Charaktere
Die Konstruktion und Darstellung von Filmcharakteren hängen von inneren und äußeren Konflikten ab, und ihre Rolle ist entscheidend für die Umsetzung.
Begriff des Charakters
Filmfiguren, die wir als „Charaktere" bezeichnen, sind jene Persönlichkeiten, die den Konfliktzentren des Films zugehören. Ein Charakter kann entweder von äußeren oder inneren Konflikten betroffen sein oder von beidem gleichzeitig. Er kann bewusst oder unbewusst, direkt oder indirekt an der Handlung beteiligt sein. Ein Charakter, der nicht zu kämpfen hat, würde im Film fehl am Platz wirken, da er keinen Beitrag zur Haupthandlung leistet.
Die Seele eines wirklichen Menschen setzt sich aus vielen Facetten zusammen. Ein Film-Charakter jedoch wird er für den dramatischen Zweck geschaffen. Er besitzt nur jene Eigenschaften, die den Konflikt fördern. Sie entspringen vor allem seinem Grundwollen. Sein Wesen liegt in seinem Begehren. Selbst das kleinste filmische Objekt oder Tier strebt nach irgendetwas.
Viele Charaktere, insbesondere jene mit seelischen Problemen, werden von entgegengesetzten Strebungen bestimmt. In ihnen kämpfen zwei fast gleich starke Anliegen um Anerkennung. Ihr Wesen ist demnach der Konflikt, wenngleich auch sie letztlich ein Grundwollen bestimmt.
Das innige Verhältnis zwischen Streben und Widerstreben ist besonders erregend, wenn die Kombination von zwei sehr unterschiedlichen Anliegen in einem Charakter dem Publikum plausibel erscheint. Dies ist am ehesten gegeben, wenn es diese beiden unterschiedlichen Strebungen auch in seiner eigenen Seele erlebt oder erlebt hat. Zum Beispiel würde ein innerer Konflikt zwischen dem Lebens- oder Machtwillen und der Faulheit die meisten Menschen faszinieren, amüsieren und erregen. Denn diese beiden Strebungen sind auch in ihrer eigenen Seele vorhanden und kämpfen dort mit ungefähr gleicher Stärke gegeneinander.
Der innere Konflikt zwischen einer Strebung und dem, was sie bestreitet, ist ein effektives Mittel, um Charaktere wirklich lebendig wirken zu lassen. Ähnlich wie Reibung Wärme erzeugt, scheint auch in der menschlichen Seele ein solcher innerer Kampf für Lebendigkeit und Energie zu sorgen.
Gemäß der Theorie des publikumswirksamsten Machtverhältnisses wird ein Charakter in einem Film umso unterhaltender, je mehr er gleichermaßen von einer verständlichen und einer abwegigen Strebung beeinflusst wird. Aber das Drehbuch sollte rasch und deutlich zeigen, welche der beiden Strebungen den Vorrang hat. Das Publikum möchte schnell wissen, ob es den Charakter annehmen oder vereinzeln soll. Denn ein Konflikt ist umso spannender, je klarer das Publikum Partei ergreifen kann. (Im echten Leben ist es übrigens selten, dass jemand, den wir genau beobachtet haben, nicht eindeutig positiv oder negativ in unserer Einschätzung abschneidet.)
Damit die künstliche Seele weniger stilisiert wirkt, darf sie natürlich nicht nur aus einer oder zwei Strebungen bestehen, sondern muss weitere Charakterzüge bekommen, die zur der Einheit des zentralen Anliegens und seiner Konflikte passen. Die Hauptstrebung oder das Hauptpaar von Strebungen müssen durch andere Strebungen und Charaktereigenschaften ergänzt werden. Diese Ergänzungen sollten der Hauptstrebung verwandt sein und entweder für mehr oder weniger voll genommen werden.
Wenn wir beispielsweise einen ehrgeizigen Charakter erschaffen wollen, sollten wir nur den Ehrgeiz und seine verwandten Laster und Tugenden hervorheben. Ein Erfolgsmensch kann zielstrebig, diszipliniert und selbstbewusst sein. Ist unser Modell-Streber jedoch auch ein Gärtner, wäre diese Eigenschaft in seiner Darstellung wahrscheinlich überflüssig. Selbst verwandtere Eigenschaften werden manchmal besser nicht dargestellt, weil sie die Aufmerksamkeit von der Hauptstrebung ablenken könnten.
