Der gestohlene Mut

Man hat mir den Mut gestohlen. Ich weiß weder wer, noch wo und wann es passiert ist. Eines Tages wachte ich auf und war mutlos.

Ich musste mich tatsächlich dazu überwinden, aufzustehen. Auch zum waschen und anziehen fehlte mir der Antrieb. Ständig sagte ich zu mir selbst: Wozu aufstehen, wozu sich mit den Widrigkeiten des neuen Tages herumschlagen. Wozu das alles, bleib doch im Bett wo es schön warm ist und du dich geborgen fühlst.

Was war los mit mir, so kannte ich mich nicht! Mutig jede Herausforderung annehmend, freudig jeden neuen Tag begrüßend, das passte viel mehr zu mir, als diese Mutlosigkeit. Jawohl, das war es, mir fehlte ganz einfach der Mut. Man muss ihn mir gestohlen haben.

Nun hatte ich zwar gar keine Ambitionen, mich einem feigen Dieb in den Weg zu stellen, von einem frechen Kerl, der sogar vor körperlicher Gewalt nicht zurückschrecken würde, ganz zu schweigen. Sehr wahrscheinlich war der Dieb sehr sehr mutig, denn es bedurfte sicher großen Mutes, um mir den meinen zu rauben. Dazu kommt noch, das er nun meinen großen Mut ebenfalls sein eigen nannte, der ihn zusätzlich zu seinem noch viel, viel mutiger machte.

Es war zum verzweifeln, was sollte ich nur in dieser, mir völlig ausweglos erscheinenden Situation, machen. Wie sollte ich mich mutig auf die Suche nach meinem Mut machen, wo er mir doch gestohlen war. Was soll werden, wenn ich gebraucht werde, wenn es etwas zu retten gibt, auf dieser Welt. Wie soll ich mutlos, den Diebstahl meines früheren Mutes beweinend, meinen Mann stehen können. Ich hatte noch meinen scharfen Verstand und ein bisschen Gespartes. Der Zugriff auf mein Sparbuch würde auch nicht helfen. Tja, da gibt es diesen Sager: Mut kann man nicht kaufen! Und ich weiß, das ist wahr. Um auf der Suche nach Mut ein wenig Sicherheit zu haben, da kann Geld nützlich sein um sich Schutzausrüstung zu kaufen und Bodyguards anzuheuern.

Ich stutzte etwas. Was hatte ich soeben zu mir gesagt? „Auf der Suche nach Mut“. Ja so habe ich mich ausgedrückt und nicht das ich meinen Mut suchen wollte. Dieser feine Unterschied brachte mich ins Grübeln. Mut war ja keine Mitgliedschaft in einem Verein, auch nicht etwas, was man wie ein Werkzeug bei sich tragen konnte, oder wie einen Anzug aus besonderem Stoff anziehen konnte. Nein Mut war etwas ganz spezielles. Ich fühlte, ich musste neuen Mut finden und ihn mir zu eigen machen. Wie eine Lebenseinstellung, eine persönliche Philosophie. Und plötzlich war meine innere Stimme in meinem Kopf: „Das ist es, finde neuen Mut, mache ihn dir zu eigen und zeige so den vielen anderen mutlosen Menschen, wie sie wieder mutig werden können. Sei ihnen ein Vorbild, gib ihnen Hoffnung!“

Ich hatte eine neue Aufgabe. Durch Besiegen meiner eigenen Schwäche, wollte ich den Anderen helfen ihre Schwachstellen zu überwinden. Ob ich dazu den Mut aufbringen werde? Ein kurzer Hauch der Unsicherheit wehte mir entgegen. Ich musste zuerst alleine etwas neuen Mut finden, um mich mit meinem neuen Auftrag wohl zu fühlen. Also machte ich es mir gemütlich, braute mir einen Kräutertee und dachte darüber nach, wo und wie ich wohl am besten neuen Mut finden würde.

Einer meiner ersten Gedanken war bei meinen Motorrädern und die vielen Erlebnisse, die ich mit, besser gesagt, auf ihnen hatte. Da war doch sicher sehr viel Mut dabei.

