Bei unserer Geburt haben wir alle bereits die Rückfahrkarte für unsere Reise hinter den Horizont, die wir eines Tages antreten müssen.
Obwohl wir so gar nichts darüber wissen, so beschäftigt uns das Reich hinter dem Horizont immer wieder in unserem Leben. Wir lernen nach uralten Traditionen daran zu glauben, was uns dort erwarten wird, oder verdrängen alle Gedanken daran, weil es uns Angst macht, diese Reise eines Tages antreten zu müssen. Wenn jemand aus unserer Nähe stirbt, oder wir Bilder von schweren Unglücken in den Nachrichten sehen, so taucht, je älter wir werden, immer deutlicher dieses Thema auf. Ist es eines fernen Tages auch bei uns selbst soweit? Noch wollen wir davon nichts wissen, und doch ist es das letzte Ziel unseres Erdendaseins, diese Reise anzutreten, wann immer uns die Fahrkarte zugestellt wird.
Manchmal kündigt es sich langsam an, wir sehen den Boten schon von weitem, wollen ihn vielleicht am Anfang nicht erkennen, doch je näher er kommt, desto klarer wird es uns, was er überbringen wird. Wir können es akzeptieren, das die Zeit unserer Abreise nahe ist, und noch einiges erledigen, was uns wichtig erscheint. So können wir uns ruhig und ernst von unseren Lieben und unserem Dasein verabschieden.
So manch einer flüchtet sich in einen gigantischen, aber zum Schluss doch aussichtslosen Kampf um den Termin hinaus zu schieben, vergisst dabei so vieles, was noch zu tun wäre, wozu die Zeit noch gut gereicht hätte, und verliert sich statt dessen in dem einzigen Gedanken, alles zu Versuchen um das Unabwendbare abzuwenden.
Diese Menschen flüchten vor der Verpflichtung ihr Leben zusammen zu räumen, ihre Angelegenheiten abzuschließen oder in die Hände ihrer Nachfahren zu legen. Sie weigern sich zuzugeben, das es nun auch ohne sie weitergehen wird, und dass sie ja doch nicht wirklich unersetzlich sind, dieses Gefühl, das ihrem Ego immer so gut getan hat.
Wie ein Blitz aus heiterem Himmel,steht manches mal der Bote vor einem, zeigt die Fahrkarte und nimmt uns energisch, ohne auch nur eine Sekunde zu verlieren, an der Hand und setzt uns mit einem klaren „Jetzt, sofort!“ in den Zug, der gerade Fahrt aufnimmt und uns, immer schneller werdend, ohne Vorbereitung aus dem Leben fort und hinter den Horizont bringen wird.
Durch eine helle Pforte durchbrechen wir den Horizont des Erdenlebens und tauchen ein in ein neues Land, ein neues Leben, wo uns all das schöne Unbekannte erwartet, an das wir aus einer Hoffnung der uralten Überlieferungen heraus zu glauben gelernt haben, das wir vielleicht in einem Traum schon erahnt haben. Wo wir unsere Ahnen und unsere Lieben, die uns schon vorausgegangen sind wähnen, und wir uns darauf freuen, sie vielleicht bald wieder zu sehen.
Doch wenn wir nicht auf den Boten warten, sondern fordernd zu ihm gegangen sind, ihm die Fahrkarte entreißen um unser Erdenleben zu verlassen, damit wir uns nicht mehr weiter unseren Aufgaben stellen müssen, dann kann es sein, das uns der Schaffner bei unserer letzten Reise erklärt, das wir zwar mitfahren können, aber keinen Platz reserviert haben und in einem düsteren Vorort an der Müllhalde gleich nach passieren des Horizonts aussteigen müssen, um uns alleine gelassen, mit allerlei anderen zwielichtigen Gestalten herumschlagen müssen.
Für selbstgewählte Flucht vor dem Lebern, gibt es keine Genfer Konvention, keine Menschenrechte, keine Flüchtlingshilfe, wie bei uns auf Erden. Mit der Entscheidung, dem Leben zu entfliehen ist man zwar scheinbar das, wovor man flüchten wollte, losgeworden, hat aber auch alles gute, menschliche, das uns ausmacht und unseren Weg bestimmt weggeworfen.
Wenn Verwandte und Freunde von Menschen die freiwillig zu früh den Zug bestiegen haben, enttäuscht sind, so ist es nur allzu verständlich, wenn sie von Flucht reden. Wenn sie sich hintergangen fühlen, weil Brüder, Schwestern, Mütter, Väter, Freunde nicht nur vor deren Sorgen geflohen sind, sondern auch vor der Liebe die ihnen entgegen gebracht wurde und die sie durch ihre Flucht aus dem Leben verschmäht haben.
Aber immer wieder hört man auch nach einer über längere Zeit angekündigten Abreise, wo viele den Boten kommen sehen mussten
„warum bist du gegangen und hast mich alleine gelassen?
Ich wollte dir noch soviel sagen!
Ich wollte noch soviel mir dir unternehmen!“
Die Antwort auf die erste Frage ist einfach: weil der Bote die Fahrkarte gebracht hat, weil der Termin dabei unabänderlich ist, egal was Ärzte alles anstellen können, wenn es nicht auf der Fahrkarte steht, keine Fahrtunterbrechungen gestattet sind, nützt es nichts, dann es ist ein fixer Termin.
