. Grundsätzlicher.
Es besteht der Verdacht, dass unser Grundgesetz nicht gilt. Dies wird nur nicht von offizieller Seite öffentlich gesagt. Es ist wohl aussichtslos, primäre Grundrechte einzuklagen, weil wir nicht souverän und der Souverän sind (s. Daniela Dahn: Wir sind der Staat) Ist das so?
Viel wird von den westlichen Werten geredet. Dazu zählen auch Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit (Geschwisterlichkeit) als die großen Werte der französischen Revolution. Aber wofür diese drei? Freiheit des Geistes, Gleichheit vor dem Gesetz und Geschwisterlichkeit im Wirtschaftsleben wären doch ein Ziel wie die Unantastbarkeit der Menschenwürde laut Artikel 1GG; und das für jedes Menschenkind. Uniform sind wir deshalb nicht, weiter soziale Individuen. Da ist Streit vorprogrammiert und für Entwicklung wichtig. Aber wir könnten streiten, „von der Angst nicht abgehärmt“ (Lied: Der einfache Frieden). Heute gibt es eine berechtigte Angst vor einem dritten Weltenbrand.
Hier ein Gedankenexperiment:
Ich nehme mal an, ich hätte meine Erwerbsminderungsrente, also mein BGE, sprich die Anwartschaft auf Güter, nicht mehr, was ja auch möglich sein kann. Was würde ich tun? Auf jeden Fall WILL ich nicht in die Maschinerie der Agentur für Arbeit gelangen, die mir von Unbekannt nur dann Geld für Güter gestattet, wenn ich meine Parameter abgebe, mich verwalten lasse und eine Arbeit ausführe, die mich von meinem Wesen entfremdet. Also werde ich erklären, was ich freiwillig bereits tue, den gesellschaftlichen Bedarf dafür aufzeigen und ein BGE einfordern. Was aber, wenn ich mein Recht auf Leben und Teilhabe an der Gesellschaft auch so nicht erhalte? Habe ich dann das Recht auf Betteln, Stehlen und Gewalt als von der Gesellschaft anerkannte würdevolle Verhaltensweisen? Sicher nicht.
Wird mir erlaubt, mit anderen eine Ressourcen schonende Subsistenzwirtschaft aufzubauen? Nach Ihrer Antwort – eher nein. Kommunale Aktivitäten gibt es nur in Abhängigkeit von Geldgebern. Da müsste wohl das obere Prozent bedingungslos abgeben und auf Augenhöhe mit anderen sein wollen. Eher unwahrscheinlich. Also bliebe mir nur eins: Der Wunsch, ohne Angst sagen zu können: „Ich lebe zwar gern, aber lasse mich nicht zwingen. Darum gehe ich jetzt...“ Schaffe ich das in heiterer Gelassenheit?
Und sagte ich das auch, wäre ich heute 25?
Als Kind dieser Welt hat jeder ein Recht auf Leben. Heute gehört ein Existenz sicherndes Einkommen dazu, ein BGE. Das ist meine feste Überzeugung. Und wenn es diese Wertzahlen auf dem Konto nicht mehr geben wird und auch Kontos nicht, auch gut. Denn: Was ist etwas wert und wer kann Wert wie berechnen?
Für mich war es wert, diesen Brief geschrieben zu haben, für einige wird er lesenswert sein, für andere nicht. Darf ich dafür 50 € bekommen, weil ich sechs Stunden daran geschrieben habe? War es eine Arbeit oder mein Vergnügen? Darf ich, wenn ich den Brief in meiner Freizeit geschrieben habe, nun ein Abendbrot essen, mich waschen und in einem Bett einer Wohnung schlafen, wenn ich damit kein Anspruch auf Güter VERDIENT habe? War ich nun fleißig oder faul, die Gold/Geld.-Marie oder die Pech!-Marie?
Nein, so nicht. Ich heiße Charlotte – die Freie.
Danke, dass Sie meinen Brief in Ihrer Arbeits- oder Freizeit gelesen haben.
Und Danke für Antworten auf meine Fragen.
Achtsamsvoll und mit herzlichen Grüßen
Charlotte Thürling
Zusatz:
In der Nacht vom Freitag zum Samstag (14.03.2015) schlief auf halber Treppe ein Obdachloser in unserem Haus. Die Armut kommt an unsere Türen und Herzen.
Gleichnis: Philemon und Baucis geben Herberge.
Bibel: Maria und Joseph bitten um Herberge.