Ein Charakter wird nur durch zwei Mittel glaubhaft und lebendig: Erstens durch die allgemein-menschliche Authentizität seiner Handlungen und zweitens durch die Einheitlichkeit derselben. Das Publikum muss sofort denken: "Ja, das passt zu dieser Person!"
Die nächsten Verwandten jeder Kraft oder Schwäche sind immer die korrespondierende Schwäche oder Kraft, ihre jeweilige Schattenseite. Ein Erfolgsmensch wird nie nur ambitioniert, sondern auch rücksichtslos sein, während anderseits z. B. ein Schönling nicht nur eitel, sondern auch feinsinnig erscheint. Es bringt nur kaum etwas, eine Strebung gegen ihren Schatten kämpfen lassen zu wollen, da es fast ausgeschlossen scheint, dass z. B. Geschicklichkeit und Pedanterie oder Kulturferne und Unvoreingenommenheit sich in derselben Seele zanken. Verwandte Eigenschaften können innige Schatten, aber keine Widerstrebungen sein, die vielmehr so verschieden wie möglich zu wählen sind, so dass gegen Geschicklichkeit etwa Intuition oder gegen Kulturferne dann Know-how antritt.
Nicht nur die Schatten der Stärken oder Schwächen im Streben arbeiten eine dramatische Figur heraus, diese Einheit würde nicht bunt genug werden, sondern alle seelischen Eigenschaften, die den Glauben des Publikums an das Anliegen des Charakters unterstützen oder vertiefen können, müssen implementiert werden. Eine verliebte junge Frau kann und soll dann auch tollkühn, gütig, redselig, großzügig sein usf.
Eint anstelle des Hauptanliegens ein Paar antagonistischer Strebungen den sich entwickelnden Charakter, so muss der Glaube an jede von ihnen rechtzeitig durch verwandte Eigenschaften unterstützt werden. Ein Charakter könnte etwa im Zwiespalt zwischen sozialer Anpassung und individueller Freiheit stehen. Damit der spätere Triumph der Freiheitsbestrebungen glaubwürdig ist, müssen diese bereits in der Anpassungsphase durch verwandte Neigungen erkennbar sein, sonst kommt es zum Charakterbruch. Der Fehler liegt in diesem Fall nicht an dem unglaubwürdigen Ende, sondern wurde schon viel früher begangen. Es ist riskant, wenn die Strebung eines Charakters, welcher der letzte Sieg vorbehalten ist, während der gesamten Handlung entweder verheimlicht wird oder zu sehr im Hintergrund bleibt.
Niemand wird zu etwas, wozu er nicht schon lange vorher einige Anlage gehabt hätte.
Typen
Jeder Mensch ist sowohl Individuum als auch Teil einer sozialen Einheit. Er unterscheidet sich von anderen und ähnelt ihnen zugleich. Wir gehören verschiedenen Gruppen an, beispielsweise Frauen oder Männer, Unternehmer, Hipster oder Nerds – Berufsjugendliche, Hedonisten, Techniker usf.
Der Typ eines Charakters, seine gesellschaftliche Rolle, ist entscheidend für das Interesse an seinem Schicksal. Die Fülle an bewussten und geheimnisvollen Vorstellungen oder Gedanken, die von jedem Typus ausstrahlt, ist dann am reichsten, wenn wir einen für unsere persönlichen Interessen wichtigen Typus vor uns sehen, etwa einen Arzt oder einen Kriminalkommissar. Künstler springt auf den Typ des Kritikers an, Eltern mehr auf den des Lehrers usf.
Das Vergnügen an der Figur
Charaktere sind in erster Linie dafür da, um Gefühle durch spannende, unterhaltsame und aufregende Handlungen und Dialoge zu erzeugen. Aristoteles argumentierte, dass Tragödien nicht nur Menschen, sondern vor allem Handlungen nachahmt. Ein reines Charakterstück, das Emotionen nur durch die Beschreibung von Figuren weckt, gibt es nicht.
