Ein mehrjähriger Lehrgang
Im Rhetorikunterricht der griechischen und römischen Antike ging es um die Entwicklung der Schreib- und Redefähigkeit des Rhetorik-Schülers. Theorie und Praxis waren dabei eng aufeinander bezogen. Das Erwerben und Üben unterschiedlicher Redetypen stand im Zentrum des Unterrichts. Regelwissen wurde vermittelt und erprobt.
Die Rhetorikschüler in römischer Zeit absolvierten einen mehrjährigen Lehrgang. Begonnen wurde mit Übungen im Aufsatzschreiben. Darauf folgte die Theorievermittlung. Die Theorie bestand hauptsächlich darin, Wissen und Regeln in der Stilistik und Argumentation zu vermitteln. Zur Veranschaulichung der Theorie dienten berühmte Reden, die gemeinsam analysiert und diskutiert wurden. Diese Reden waren den Schülern Vorbild und Muster. Danach stellten die Schüler selbst Reden zu ganz unterschiedlichen Themen und Anlässen her und sie lernten auch, sie wirkungsvoll vorzutragen. Viele Jahrhunderte lang galt Rhetorik-Unterricht in der Antike als eine Disziplin, in der jeder «freie Mann» (Seneca) geschult sein musste.
Übersicht der Themenbereiche des antiken Rhetorik-Unterrichts
Themen-Felder des antiken Rhetorikunterrichts
Rhetorik als Theorie und Praxis des guten Schreibens und wirkungsvollen Redeauftritts beschäftigte sich in der Antike mit unterschiedlichen Themenfeldern. Entlang der Phasen der Redeproduktion - dem Konzipieren, dem Schreiben und dem Vortragen einer Rede – wurde der Rhetorikunterricht thematisch gegliedert. So enthielt der Rhetorik-Unterricht in der Regel folgende Lernbereiche: a) Aufgaben und Ziele des Redners, b) Redegattungen, c) Redeteile, d) Argumentationslehre, e) Stiltheorie und sprachliche Mittel sowie f) Erinnerungs- und Vortragstechnik. Zuweilen wurden diese unterschiedlichen Felder des Rhetorik-Unterrichts eingebettet in g) übergeordnete ethische Überlegungen. Denn der Redeunterricht sollte, zumindest theoretisch und besonders in römischer Zeit, auch dazu beitragen, ein «guter Mann» (lat. vir bonus) zu werden.
Die Aktualität des antiken Rhetorikunterrichts
Die theoretischen Ausführungen zur Redekunst, wie sie in der Antike entwickelt worden sind, scheinen auf den ersten Blick sehr weit weg von unserer Zeit zu sein. Dennoch lohnt sich ein genauerer Blick in die Themen, die ein Rhetorikschüler behandelte. Es lassen sich daraus für heutige Schreib- und Redeaufgaben wichtige Hinweise erhalten, insbesondere für das sachbezogene und argumentierende Schreiben und Reden. Zudem macht der antike Rhetorikunterricht deutlich, dass grössere Schreib- und Redeaufgaben in unterschiedlichen Etappen entstehen. Wer sich dieser Entstehungs-Phasen bewusst ist, plant, realisiert und überarbeitet eigene Texte bewusster und leichter. Aus diesem Grund werden die oben genannten Themenfelder des antiken Rhetorikunterrichts näher vorgestellt, wobei den berühmt gewordenen 5 zentralen Arbeitsschritten eines Redners besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird.
Allgemeine Aufgaben und Ziele des Redners
Wie schreibe und präsentiere ich eine Rede? Die hellenistische und lateinische Rhetorikschulung rät: Geh schrittweise vor und verfolge dabei einen Plan. Zur ersten Aufgabe des Redners gehört es, sich grundsätzlich über die Wirkungsabsicht und die zu wählenden Überzeugungs-Strategien im Klaren zu sein: Wie will ich überzeugen? Auf welchen Ebenen will ich meine Zuhörer erreichen, um mein Anliegen stark zu machen?
Intellektualität und Emotionalität einer Rede
Will ich stärker die Affekte meines Publikums, also deren Gefühle und Leidenschaften, ansprechen oder will ich bevorzugt deren Intellekt anregen? Denn auf beide Arten, sowohl durch den Intellekt als auch die Emotionen, lassen sich Menschen überzeugen. Wenn ein Redner die intellektuellen Seiten der Zuhörer ansprechen will, muss er belehrend (lat. docere) und beweisend (lat. probare) vorgehen, denn er will ja mit Sachlichkeit und Logik Einsichten vermitteln. Wenn ein Redner die emotionalen Seiten der Zuhörer ansprechen will, kann er damit spielen, Gefühlszustände zu erregen oder wieder zu besänftigen. Er kann dann bewegend (lat. movere) und aufstachelnd (lat. concitare) oder gewinnend (lat. conciliare) und erfreuend (lat. delectare) agieren. Dabei ist das Spektrum der menschlichen Affekte, die gezielt bewirtschaftet werden können, sehr gross: von A wie Abscheu über B wie Belustigung bis Z wie Zorn.
In einer gekonnten Rede wird der Mensch als intellektuelles und zugleich als emotionales Wesen angesprochen. Darin war sich die Rhetorik-Tradition stets einig. Uneinigkeit herrschte jedoch in der Frage, in welchem Verhältnis die beiden unterschiedlichen Strategien der Überzeugung zueinander stehen sollen. Die einen gaben dem Bewirtschaften der leidenschaftlich-affektiven Seite der Zuhörer den Vorzug, während andere das Ansprechen der intellektuell-rationalen Kräfte favorisierten.
Aufgabe 22
Haben Sie in Ihrem Leben selbst schon eine Rede gehalten? Wann, in welchem Zusammenhang, zu welchem Thema und mit welchem Ziel haben sie zu einem Publikum gesprochen?
Haben Sie Vorträge gehalten, Präsentationen gemacht, Sitzungen moderiert? Machten Sie dies gerne? Wie fühlten Sie sich dabei?
Welches Wissen und welche Fähigkeiten haben Sie bei Ihrem Reden vor anderen Leuten genutzt?
Welche Kenntnisse und Fähigkeiten haben Ihnen gefehlt oder würden Sie gerne noch besser können?
Vertiefungsaufgabe
Entwerfen Sie eine Mini-Rede zu einem Thema, das mit der Schule zu tun hat. Nehmen Sie klar Stellung für oder gegen eine umstrittene Frage und versuchen Sie dabei gezielt die Emotionen des Publikums anzusprechen.
Beispiele:
Soll die Mensa in Zukunft kein Fleisch mehr anbieten?
Soll in jedem Fach nur noch eine einzige, dafür grosse Prüfung am Ende des Semesters stattfinden?
Soll das Smartphone auf dem Schulareal verboten werden?
Sollen Schülerinnen und Schüler schlechte Lehrpersonen entlassen dürfen?
Soll die Schule störende Schülerinnen und Schüler «entlassen» dürfen?
Sollen Schul- und Maturareisen mit dem Flugzeug verboten werden?
Merke: Rhetorik war in der Antike ein Unterrichtsfach, das sich mit dem Konzipieren, dem Schreiben und dem Halten einer Rede beschäftigte.