Die Angst vorm Klassentreffen

Nach vielen Jahren ist es soweit. 40 Jahre nach der Matura. Es wird wieder ein Klassentreffen geben. Ein schöner Gedanke, all die alten Schulkollegen wieder zu sehen. Die Emails mit den Tabellen der Namen der Klassenkameraden , Adressen , Emails, privat und geschäftlich sowie Telefonnummern gehen hin und her mit der Bitte um Ergänzung, wenn jemand etwas von den fehlenden Adressen oder Telefonnummern weiß. Ich kann da nicht helfen. Zu lange schon hatte ich mit niemanden mehr Kontakt.


Auch nicht beruflich, bis vor ein paar Jahren, als das mit dem Beruf noch alles passte. Bevor ich, immer die besondere Aufgabe suchend, wohl zu alt, nicht mehr körperlich fit genug für die interessantesten Projekte und wohl auch zu teuer wurde, denn viele junge sehr gut ausgebildete Ingenieure aus dem ehemaligen Osten wollten ihren Weg machen. Ein Gehalt an der untersten Grenze nahmen sie gerne in Kauf, für die ersten Jahre „internationaler Erfahrung“ für ihren Lebenslauf.


In diesen letzten Jahren musste ich ein Rückzugsgefecht nach dem anderen mit vielen Verlusten hinnehmen und nun muss ich es irgendwie mit Hilfe des Sozialen Netzes noch bis zum nahen Pensionsantritt schaffen.


Warum es nicht rosig aussieht für mich, das habe ich schon zu oft diskutiert, diskutieren müssen. Ob die wohl auch damit anfangen. Das wäre mir sehr unangenehm. Sicher, alles was meine Klassenkameraden von mir wissen, ist ein schöner Karrierestart, gute Zukunftsaussichten. Und jetzt aus der Sicht der „modernen Gesellschaft“ ein kapitaler Absturz. So mag es der eine oder andere wohl sehen.


Ich selbst sehe es nicht ganz so. Ich konnte mich mit der jeweiligen Situation immer arrangieren. Ich hatte in meinem Leben schon öfters Geld, aber keine Zeit um das Leben zu genießen. Da musste ich mir oft ein bisschen Lebensgefühl teuer erkaufen. Andererseits, da ich meine Grundbedürfnisse gesichert habe, komme ich auch „ohne Geld“ gut zurecht, wenn ich dafür Zeit habe um die Natur zu genießen, meinen Hobbys nachzugehen und einfach zu leben. Wenn man oft getrieben ist, beruflich von den jeweiligen Projekten, oder durch die eigene innere Unruhe den eigenen Wünschen nachjagend, so lernt man das ruhig fließende Leben ganz besonders zu schätzen. Man findet sein Glück in den kleinen Dingen am Wegesrand des Lebenspfades und muss nicht mehr hinter den großen, oft schwer zu erreichenden Zielen die doch nur in den Augen der „Gesellschaft“ so erstrebenswert sind, hinterherrennen.

Ob meine Schulkollegen ähnliche Erfahrungen gemacht haben, ich weiß es nicht. Ob sie mich und meinen Weg verstehen werden, oder mich vielleicht insgeheim verspotten werden, ich kann es nicht sagen.


Worüber werden wir uns unterhalten, wenn das, was wir in den Augen der Gesellschaft erreicht haben, für mich nicht so sehr zählt und so ein Gespräch dann leicht peinlich werden.


Als wir uns das letzte Mal sahen, hatten wir alle Ideale, hatten unser Leben mit all seinen Möglichkeiten vor uns. Doch wie sieht es Heute aus,? Wer ist zufrieden mit seiner Situation, wer ist vielleicht sogar verbittert, weil etwas für ihn wichtiges nicht gelang. Ich sehe die jungen Burschen voll Tatendrang, die wir einst vor vielen Jahren waren, vor mir. Doch wie sieht es heute aus? Wir sind ältere Männer, gezeichnet von Wind und Wetter auf unserem Lebenspfad.

Wir erobern nicht mehr die Welt, wir müssen langsam daran denken, Platz zu machen, für das was nun kommt. Mit einigem kommen wir noch gut zurecht, doch so vieles neues bleibt uns unverständlich. Wohl so ein bisschen in der Art, wie uns unsere Eltern auch nicht immer in allen Belangen verstanden haben.


Ich möchte sehr gerne wieder meine Kameraden, so wie ich sie von früher kenne, treffen. Ich möchte dazu auch wieder jung sein. Das wäre ein ganz besonderes Treffen, wir alle wieder junge Burschen. Doch das ist nicht real. Ich habe sehr sehr viele Jahre niemanden mehr getroffen.

Ich werde als alter Mann, so wie mich keiner kennt, anderen alten Männern, die ich nicht kenne, begegnen.

Das macht mir Angst. Was werden wir reden? Auch das macht mir Angst. Ich möchte zu diesem Jubiläumstreffen gehen, doch ich habe Angst. Ich fürchte, ich nehme die kleinstmögliche Ausrede als Anlass, nicht gehen zu müssen. Mich meiner Angst nicht stellen zu müssen.


Ja, wenn wir noch die jungen Burschen von damals wären, ich wäre sofort dabei. Aber ich bin ein alter Mann, der langsam Angst vor anderen alten Männern hat. Sie halten einem nur zu allzu oft einen Spiegel vor, und da will ich gar nicht gerne hineinschauen.