Während des Films entwickeln Zuschauer oft starke Gefühle für die Charaktere. Diese Gefühle entstehen jedoch ausschließlich aus der Geschichte. Wenn ein Charakter keine interessanten oder spannenden Handlungen vollzieht, kann das Publikum sich höchstens darüber freuen, eine gut konzipierte Figur wiederzusehen. Das spricht dann noch seinen Spieltrieb an, der zu den ästhetischen Bedürfnissen gehört.
Handlung an sich ist körperlos, wird erst durch Charaktere greifbar. Die Figuren sind es dann, die unsere Gefühle fesseln, indem wir in ein Geschehen eintauchen und irgendwann sogar den ursprünglichen Grund unserer Faszination für sie vergessen, nur noch hin und weg sind. So kommen wir dazu, einen Charakter zu lieben. Oder unser anfängliches Schmunzeln über ihn verwandelt sich, indem er uns immer mehr Grund dazu gibt, in eine gütige (weil sie uns wohlig macht) Abneigung. Schließlich können wir eine Figur sogar hassen lernen, was ebenfalls Vergnügen bereitet, indem es den langweiligen Alltag verscheucht.
Die stärkste Verbindung entsteht durch unsere Identifikation mit den Charakteren. Wenn wir sehen, wie jemand Entscheidungen trifft oder leidet und wir uns vorstellen können, dasselbe zu tun oder zu fühlen, wird unsere Empathie geweckt. Damit ein Charakter das Publikum anspricht, muss er ihm auf irgendeine Weise vertraut sein. Wobei ein Zuschauer sich eher in den erbaulichen Strebungen wiedererkennt, während ihn die komischen oder verwerflichen lieber an Bekannte erinnern.
Das Publikum kann sich in einem ihm unvertrauten Grundwollen, mag es auch noch so intensiv sein, nicht wiedererkennen und steht dann davor wie vor einer fremden Sprache. Die Strebungen der Charaktere müssen dem Zuschauer bekannt sein, für den der Film gedreht wird.
Nur dann ist es möglich, diese Strebungen außerordentlich, ja beinahe ins Groteske, zu steigern, ohne dass die Zuschauer abschalten. Was eine Fantasy-Heldin auf den Gipfel ihres Ruhmes und womöglich in den Tod treibt, findet sich auch im Herzen jeder Zuschauerin wieder. Jedes edle Streben, das vielen vertraut ist, kann den strahlendsten Filmhelden formen. Ebenso entfalten das Komische und das Groteske ihre stärkste Wirkung, wenn sie allgemein bekannte menschliche Schwächen überzeichnen oder zuspitzen. Cervantes hat beispielsweise die verborgene Abenteuerlust, die in vielen von uns schlummert, genutzt, um die unvergessliche Figur des Don Quixote zu schaffen. Er ist ein Mann, der zu viel Ritter-Fantasy gelesen hat und zum Sklaven seiner eigenen Fantasie wird.
Helden und Narren
Sympathisch ist ein Charakter, dessen Grundwollen sich deckt mit dem Bestreben des Wahrnehmers, also zunächst der Autorin oder des Autors, die ja sein erstes und einzig maßgebendes Publikum sind. Fragwürdig wird ein Charakter, dessen Grundwollen dem Bestreben des Wahrnehmers zuwiderläuft. Die fragwürdigen Charaktere im Unterhaltungsfilm können nur lächerlich sein, das heißt, ihr Grundwollen muss — am liebsten durch selbstbereitetes Leiden, mindesten aber durch Handlungen oder Worte — straucheln.
Jeder Mensch, den wir treffen, weckt entweder unsere Sympathie oder Skepsis. Wir finden dabei vor allem jene interessant, die unsere Ansichten teilen oder herausfordern. Deshalb sollten Drehbuchautor*innen deutlich Stellung zu ihren Charakteren beziehen: entweder ein grundsätzliches Ja oder ein grundsätzliches Nein.
In Nebensachen kann ein Charakter, den wir bejahen, durchaus fragwürdige Züge haben. Umgekehrt kann ein Charakter, den wir infrage stellen, sympathische Eigenschaften zeigen. Das macht ihn realistischer und glaubwürdiger. Insbesondere können Figuren, die wir verneinen, von anziehenden Eigenschaften profitieren.
