Die Erwartungshaltung des Publikums an die Erregung einer Geschichte ist ambivalent, denn sie kann einerseits einen abenteuerlichen Ausflug in unbekanntes Terrain bedeuten, nach dessen Überwindung und Bewältigung man in vertraute Gefilde zurückkehrt - oder andererseits eine grundlegende Infragestellung, möglicherweise Generalüberholung des gesunden Menschenverstandes, die dann im Vergleich zu ihrem Ausgangszustand als gelungen oder misslungen betrachtet werden kann. Die Verheißungen bis jetzt vernünftiger Geschichten können daher durch eine Betrachtung des produktiven Potenzials des Unvernünftigen ergänzt werden.
Geschichten – gleichgültig, ob sie als Thriller, Liebeskomödie, Tragödie oder Farce daherkommen – leben nicht allein von einem Ziel, das eine Figur verfolgt. Sie leben von einem Widerspiel, einer Störung, die das Erwartbare infrage stellt.
Dieses Widerspiel kann aus einer erkennbaren Quelle stammen – einem Antagonisten, einem Missverständnis, einem drohenden Unheil – oder aus einer unberechenbaren Dimension, die in die vertraute Welt einbricht. Erst durch diesen Bruch zwischen Ordnung und Störung entsteht die Energie, die eine Erzählung trägt.
Die Art und Weise, wie eine Figur mit der Störung umgeht, bestimmt, zu welchem Erzähltyp die Geschichte tendiert.
Hier steht ein klar umrissenes Ziel im Mittelpunkt:
Ein Fall wird gelöst, ein Feind besiegt, eine Liebe errungen.
Hindernisse sind zu überwinden, Gegner auszuschalten, Zweifel zu überwinden.
Die Logik ist linear-kausal: Handlung → Reaktion → Fortschritt zum Ziel.
Der Held dieser Geschichten lebt in einer Kultur, die glaubt, dass Gerechtigkeit möglich ist – wenn nur die Schuldigen entlarvt und unschädlich gemacht werden. Das Drama des Helden ist ein Drama des Willens: Scheitern ist nur ein Zwischenstand, am Ende wird das Ziel erreicht oder ehrenvoll verfehlt.
Hier ist das Ziel nur ein Vorwand für etwas anderes – für Überraschungen, Wendungen, Ereignisse, die keiner planen konnte.
Der Anti-Held wird von der Störung verwandelt; er bleibt nicht beim ursprünglichen Ziel.
Das eigentliche „Ergebnis“ ist oft etwas völlig Unerwartetes.
Statt „spielen, um zu gewinnen“ lautet das Prinzip: „spielen, um zu spielen“.
Diese Geschichten entziehen sich oft der Logik einer klaren Auflösung. Sie gipfeln nicht in der Erfüllung, sondern in einem Augenblick des Erkennens, Genießens oder Staunens.
Jede Geschichte lässt sich zwischen drei Polen verorten:
Verstandesdramatik, berechenbare Logik, kausale Handlungsstränge.
Analogie: Calvinistische Arbeitsethik – sichtbarer Erfolg als Zeichen der Gnade.
Genre: Krimi, Gerichtsdrama, klassische Heldenreise.
Selbstopfer, existenzieller Sprung, Märtyrertum.
Ergebnis ist nicht durch Ursache-Wirkung planbar.
Genre: Tragödie, religiös motiviertes Drama.
Tabuverletzung als Weg zu einer höheren Ordnung.
Gefahr: Abstoßung oder Faszination des Publikums.
Genre: Subversive Thriller, anarchische Komödien.
Die spannendsten Werke entstehen dort, wo diese Pole sich überlagern – etwa, wenn ein Bruch paradoxerweise zur Wiederherstellung der Ordnung führt.
Der gemeinsame Nenner aller funktionierenden Geschichten ist nicht das Erreichen eines Ziels, sondern das Moment, in dem eine stolze Absicht zerbricht.
Dieses Zerbrechen legt frei, in welcher „Suppe“ diese Absicht gekocht wurde – in einer größeren Erzählung, einem Ideengebäude, einer kollektiven Vorsicht.
Das Wollen ist nie rein individuell, sondern Teil einer gesellschaftlichen Fantasie: einer Ordnung, die Handlung vorhersagbar macht.
Die Störung ist der Riss in dieser Ordnung – und zugleich das Fenster zu einer anderen Sphäre.
Verteidigt die bestehende Ordnung, repariert den Schaden.
Erfolg ist eine Frage des Willens und der Selbstdisziplin.
Sein Drama ist linear und auf Erfüllung ausgerichtet.
Gehört nicht wirklich zur Gesellschaft; bleibt ihr fremd.
Sein eigentliches Ziel ist verborgen: Er lässt sich vom Überraschenden anziehen und verändern.
Sein Drama ist oft episodisch, fließt eher als dass es auf einen Höhepunkt zuläuft.
Die Komödie ist die Form, die am deutlichsten zeigt, dass die Störung selbst das Vergnügen ist.
Sie kritisiert nicht primär die Ordnung, sondern übertrifft sie, indem sie ihre Grenzen genüsslich offenlegt.
Sie hat oft keinen Spannungsbogen, sondern lebt von wiederholten Brüchen, Missverständnissen, Rollenvertauschungen.
Ihr Happy End ist das Hier und Jetzt – oder das unendliche Weiterlaufen des Unsinns.
Satire will Strukturen verbessern; Komödie genießt ihre Mängel.
Klamauk feiert die Zerbrechlichkeit von Rollen und Normen, wo Spott nur über sie richtet.
Die Tragödie: Der Protagonist strebt nach etwas, das seine Reichweite übersteigt – und scheitert daran.
Die Liebe: Wir werden von etwas angezogen, das wir nicht planen können; es überfällt uns.
Die Komödie teilt dieses Moment des Ungebetenen, aber ohne Untergang – sie lässt uns lachen über das Unerwartete, das gelingt, ohne dass es je versucht wurde.
Der rote Faden zwischen allen Formen – Heldendrama, Anti-Helden-Geschichte, Komödie, Tragödie – ist derselbe:
Die Lebenskraft einer Erzählung entspringt dem Moment, in dem das Erwartbare von einer unberechenbaren Störung durchbrochen wird.
Man kann diesen Moment nicht planen, nur vorbereiten. Wer Geschichten baut, sollte deshalb stets zuerst dorthin schauen, wo es knirscht – auf die „negative“ Seite, den Sand im Getriebe. Dort sitzt die wahre Energie.