Die Antwort auf die anderen Fragen ist oft auch sehr einfach.
„warum hast du es nicht mit mir getan, mit mir gesprochen, ich hätte mich sehr gefreut!“
und dann kommen all die Ausreden, die uns das Leben nicht so leben lassen, wie wir es eigentlich tun sollten.
„Ich musste mir doch erst etwas schaffen!“
„ich wurde im Job so sehr gebraucht!“
„sonst wäre ich ja nicht befördert worden“
„meine Familie hat mich so in Anspruch genommen“
(obwohl ich doch auch irgendwie zu deiner Familie gehöre)
Es ist leichter, dem anderen vorzuwerfen, er sei geflohen, sei plötzlich fort gewesen, als sich einzugestehen, das man egoistisch viel mehr an sich selbst, als an den anderen gedacht hat.
Das man einen Menschen der da ist, als selbstverständlich nimmt, ihn nicht weiter beachtet, aber die Lücke, die er hinterlässt, mit dicken Tränen füllen will, damit man nicht daran denken muss, was man alles selbst verabsäumt hat, was man alles gewollt hätte, wenn man wollen hätte können, wäre nicht immer irgend Etwas, am ersten Blick viel wichtiges, letztlich aber doch im Vergleich Nichtiges im Wege gewesen.
Wenn wir erfahren, das ein Freund verreisen möchte, so fragen wir ihn, ob wir ihn zum Bahnhof, zum Flughafen begleiten dürfen, wollen ihm helfen, die Koffer zu tragen, und ihm fröhlich nachwinken. Wir fragen, was wir in seiner Abwesenheit für ihn tun können, Blumen gießen, seine Haustiere versorgen, sein Heim hüten und all das sorgsam befolgen, das er aufgeschrieben und uns gebeten hat, es für ihn zu tun.
Viele tun das sehr gerne, für ein paar Tage, ein paar Wochen, oft auch ein paar Monate.
Aber dann, wenn es für den abreisenden Freund besonders wichtig ist, wenn er weiß, das er nicht mehr zurückkehren wird, sich nicht mehr um seine Angelegenheiten kümmern kann, aber doch alles wohlgeordnet hinterlassen möchte, dann versagen wir oft, und wollen nicht daran denken, das ein lieb gewordener Mensch uns verlassen wird, weil ihm das Schicksal die Fahrkarte für seine letzte Reise gebracht hat.
Wir verdrängen einfach, das dieser Freund uns nun besonders braucht, uns seine Angelegenheiten gerne geordnet übergeben möchte, aber wir ignorieren es einfach, glauben wohl, wenn wir es nicht wahrhaben wollen, dann wir es auch nicht wahr werden.
„Er kann ja nicht gehen, ohne sich von mir zu verabschieden!“ Meint so mancher, aber sie sehen nicht, wie dringend unser Freund sich von uns verabschieden möchte, denn seine Zeit wird schon sehr, sehr knapp.
Bis uns dann eines Tages die Nachricht überrascht, das unser Freund den Zug bestiegen hat und nun unterwegs ist, auf seiner Reise hinter dem Horizont.
Wir laufen ihm nach, winken, rufen, schluchzen, weinen, doch all das erreicht unseren Freund nicht mehr. Unter Tränen vorgebrachte Versprechen, sich um seine Angelegenheiten, um seine Hinterbliebenen zu kümmern, können ihn nun nicht mehr beruhigen, denn er hört sie nicht mehr. Er kann uns auch nicht mehr sagen, was ihm besonders am Herzen liegt.
Er ist auf seiner letzten Reise, ist vielleicht traurig, weil er letztendlich ganz alleine auf dem Bahnsteig des Lebens gestanden ist, bis der Schlafwagenschaffner seinen Namen aufgerufen hat und ihn im seinem Abteil zur Ruhe gebettet hat.
So wie viele sagen, zur letzten Ruhe.
Nein, er ist nicht geflohen, aus dieser Welt, geflohen vor uns.Wir haben uns abgewendet, unseren Alltag vorgeschoben, damit wir uns nicht von von ihm verabschieden mussten, denn das hätte ein bisschen Weh getan, der Abschied für immer hier auf Erden.
So aber tut es nun sehr weh, sich nicht verabschiedet zu haben, nicht mehr mit ihm gesprochen zu haben, nicht seine Wünsche zu kennen und ihm nicht gesagt haben, das wir uns darum seinem Sinn sorgen werden.
Deshalb weinen nun so viele, deshalb werfen ihm nun manche Flucht vor. Nur die allerbesten seiner Freunde, haben versucht, sich von ihm zu verabschieden, ihm zuzuhören, was er noch sagen wollte, und konnten ihm in Ruhe nachwinken und leise nachrufen:
„Lebe wohl, dort hinter dem Horizont, deine Angelegenheiten sind bei uns in guten Händen, mein Freund!“
Das hat er sich doch von uns verdient. Keine hilflosen Tränen, keine Vorwürfe, zu früh gegangen zu sein, sondern einfach einen Gruß unter Freunden. Und die Versicherung, das wir seine Angelegenheiten in seinem Sinne verfolgen werden.
Einfach ein ehrliches „Lebe Wohl!“ unter Freunden.