Die Legende der hl. Egodora
Die hl. Egodora war eine engagierte und hingabebereite Frau. Jeder, der sie brauchte, durfte auf ihre Hilfe bauen. Sie gab alles, was sie hatte, und am liebsten noch mehr. Für sich selbst beanspruchte sie nichts. So zog sie neben ihren Berufspflichten ihre Kinder groß und pflegte ebenso opferbereit ihren kranken Vater. Eines Tages aber waren die Kinder aus dem Haus, und ihr Vater hatte den letzten Heimweg angetreten. Sie war allein – und traurig, abgrundtief traurig. Es war ihr, als drehe sie sich im Kreis und der Zugang zum normalen Leben sei ihr versperrt, ausweglos...
Da hatte sie eines Nachts einen sehr lebendigen Traum: Sie sah ihren Vater, lief auf ihn zu und warf sich weinend in seine Arme. Er umarmte sie, strich ihr zärtlich übers Haar und sprach zu ihr: „Kind, du bist ein Geschenk. Ich habe es gewusst, als ich mit deiner Mutter den Tag deiner Geburt erwartete. Ich wusste es, als du geboren wurdest. Ich wusste es, als du Maikäfer und Kastanien gesammelt hast und mir Bilder maltest. Ich habe es gewusst, als du zielstrebig deinen Weg gingst. Ich habe es gewusst, als du trotz deiner Sorge für die eigene Familie mich nicht vergessen hast. Ich habe mich darauf verlassen, als ich krank war. Habe ich es dir nie gesagt? So sage ich dir jetzt: Du bist ein Geschenk. Bedenke, was das bedeutet!“ Und er küsste ihre Stirn.
Als Egodora erwachte, spürte sie eine wohlige Wärme in sich und einen tiefen Frieden. Während sie sich für den Tag zurechtmachte, dachte sie immer wieder an ihren Traum. In ihr breitete sich fühlbare Freude aus. Egodora hatte den Wunsch, diese Freude auszukosten. Es war ihr, als wäre sie das jemandem schuldig. So tat sie etwas, was sie noch nie getan hatte: Sie nahm sich spontan einen Tag frei und sagte auch die Kinderbetreuung für den Nachmittag ab. Dann holte sie die alten Fotoalben hervor und schaute sich die Bilder an, die ihr Vater von ihr gemacht und liebevoll kommentiert hatte. Vor ihr erstand eine alte und doch so neue Welt. Aus jedem Bild leuchtete ihr der Satz entgegen: „Du bist ein Geschenk!“, bis sie laut sagte: „Ich bin ein Geschenk!“ Da verstand sie auch ihren Namen, der ihr stets so sonderbar angemutet hatte. Und sie dachte daran, was ihr die Mutter schon als kleines Kind beigebracht hatte, nämlich für ein Geschenk Dankeschön zu sagen. So sagte sie nun ganz bewusst: „Ich bin ein Geschenk. Gott sei Dank!“ Seit diesem Tag war es ihr möglich, bei all ihrem Tun für die anderen auch sich selbst im Blick zu behalten und angemessen für sich zu sorgen. Die Freude, die sie dadurch erlebte, strahlte auf ihre Umgebung aus. Gern sagte sie zu ihren Lieben: „Ihr seid wirklich ein Geschenk!“ Die bestätigten ihr das Gleiche und im gegenseitigen Annehmen wurde ihr gemeinsames Leben reich und schön.
Der Gedenktag der hl. Egodora wird mit allen unbekannten Heiligen am 1. November begangen. Auf Bildern ist sie mit einem Geschenk zu sehen.