Seit Aristoteles wissen wir: Geschichten sind nicht lose Reihungen von Ereignissen, sondern zielgerichtete Spannungsbögen. Eine Erzählung lebt davon, dass sie eine Spannung aufbaut und auflöst – und diese Auflösung hängt vom Ziel der Figuren ab. Doch was, wenn die Ziele selbst grundverschieden sind? Was, wenn nicht jede Geschichte denselben ontologischen Raum bespielt?
Ich schlage vor: Es gibt drei Grundarten von Zielen in Geschichten, und sie verhalten sich zueinander wie drei Pole eines narrativen Dreiecks. Jedes Drama, jeder Roman, jeder Film zieht seine Energie aus der Nähe zu einem dieser Pole – oder aus der Reibung zwischen ihnen.
Hier herrscht das Reich der Verstandesdramatik. Das Ziel ist greifbar, messbar, erreichbar. Der Held oder die Heldin handelt innerhalb einer bekannten Ordnung und will diese bestätigen oder reparieren. Die Logik ist kausal: Handlungen haben Wirkungen, Fehler lassen sich korrigieren, das Chaos wird gezähmt.
Dies ist der Kosmos des Krimis, des Gerichtsdramas, der klassischen Heldenreise. Die Befriedigung am Ende entsteht aus dem Schließen des Kreises.
Seine religiöse Analogie findet es im calvinistischen Ethos: Reichtum und Erfolg im Diesseits gelten als Beweis göttlicher Gnade. Heil wird hier nicht in mystischer Ekstase erlangt, sondern in disziplinierter Arbeit, Sparsamkeit und dem sichtbaren Gelingen. Der Gott dieser Dramen ist berechenbar – ein Buchhalter, der am Ende die richtigen Zahlen aufaddiert.
Dies ist die Sphäre der Tragödie, des existenziellen Sprungs. Das Ziel liegt jenseits der irdischen Logik und kann nur durch absoluten Einsatz erreicht werden – oft um den Preis des Lebens. Der Weg dorthin ist nicht berechenbar, er gleicht einem Sturz in eine andere Dimension.
Religiös entspricht dies dem Märtyrertum: Selbstopfer als ultimative Bezeugung der Gottesliebe. Die Logik ist vertikal – ein direkter Aufstieg, der keine Zwischenziele kennt.
Dramaturgisch ist das heikel: Weil Gnade nicht gemacht werden kann, entzieht sie sich der Ursache-Wirkung-Mechanik. Die Spannung droht zu versickern. Solche Geschichten brauchen oft ein zweites, besonnenes Ziel, das wie ein Trägerraketenstufe funktioniert – während der eigentliche Sprung ins Jenseits unsichtbar bleibt, aber alles motiviert.
Hier bricht der Protagonist mit der bestehenden Ordnung, um eine höhere Bindung zu beweisen. Normen werden bewusst verletzt, Gesetze missachtet, um sich allein auf eine übergeordnete Macht zu berufen. Die Spannung entsteht aus der Frage: Wird der Bruch neue Ordnung stiften – oder nur ins Chaos führen?
Religiös entspricht dies der Transgression: Nähe zu Gott durch Tabubruch. Historische Beispiele reichen von radikalen Sekten wie den Frankisten bis zu modernen Antihelden, die sich nur durch Regelverletzung befreien können.
Dieses Ziel ist dramaturgisch gefährlich – es kann das Publikum abstoßen oder elektrisieren. Entscheidend ist, ob der Tabubruch als Endpunkt oder als Durchgang zu einer anderen Form von Ordnung inszeniert wird.
Ordnung – Jenseits – Bruch: Diese drei Pole umspannen den Möglichkeitsraum der Erzählung. Jede Geschichte zieht ihre Spannung aus der Bewegung zwischen ihnen:
Ein klassischer Detektivroman sitzt nah bei Ordnung.
Ein Märtyrertoddrama liegt tief im Sektor des Jenseits.
Eine anarchische Komödie oder ein subversiver Thriller bewegt sich bei Bruch.
Die interessantesten Werke jedoch entstehen dort, wo sich die Kräftefelder überlagern – wo ein besonnenes Ziel im Dienste eines radikalen Ziels steht, oder wo ein Bruch paradoxerweise zur Rettung der Ordnung führt.
Utopien leiden oft darunter, dass sie ausschließlich im Pol der Ordnung verharren. Das Böse ist besiegt, die Gesellschaft harmonisch – und die Spannung erlischt. Will man utopische Erzählungen lebendig halten, muss man dem Loch in der Wirklichkeit einen Raum geben: dem Sprung ins Jenseits oder dem Stachel des Bruchs.
Anders gesagt: Auch im Paradies muss irgendwo eine Tür offenstehen, durch die der Wind einer anderen Welt zieht. Ohne diese Öffnung erstickt die Geschichte an ihrer eigenen Vollkommenheit.
Ob Calvinist, Märtyrer oder Tabubrecher – die Figuren jeder Erzählung bewegen sich zwischen diesen drei Formen des Ziels. Die Kunst des Erzählens besteht darin, nicht nur zu wissen, welchen Pol man ansteuert, sondern auch, welche Schwerkraft die beiden anderen dabei ausüben. Denn im Dreieck von Ordnung, Jenseits und Bruch entscheidet sich, ob eine Geschichte lebt – oder ob sie nur stillsteht und sich für eine Statue hält.