Klärung der Redegattung
Aristoteles unterschied drei grundlegende Typen von Reden: die Beratungsrede, die Gerichtsrede und die Lobrede. Lobreden werden bei festlichen Anlässen gehalten. Beratungsreden finden bei Versammlungen statt. Sie dienen der Urteilsfindung und nehmen Stellung zu einer umstrittenen Sache oder Frage. Sie sind Teil politischer oder ausserpolitischer Aushandlungsprozesse. Die dritte Redegattung nach Aristoteles ist die Gerichtsrede. Sie wirft den Blick in die Vergangenheit und dient der Aufklärung eines Verbrechens. Gerichtsreden nehmen zudem Stellung für oder gegen den «Angeklagten».
Guttenberg steht «vor Gericht»
Die Reden der Aktuellen Stunde zur Affäre Guttenberg haben den Charakter einer Gerichtsrede, in der jemand eines Verbrechens bezichtigt wird und nun von Redenden angeklagt oder verteidigt wird. Es geht um die öffentliche Klärung und Behandlung eines möglicherweise begangenen Fehlverhaltens. Die Reden der Bundestagsabgeordneten klagen entweder den deutschen Verteidigungs-Minister Karl-Theodor zu Guttenberg und seine Taten an oder sie verteidigen ihn. Die Reden drehen sich um die Frage, was vorgefallen ist, was der Verteidigungsminister K-Th. zu Guttenberg getan hat und wie seine Handlungen moralisch zu beurteilen ist. Dies entspricht nach Aristoteles den Kernmerkmalen einer Gerichtsrede: Vergangenheitsorientierung sowie Klärung und Beurteilung einer moralisch problematischen Handlung. In einem untergeordneten Sinn tragen die Reden zur Affäre Guttenberg, obwohl sie von Parlamentariern im deutschen Parlament und nicht vor Gericht gehalten werden, Züge einer Beratungsrede, in der argumentativ eine umstrittene Sache, die für die Gegenwart und Zukunft relevant ist, geklärt werden soll. Dann geht es um die Frage: Soll Guttenberg im Amt bleiben? Oder muss er zurücktreten? Kann jemand in Deutschland Minister sein, der in seiner Dissertation betrogen hat.
Dies ist den bisherigen Reden von Oppermann und Friedrich gut anzumerken. Sie wirken wie Plädoyers vor Gericht. Sie klagen an oder verteidigen.
Wer ist in «das Gericht»?
Die Guttenberg-Debatte erinnert an eine Gerichtsrede in der antiken athenischen Bürgerversammlung. Eine Straftat und ein umstrittener Sachverhalt sollen öffentlich verhandelt und geklärt werden. Nicht alle dürfen das Wort ergreifen, sondern nur ein ausgewählter Personenkreis, die Parlamentarierinnen und Parlamentarier des deutschen Bundestages. Dieser Personenkreis bildet sowohl die Gruppe der Zuhörer als auch diejenige der Redner. Die Debatte wird nach festgelegten Regeln durchgeführt. Eine Rede steht nicht isoliert da, sondern ist einbettet in einen Rede-Wettkampf. Jeder Redner steht in Konkurrenz zu anderen Rednern.
Im Unterschied zur athenischen Bürgerversammlung findet die Debatte zur Affäre Guttenberg nicht in einer Versammlungsdemokratie, sondern in einer parlamentarischen Demokratie einer Mediengesellschaft des 21. Jahrhunderts statt. Wenige sind im Parlament vor Ort auf den Zuschauerrängen direkt anwesend. Zahlreiche Medienvertreter verfolgen das Rededuell, das öffentliche Fernsehen überträgt die Reden live am Fernsehen, wovor sich ein weiteres und weitaus grösseres Publikum versammelt hat.
So überrascht es nicht, dass die Redner ihr Wort an unterschiedliche Zuhörerinnen und Zuhörer gleichzeitig richten: Sie reden zu Karl-Theodor zu Guttenberg. Sie reden zu den versammelten Parlamentariern, die in regierende und in oppositionelle Fraktionen geteilt sind. Sie reden zu Angela Merkel, der regierungsverantwortlichen Kanzlerin. Über dieses politische Personal hinaus richten die Redenden ihr Wort auch an die anwesenden Medien und die live zugeschalteten Menschen, die vor dem Fernseher sitzen oder sich später in einem Medienbericht mit der Debatte beschäftigen werden. Parlamentarier müssen sich in einer Demokratie einer Wahl stellen. Diese Aktuelle Stunde bietet eine tolle Gelegenheit, sich wirkungsvoll zu inszenieren und sich vor den Wählerinnen und Wählern rhetorisch auszuzeichnen.
Dies ist bei der folgenden Rede von Jürgen Trittin, der Replik auf Friedrichs Rede, besonders gut spürbar.
Aufgabe 7
a) Ab 0:50 bis 3:30 tritt Trittin als Ankläger auf und fordert am Ende der Rede Guttenbergs Entlassung. Machen Sie seinen Gedankengang klar, der zu dieser Schlussfolgerung führt. Beginnen Sie mit der Behauptung Guttenbergs, dass er "zu keinem Zeitpunkt bewusst getäuscht oder bewusst die Urheberschaft nicht kenntlich gemacht" habe.
b) Warum ist laut Trittin das Plagiieren (= Anfertigen eines Plagiats) keine Bagatelle? (ab Minute 4:50-5:30).
c) Betrachten wir die Reden von Friedrich und Trittin als Teil eines Rhetorik-Wettkampfes. Wem gelingt es, Ihrer Meinung nach, besser, Plausibilität herzustellen? Welches Argument bleibt Ihnen besonders in Erinnerung? Weshalb hat Sie dieser Punkt überzeugt?