Meine Gedanken flogen, wie ich selbst schon so oft, über die Straße. Reine Freiheit und Lebensfreude in der rechten Hand, am Gas, hämmerte der große Zweizylinder sein Stakkato in den Asphalt. Das Surren der drehfreudigen Vierzylinder wurde zum ohrenbetäubenden Kreischen das einem wild und unbändig vorwärts trieb, so als wolle man dem eigenen Sound der Maschine nach vorne entfliehen. Und man konnte entfliehen, man hatte es in der Hand. Wenn ein neidvoller Autofahrer die Lücke, durch die man fahren wollte, ohne Rücksicht auf Verluste zuzumachen drohte, genügte ein kurzes Zupfen mit der rechten Hand, ein wildes Aufbrüllen des Motors, und man ist vorbei, hat es geschafft. Der nun böse Autolenker, rasch kleiner werdend im Rückspiegel, dem es nicht gelang, ein schnelles Motorrad zu behindern, war nicht einmal mehr den gestreckten Mittelfinger wert, der so gerne unter den Mehrspurigen ausgetauscht wurde, wenn sie sich gegenseitig im Weg waren.

Vorbei am dichten Verkehr der Großstadt, geht es hinaus in die Natur mit ihren fantastischen Bergstraßen, die ein besonderes Glücksgefühl auslösen konnten, wenn man in ihrem Rhythmus, in den Tanz mit den Kurven eintauchte und eins wurde mit der Musik der Straße. Die volle Konzentration gehört der Straße, der Maschine, den Bremsen und Reifen. Den Blick ist vorausschauend auf den nächsten Kurveneingang gerichtet, und die Gedanken sind frei zum Flug in ungeahnte Höhen.

Es war schön, oft unbeschreiblich schön! Und doch war es gefährlich. Lebensgefährlich! Einige Bekannte und einer meiner besten Freunde kehrten von ihrer letzten Fahrt nicht mehr zurück. Sie fanden den Tod auf und mit ihrem geliebten „Eisen“. Was war ihnen passiert? War es eine Frage des Mutes? Warten sie „Übermütig“. Nein, es waren alle samt gute und erfahrene Fahrer. Mut oder gar Übermut hatte damit nichts zu tun. Es hatte auch nichts mit Mut zu tun, sich nach einem Begräbnis wieder aufs Bike zu setzen, denn es hatte sich nichts geändert, man wusste schon vorher um die Gefahr. Mut war etwas anderes. Meine Gedanken verweilten kurz bei den zu Tode gekommenen Bikern, schwenkten zur Witwe meines Freundes, die dann, wie man so sagt, all ihren Mut zusammen nehmen musste, um alleine, mit wenig Geld, ihr Leben und das ihrer zwei Kinder auch ohne ihn, der ihnen Partner, Gefährte und Vater war, zu meistern.

Was ist Mut, was macht ihn aus? Eine wichtige Frage.

Meine nächsten Gedanken drehten sich um Mutproben. Nein, nicht die dummen Aktionen, die man aus Filmen kennt, um in eine Geheimgruppe aufgenommen zu werden. Ich dachte an unsere Alltagsmutproben. Im Prater, Mutproben light wie die Hochschaubahn, die Geisterbahn, oder X Large wie diese Stahlkäfigkugeln, in die man hinein geschnallt wird um sich dann hilflos bis zu 50 Meter in die Höhe schießen zu lassen und man auf Stahlseilen mit Federn hin und her taumelt, bis man kotzt. Nicht zu vergessen Bungee Jumping, für mich der simulierte Selbstmord als Sprung von einem Wolkenkratzer oder einer hohen Brücke, aufgehalten nur von einem Gummi Schnürchen, zugegeben, es ist ein richtiges, starkes Gummi Seil.