Allerdings braucht es Fingerspitzengefühl, um eine grundsätzlich sympathischen Charakter mit fragwürdigen Elementen abzurunden. Denn Spott und Humor sind so wirkungsvoll, dass sie schnell einen attraktiven Grundzug überschatten können. Ein Charakter, der im Kern ansprechend sein soll, darf daher nur in untergeordneten Aspekten fragwürdig erscheinen. Diese Art von Komplexität macht die Figur dann wieder besonders glaubhaft, menschlich und liebenswert. Denn es passiert auch den besten und klügsten von uns, insbesondere wenn sie von lebhaftem Temperament sind, dass sie ungewollt ins Fettnäpfchen treten. Das ist besonders wahrscheinlich, wenn die Emotionen hochkochen, also in jedem guten Film.
Menschliche Stärken können leicht zu Charaktereigenschaften ausgebaut und in die Rolle eines Helden integriert werden. So können Vitalität oder Witz lebendig werden und zum Beispiel der Dummheit ein Schnippchen schlagen, sie verwirren und immer wieder in die Irre führen. Besonders hervorzuheben ist die Schlitzohrigkeit, diese lebendige Intelligenz, die seit jeher mit immer neuen Figuren für höhere und höchste Ziele eingesetzt wird. Der Held dieser Art ist der Schalk, und seine Fähigkeit, seine fröhliche, witzige und tatkräftige Intelligenz für aktuelle und zukünftige menschliche Ziele zu nutzen, bleibt eine spannende Herausforderung für jede zukünftige Komödie.
Der Narr ist jemand, dessen Lebensziel im Grunde Unfug ist, der also eine andere Meinung über den Sinn des Lebens hat als wir. Jeder Narr jagt einem Phantom nach, also einem falschen Ziel. Fast alle Menschen halten sich gegenseitig für Narren.
Was den Narren komisch macht, sind die verschiedenen Arten der Unzulänglichkeit. Zum Beispiel könnten wir einen Geizhals als moralisch fragwürdig bezeichnen, einen abergläubischen Menschen als willenslos und einen Schussel als verstandesschwach.
Aber der Charakter eines Narren besteht nicht nur aus einer einzigen Botschaft. Jemand kann zum Beispiel leicht verrückt sein und sich für etwas Besonderes halten, ist aber gleichzeitig ein guter Freund oder ein schüchterner Liebhaber mit anderen liebenswerten Eigenschaften.
Zur unterhaltsamsten Mischung braucht ein Narr genau die richtige Dosis an Kurzsichtigkeit, um die langfristigen negativen Konsequenzen seines Handelns nicht zu erkennen. Ansonsten kann er durchaus sympathisch und erfolgreich sein. Er wird wahrscheinlich sogar einfallsreich sein, wenn es darum geht, noble Gründe für seine Dummheit zu finden und ihnen schmeichelhafte Namen zu geben. Vollkommene Trottel sind für Autoren eher langweilig. Selbst der Teufel ist ein Narr, aber einer mit vielen Talenten.
Und nicht zu vergessen, die tollste Fähigkeit, die ein Narr haben kann: Selbstironie. Das ist die Fähigkeit, den eigenen Unsinn zu durchschauen und trotzdem weiterzumachen. Wenn so jemand einen Spaten in die Hand gedrückt bekommt, wird er sofort anfangen, sich eine Grube zu graben, während er bei jedem Spatenstich lautstark klagt, dass er sicherlich hineinfallen wird. Und natürlich fällt er am Ende wirklich hinein und kommentiert wahrscheinlich: "Habe ich es euch nicht gesagt?"
Ausbau eines Charakters
Der für eine spannende Handlung nötige Charakter ist an sich eine Form. Diese kann mit allen möglichen Eigenschaften gesättigt werden, die im großen Weltgeschehen entweder als Folge oder als Ursache gesehen werden könnten, die aber in der stilisierten Miniaturwelt des Drehbuches überflüssig erscheinen würden. Genauso wie der Rohstoff einer Geschichte vermittels ihres Themas sortiert und durch passende Elemente ergänzt werden muss, wird der Charakter zunächst durch die übergeordnete Einheit des gesamten Films und dann durch seine persönliche Einheit, also sein Grundwollen bestimmt. Das Begehren der Figur sollte dann so beschaffen sein, dass es wahrscheinlich ist, dass es in einem Kinofilm eine Rolle spielt. An dieses Grundwollen können verwandte Strebungen und Absichten geknüpft werden.
