Helden-Geschichten spielen in einer Gesellschaft, die davon träumt, dass Gerechtigkeit siegt.
Doch warum lässt die Erfüllung so lange auf sich warten? Warum sind Erfolge so flüchtig? Warum entscheiden sich Menschen nicht für das Offensichtliche, wenn es doch in ihrer Macht liegt?
Die Standardantwort in einer heldischen Gesellschaft lautet: Es gibt einige, die es für alle anderen verderben, weil sie sich weigern, die Bedingungen für das Glück aller zu akzeptieren. Würden sich alle Menschen daran halten, dann wäre das ersehnte Glück erreicht. Doch einige ignorieren die bewährten Regeln und Erfahrungen und verhindern so das große Glück. Diese „Schuldigen“ trennen die Gesellschaft vom Glück. Der erste Schritt zur Erlösung besteht daher darin, sie zu identifizieren.
Die Helden-Geschichte beruht auf dem Gegensatz zwischen Unschuldigen und Schuldigen. Sie bezieht ihre Kraft aus der Annahme, dass im Fall von Enttäuschung und Schmerz die Verantwortlichen gefunden und zur Rechenschaft gezogen werden können. Auch wenn sich Nachteile nie ganz vermeiden lassen, ist es dennoch möglich, ihre Ursachen und die Verantwortlichen zu erkennen. Die Helden-Geschichte gewinnt ihre Bedeutung nicht nur aus dem Traum einer perfekten Welt, sondern auch aus dem Wissen, warum diese Perfektion ausbleibt und wie man das Hindernis überwinden kann. Indem sie die Schuldigen benennt, gibt die Gesellschaft Hoffnung auf Verständnis und Wiedergutmachung.
Der Archetyp der Gegenspieler in einer Helden-Geschichte ist der Teufel und seine Verbündeten. Sie verkörpern die Verantwortung der Schuldigen für den unvollkommenen Zustand der Welt und Gesellschaft.
Der Held übernimmt die Verantwortung, das Ideal zu erreichen, und opfert dafür alles. So verwirklicht er sich selbst. Das Drama des Helden ist ein Drama des Willens: Herausforderungen sind Prüfungen, die er durch Antrieb, Kraft und Selbstkontrolle meistert. Die Umwelt stellt ihm die Materialien zur Verfügung, die er braucht, um an sich selbst zu wachsen. Der Sinn seines Lebens liegt im Streben nach Unschuld.
In einer heldischen Gesellschaft werden die Kräfte der Selbstverwirklichung und des entschlossenen Willens hochgeschätzt. Das Motto lautet: „Wer etwas wirklich will, schafft es auch.“ Entschlossene Entscheidungen werden ermutigt, während Unentschiedenheit und Schwäche kritisiert werden. Erfolg wird mit Anerkennung belohnt.
Heldentum steht nicht für einen bestimmten Inhalt, sondern für ein Leitbild. Der Held ist zentral für die Kultur, und nur der Tod kann das Heldentum beenden – denn selbst nach Erreichen seiner Ziele lebt es in den Nachfolgern weiter.
So bleibt die Gegenwart immer hinter der besseren Zukunft zurück. Und jeder Einzelne ist verantwortlich für das eigene Zurückbleiben.
Helden sind stark, selbst wenn sie gegen persönliche oder körperliche Einschränkungen kämpfen. Sie setzen sich für Gerechtigkeit und soziale Reformen ein und lassen sich von persönlichen Tragödien nicht entmutigen. Es gibt sowohl bekannte als auch verborgene Helden, die darauf warten, vom gesellschaftlichen Bewusstsein anerkannt zu werden.
Der Endsieg des Helden wird oft scheinbar durch die „Nacht der Seele“ – das vermeintliche Scheitern – infrage gestellt. Diese Dunkelheit dient jedoch nur dazu, eine noch größere Anstrengung anzufeuern: das Ziel selbst im Tod zu erreichen. Die Wiederauferstehung versichert uns, dass Schwäche nur eine Prüfung war und dass am Ende alles von der Entschlossenheit des menschlichen Willens abhängt. Die Wiederauferstehung verdankt sich dem reinen Durchhaltewillen, wenn alle Kraftreserven erschöpft sind. Das Schicksal muss jeden, der nicht aufgibt, zum Helden machen.