Bei all diesen Aktivitäten steht der Adrenalin Ausstoß im Vordergrund. Das Bewusstsein, etwas absolut Wahnsinniges erlebt zu haben, weil man etwas über sich ergehen lässt, mit Vertrauen in Sicherheitseinrichtungen, deren Funktion man nicht kennt, das von sehr Vielen oft als toll und mutig beschreiben wird. Bei den üblichen Vergnügungspark - Attraktionen sehe keinen Mut dabei, eher Gruppendynamik, durch Alkohol verminderte Hemmschwellen und Überredungskünste von sogenannten guten Freunden. Beim Bungee Jumping muss man selbst abspringen, da genügt es nicht zu warten, bis jemand einen Knopf drückt, den man selbst vor lauter Angst nie berühren würde. Einfach springen, ohne zu wissen was man da tut, weil es die anderen auch machen, damit man nachher damit angeben kann, ist wohl in die Kategorie Jahrmarkt Mutproben einzuordnen. Aber wenn ich ein kleines Stück fliegen möchte, zwar nicht so toll wie ein Vogel, aber so gut es eben als Mensch ohne weitere Hilfsmittel wie Fallschirm oder Hängegleiter geht, und dafür bewusst den Ruck an den Beinen mit dem anschließenden auf und ab Schwingen mit dem Kopf nach unten dafür in Kauf nehme, dann gehört doch Mut dazu. Ja, ich glaube schon. Denn ich weiß, das etwas unangenehmes auf mich zukommt, doch ich nehme es in Kauf für etwas gutes, interessantes, und mache selbst den ersten Schritt.

Vielleicht ist Mut aber etwas, das man braucht um aus der Masse hervorzutreten zu können. Um überhaupt eine eigene Persönlichkeit zu sein. Es ist leicht, immer das gleiche wie alle anderen zu tun. Das zu machen, was ein anderer sagt, ohne es zu hinterfragen. Einfach in der Masse unterzutauchen, einer von vielen zu sein, damit man ja nicht auffällt. Und damit auch an nichts schuld sein kann. Denn nichts was man tut, ist auf eigenem Mist gewachsen!

Man vertritt den Standpunkt der Politischen Partei, die die meisten Ausreden für die eigenen Schwächen bietet. Man vertraut blind dem Lehrer in der Schule, dem Priester in der Kirche, dem Boss im Beruf. Geht dann etwas schief, war es Schicksal, ein anderer hat sich bemüht, doch es hat nicht gereicht, es hat halt nicht sollen sein. Es ist ja so bequem, wenn immer die anderen Schuld haben und man sich mit voller Hingabe selbst bedauern kann, anstatt aufzustehen, sich selbst eine Meinung bilden, sich selbst auf die Füße zu stellen um seinen Mann stehen. Nur dann ist man wirklich eine eigene Persönlichkeit und kein Null Komma fast gar nichts in einer von unzähligen X-beliebigen Statistiken.

Klar, viele haben Angst, so einfach aus der schützenden Masse hervorzutreten. Doch mutig ist nicht das Gegenteil von ängstlich. Man braucht sogar großen Mut um seine Ängste nicht nur zu erkennen, sondern auch zuzugeben und zu ihnen zu stehen. Denn nur der, der sich zu seinen Ängsten bekennt, sie auch anderen gegenüber zugibt, wird in der Lage sein, Situationen die ihm Angst machen zu meiden. Er wird nicht von anderen unabsichtlich hineingestoßen werden, oder wenn es nicht anders geht, zumindest gleich Unterstützung durch seine Freunde finden. Doch dazu müssen die Freunde wissen, wovor man Angst hat.

Erfordert es Mut, seinen Freunden von seinen Ängsten zu erzählen? Wenn es echte Freunde sind, sicher nicht.

Mir macht es viel mehr Angst, in der Masse unterzugehen, nicht mehr als eigenständiger Mensch erkannt zu werden. Denn das ist mir sehr wichtig.

Dafür werde ich mich wieder auf mich selbst besinnen. Zu mir selbst stehen und tun, was ich einfach tun muss.

Ich glaube, ich habe soeben neuen Mut gefunden!

Auch ihr alle könnt neuen Mut finden.

Meine Geschichte soll Euch eine kleine Hilfe sein.

Mit neuem Mut freue ich mich auf neue Aufgaben! Neue Abenteuer wollen mutig in Angriff genommen werden.