Somit ist die Leerstelle namens „Charakter“ im Gesamtkontext von Anfang an umrissen. Dennoch bleibt dem kreativen Drehbuch genug Freiraum, aus vielen verschiedenen Figuren zu wählen, die möglicherweise dieselbe Aufgabe erfüllen könnten. Wenn es etwa darum geht, irgendeinen gesellschaftlichen Zusammenhang satirisch darzustellen, können wir das z. B. durch einen seiner fragwürdigen Vertreter erreichen – oder vermittels eines gerissenen Schelms. Uns steht dabei eine Gruppe von Handlungen vor Augen, die von einem zentralen Anliegen beherrscht werden. Und nun suchen wir nach interessanten Personen, die in diesem Sinne, aber vielleicht grandioser oder vergnüglicher handeln würden.
Die Reihenfolge, in der sich die Eigenschaften eines Charakters im Film zeigen, ist wichtig. Sein Grundwollen sollte so schnell wie möglich deutlich werden, da alle weiteren Anliegen und Eigenschaften von ihm ihre Glaubwürdigkeit erhalten. Es ist nicht schwer, den Hauptzug eines Charakters durch eine kleine, aber dennoch eindrückliche Geste zu zeigen. Wenn ein vielbeschäftigter Typ bei ihrem ersten Auftritt z. B. einer Person, an der ihm liegt, ein Päckchen mit Proviant mit auf die Reise gibt, dann wissen wir schon, mit wem wir es zu tun kriegen.
Generell sollten sympathische Charaktere von Anfang an bescheiden, authentisch und selbstsicher wirken, während Wackelkandidaten oft durch Überheblichkeit oder schlechte Laune angezeigt werden. Das Grundwollen ist das Fundament eines Charakters und sollte als erstes gezeigt werden. Daran können die wichtigsten weiteren Begehren, insbesondere eine mögliche Schattenseite, angeknüpft werden. Für Nebensächlichkeiten ist später Zeit.
Rollen
Interessante Rollen, die ein Drehbuch Schauspielern zu bieten hat, entstehen fast wie von selbst, wenn ein Charakter zumindest teilweise als vielschichtigen Persönlichkeit dargestellt wird. Es ist die komplexe und doch harmonische Komposition der menschlichen Seele, die eine solche Rolle so dankbar macht. Deshalb sollten wir gute Schauspieler*innen mit der Möglichkeit anlocken, ihr ganzes Können zu zeigen – solange es authentisch wirkt! Wir sollten ihnen so viele Emotionen, so viel Leidenschaft und so viel intensiven Schmerz zur Verfügung stellen, wie wir für eine Geschichte verantworten können. Lassen wir die Charaktere in allen möglichen Kontrasten glänzen und setzen wir sogar die extremsten Eigenschaften nebeneinander!
Selbst wenn Stars einen Film verändern, bleiben diese Kontraste und plötzlichen Stimmungswechsel immer bestehen. Jeder Schauspieler oder jeder Schauspielerin kommt an, wenn er oder sie durch eine Wendung im Plot plötzlich zum anderen Menschen wird.
Die Tiefe einer Filmrolle hängt in erster Linie von dem inneren Konflikt eines Charakters ab. So kann der Darstelle zumindest in zwei verschiedenen Facetten glänzen. Der weitere Reichtum einer Rolle hängt von der Vielfalt und Farbigkeit der Lebensumstände ab, in die der Charakter durch die Handlung geführt wird. Ein Klassiker für eine gute Rolle ist Hamlet. Der Schauspieler darf in allen wichtigen Bereichen menschlicher Aktivität brillieren. Als Sohn und als Aristokrat, als Prinz und als Freund eines einfachen Mannes. Wir erleben ihn in einer Situation, in der sein Vater plötzlich gestorben ist und seine Mutter sich schnell wieder verheiratet hat. Er zeigt unterschiedliches Verhalten gegenüber alten Schulfreunden, die ihn durchschauen wollen, und gegenüber einer Geliebten, bei der er als verrückt erscheinen muss. Er tritt sogar als Förderer von Schauspielern auf, als Kunstliebhaber und Kunstkritiker. Schließlich sehen wir ihn in Selbstreflexion – was zunächst nur durch sein Verhalten angedeutet wurde, wird nun offensichtlich.
