Plenarvortrag
Plenarvortrag
Realistisch(er)e Erwartungen: Zur Wirksamkeit mehrsprachigkeitsdidaktischer Ansätze
Mehrsprachigkeitsorientierung hat sich zu einem kaum noch bestrittenen Leitmotiv des Fremdsprachenunterrichts entwickelt, und zwar nicht nur – oder jetzt auch? – in europäischen Kontexten. Gleichzeitig laufen mit der Ausrichtung des Unterrichts auf Mehrsprachigkeit eine ganze Reihe von Diskrepanzen und Ambivalenzen mit (z.B. Jaspers 2022, Schädlich 2020). Grundlegend für diese Spannungen ist der Gegensatz zwischen den Konzepten Mehrsprachenkompetenz (ein politisches und in der Folge curriculares, auf Einzelsprachen ausgerichtetes Konzept, z.B. EU-Rat 2019) und Mehrsprachigkeitskompetenz (eine Gruppe pädagogischer Ansätze, die auf die Förderung individueller mehrsprachiger Repertoires zielen (Cenoz & Gorter 2021 und, erheblich weitergehend, Li 2024).
Auch die Konzepte der Mehrsprachigkeitsdidaktik sind vielfältig, haben unterschiedliche Entstehungszusammenhänge (z.B. Tertiärsprachendidaktik und Interkomprehension als für den Fremdsprachenunterricht konzipierte Ansätze; Akbulut & Marečková 2023) und betreffen verschiedene Zielbereiche ((meta)kognitive und affektive ebenso wie sprachliche und sprachhandlungsbezogene; Studer i.Dr.).
Angesichts dieser Gemengelage erstaunt es nicht, wenn Akbulut & Marečková (2023, 175) in ihrer Bilanz zum Podium Plus Mehrsprachigkeitsdidaktik an der Wiener IDT 2022 zum Schluss kommen, «dass vor allem auf Seiten der Lehrkräfte nach wie vor viele Unsicherheiten bei der Umsetzung mehrsprachigkeitsdidaktischer Ansätze bestehen».
In meinem Beitrag greife ich einige empirische Arbeiten zur Mehrsprachigkeitsforschung und - didaktik auf, die zu einem realistischeren Bild dessen beitragen können, was von der Mehrsprachigkeitsorientierung im Fremdsprachenunterricht erwartet werden kann und was nicht. Zur Sprache kommen sollen v.a. Studien, die für den lateinamerikanischen Kontext aussagekräftig (Berthele & Udry 2022) oder anschlussfähig sein könnten (Marx & Steinhoff 2021), sowie das korpuslinguistische Projekt SWIKO, ein mehrsprachiges Lernerkorpus-Projekt, zu dem jetzt auch Einsichten und Anwendungen für Deutsch als Fremdsprache vorliegen (Hicks & Studer i.Dr.). Ziel des Beitrags ist es, Orientierungsmöglichkeiten für die Navigation zwischen Mehrsprachenkompetenz und Mehrsprachigkeitskompetenz zur Diskussion zu stellen.
Akbulut, Muhamed & Marečková, Pavla (2023). Mehrsprachigkeitsdidaktik – Diskurse, Konzepte und aktuelle Herausforderungen. In Demmig, Silvia et al. (Hrsg.), idt 2022, Band 4: Beiträge zur Methodik und Didaktik Deutsch als Fremd*Zweitsprache. Berlin: Schmidt Verlag, 165-178.
Berthele, Raphael & Udry, Isabelle (2022). Multilingual boost vs. cognitive abilities: testing two theories of multilingual language learning in a primary school context. International Journal of Multilingualism 19(1). [DOI 10.1080/14790718.2019.1632315].
Cenoz, Jasone & Gorter, Durk (2021). Pedagogical translanguaging. Cambridge: CUP. [DOI 10.1017/9781009029384]
EU-Rat 2019. Empfehlung des Rates vom 22. Mai 2019 zu einem umfassenden Ansatz für das Lehren und Lernen von Sprachen. Strassbourg: Amtsblatt der Europäischen Union C 189/15. Online: https://www.europarl.europa.eu/factsheets/de/sheet/142/sprachenpolitik [29.8.2024].
Hicks, Nina & Studer, Thomas (i. Dr.). Learner Corpora in Foreign Language Education: Examples from the Multilingual SWIKO Corpus. Erscheint in Babylonia 2/2024.
Jaspers, Jürgen (2022). Linguistic dilemmas and chronic ambivalence in the classroom. Journal of Multilingual and Multicultural Development 43(4). [DOI 10.1080/01434632.2020.1733586]
Li Wei (2024). Transformative pedagogy for inclusion and social justice through translanguaging, co-learning, and transpositioning. Language Teaching 57, 203–214. [DOI 10.1017/S0261444823000186]
Marx, Nicole & Steinhoff, Torsten (2021). Können einzelsprachliche Interventionen sprachenübergreifende Effekte haben? Wie die schulische Majoritätssprache Herkunftssprachen fördern kann. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 24. [DOI 10.1007/s11618-021-01032-5]
Schädlich, Birgit (2020). Mediatorisches Handeln und Symbolische Kompetenz: Ansätze für reflektierte Mehrsprachigkeit in antinomischen Spannungsfeldern schulischen Fremdsprachenunterrichts. In Schädlich, Birgit (Hrsg.), Perspektiven auf Mehrsprachigkeit im Fremdsprachenunterricht – Regards croisés sur le plurilinguisme et l´apprentissage des langues. Berlin: Metzler, 31-56.
Studer, Thomas (i. Dr.): Fremdsprachliche Kompetenzen im Zeichen plurilingualer Ansätze: Ambivalenzen verstehen und damit umgehen können. Erscheint in Akten des 30. Kongresses für Fremdsprachendidaktik der Deutschen Gesellschaft für Fremdsprachenforschung 2023.
Vita
Thomas Studer ist ordentlicher Professor für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache an der Universität Fribourg / Freiburg und Mitglied der Direktion des Instituts für Mehrsprachigkeit der Universität und der Pädagogischen Hochschule Fribourg / Freiburg. Seine Arbeitsschwerpunkte umfassen die Lernerkorpuslinguistik, die Sprachlehr- und Sprachlernforschung, die Fremdsprachen- und Mehrsprachigkeitsdidaktik sowie das Testen und Prüfen.
https://www.unifr.ch/pluriling/de/forschung/sprachen-lehren-und-lernen-mit-fokus-daf-daz.html