Heldentum macht alle Probleme des Lebens zu einer Frage des Willens. Der Held trägt die Gesellschaft und strebt nach Bedeutung und Einfluss. Das zeigt sich am deutlichsten, wenn er allein in den Tod geht. Auch wenn er isoliert scheint, ist er dennoch in der Gesellschaft und ihrem Regelwerk verankert, oft widerspruchsfreier als der Durchschnittsbürger. Eine Kultur erkennt in ihm ihren Helden, auch wenn er im Moment noch unverstanden ist – mit der Zeit wird er Anerkennung finden.
Der Anti-Held hingegen gehört nicht zur Gesellschaft oder Kultur. Anfangs mag er mit dem Helden verwechselt und für Eigenschaften wie Mitgefühl, Gemeinschaftssinn und Tapferkeit geschätzt werden. Man glaubt, er handle aus denselben Motiven wie der Held. Doch wenn sich zeigt, dass er kein Held ist, wird er ignoriert, verspottet oder gar verfolgt. Diese Reaktionen ändern sich auch mit der Zeit nicht; der Anti-Held bleibt der Gesellschaft fremd.
Der Anti-Held überzeugt nicht durch heldenhafte Eigenschaften, sondern dadurch, dass er sich selbst treu bleibt – ohne dass die Gesellschaft dies bestimmt. Er ist vor allem gesinnt, ohne den Drang nach Verwirklichung. Er trachtet weder nach Macht noch nach Anerkennung. Sein Befinden verlangt kein besonderes Streben oder Planen; er ist gelassen, nicht weil er reich oder mächtig ist, sondern weil er mit der Welt klarkommt, wie sie ist.
Die Treue, die der Anti-Held zeigt, stützt sich auf nichts Bewährtes oder Anerkanntes. Er ist unverstellt menschlich, ohne Illusionen, ohne das Ziel, moralisch über anderen zu stehen. Sein Wesen ist keine Willensfrage, sondern gründet in der Akzeptanz des Verlusts aller Möglichkeiten – und darin, die eigene Auferstehung zu empfangen, ohne sie zu planen.
Die Gegenspieler in Anti-Helden-Geschichten verkörpern oft drei Formen der Verzweiflung:
Geschäftigkeit, welche den Wink übertönt und daher nie aufhören kann
Maßlosigkeit, entweder als Kontrollwahn oder Kontrollverlust angesichts von Schieflagen
Überschätzung, die behauptet, im Griff zu haben, was zu sich ruft
Diese Verzweiflung zeigt sich entweder in Gestalt von Widersachern, die den Anti-Helden in ihr Lager ziehen wollen, wie die Betriebsnudel, der Ästhet oder der Hipster, oder sie lebt im Inneren des Anti-Helden und sorgt für einen inneren Konflikt. In solchen Fällen kämpft der Anti-Held gegen Machenschaften und Stolz, bis er etwas anderes entdeckt, das ihm mehr entspricht.
Er fühlt sich schließlich ergriffen von einer Kraft, die über ihn hinausgeht – ähnlich einem Verliebten, der von etwas Größerem angezogen wird. Sein Leben wird von einer Inspiration erfüllt, die in allen wichtigen Aspekten seines Tuns und Strebens durchscheint und nichts Menschliches verdrängt. Sein Sehnen richtet sich nicht auf einen bestimmten Genuss, sondern verwirklicht sich im alltäglichen Leben – im Lieben, Arbeiten, Erfahren und Versagen. Die Quelle dieses Strebens ist nicht das eigene Ich, sondern das, was von ihm Besitz ergriffen hat.
Man kann sich nicht auf Überraschungen freuen, weil man sie nicht kommen sieht. Trotzdem müssen sie für uns Sinn ergeben, wenn sie geschehen.
Da Überraschungen nicht vorhersehbar sind, kann man sie auch nicht planen – nur indirekt vorbereiten. Das bedeutet, man verfolgt ein Ziel und rechnet mit einem bestimmten Ergebnis. Doch manchmal kommt dann, überraschend, etwas ganz anderes dabei heraus.
Der Unterschied zwischen Held und Anti-Held liegt darin, wie sie mit solchen Überraschungen umgehen. Der Held bleibt bei seinem ursprünglichen Ziel. Der Anti-Held jedoch lässt sich von der Überraschung beeinflussen, fast so, als wäre diese Überraschung sein eigentliches Ziel gewesen.
Der Anti-Held verfolgt also ein scheinbares Ziel. In Wirklichkeit führt ihn dieses Ziel zu etwas Unerwartetem, das sich als das zeigt, was er wirklich gebraucht hat.