Der Maßstab für die Qualität einer Rolle ist, dass das Publikum jedes Mal, wenn der Charakter die Leinwand verlässt, denkt: "Ich wünschte, er käme zurück!" Und wenn er zurückkommt, muss er immer neue, immer spannendere und doch glaubwürdige Facetten seiner Persönlichkeit zeigen.
Charakterensemble
Bevor Drehbuchautor*innen die individuellen Charaktere seines Films entwerfen, erleben sie in ihrer Vorstellung – bewusst oder intuitiv – eine Auferstehung der gesamten Gruppe von Figuren, die den zentralen Konflikt ausfechten. Selbst das brillanteste Talent schafft seine Drehbücher nicht aus dem Nichts. Echte Autor*innen wissen, dass der Kern ihrer Werke entweder ein Stück aus dem realen Leben oder eine Fantasie sind. Die Charaktergruppe, die den zentralen Konflikt eines Drehbuchs ausfechten soll, ist anfangs oft ein Durcheinander, das hauptsächlich durch den Kampf um Existenz und Macht verbunden ist. Es ist die Aufgabe der Drehbuchautor*innen, diese Charaktere zu ordnen. Dies geschieht durch das Entfernen unnötiger Figuren und das Hinzufügen neuer, die den Konflikt steigern und verzweigen.
Jeder äußere Konflikt in einem Film wird zwischen mindestens zwei Gruppen oder Parteien ausgetragen. Jede Figur muss, zumindest unbewusst, zur Lösung des zentralen Konflikts beitragen. Solche Charaktere, die nur für den Hintergrund oder das „Milieu“ existieren, sind nicht effektiv.
Die Anordnung der Parteien ist entscheidend, um das zentrale Thema oder Problem hervorzuheben. Um zum Beispiel, um zu zeigen, dass eine Gruppe die obere Klasse und die andere die ihr unterlegene repräsentiert, müssen repräsentative Charaktere für beide Gruppen in dem Film auftreten. Und sie müssen nicht nur präsent sein; sie müssen aktiv am Konflikt teilnehmen.
In jedem Konflikt, an dem mehrere Parteien beteiligt sind, stechen einzelne Charaktere, meistens die stärksten, als Hauptdarsteller hervor, während die anderen als Nebendarsteller fungieren. Besonders in Unterhaltungsfilmen lassen Autoren gerne sympathische Frauen gegen fragwürdige Männer antreten. Aber das Wichtigste ist, dass die Hauptcharaktere auf beiden Seiten des Kampfes tiefgründige innere Konflikte durchleben.
Standard-Charaktere
Um den Reichtum des Kinos an Schauspielern bestmöglich nutzen zu können, muss der Drehbuchautor eventuell ein ungefähres Bild der typischen Besetzung im Kopf haben. Ein Schauspielensemble wird überall und zu jeder Zeit im Grunde gleich zusammengesetzt sein. Dieses typische Ensemble ist nicht einfach eine sinnlose Tradition, sondern spiegelt die unendlich vielfältige Menschheit in ihren ewigen Haupttypen wider: Mann und Frau, alt und jung, edel und einfach, zivil und kühn, ernst und fröhlich, gut und böse, bewundernswert und fragwürdig – der Patriarch, der alter Schlawiner, der Kauz, der Held, der Galan, der Filou, der Playboy, der Naturbursche, die Matrone, die alte Gaunerin, die Käuzin, die Heldin, die Diva, die Lebensfrohe, das leichte Mädchen und die Jungfrau.
Hinzu kommt eine Reihe von männlichen und weiblichen Spezialschauspielern: Einige charismatische und doppelt so viele Darsteller fragwürdiger Charaktere, einige kräftigere und einige schlankere Darstellerinnen, von denen einige in Massenszenen, andere in gehobene Settings, manche in düstere Keller oder sonnigen Dachgeschossen passe, kurvige Kellnerinnen und ähnliches.
Vor dieser gegebenen Schauspielcrew steht der Drehbuchautor für einen Unterhaltungsfilm wie ein Bildhauer vor seinem wertvollen Marmorblock. Nur ein Amateur würde sich darüber beschweren, an die Größe und Form des rohen Blocks gebunden zu sein. In diesem Block steckt die ganze Vielfalt und das pulsierende Leben der Welt.