Die konkrete Umsetzung einer Redeabsicht hatte fünf zentrale Arbeitsschritte zu berücksichtigen. Sie wurden auch die fünf Aufgaben eines Redners (lat. officia oratoris) bezeichnet. Als Vorbild für diese fünf Produktion-Stadien (lat. partes artis/partes rhetorices) einer Rede diente die Gerichtsrede, in der es um eine plausible Rekonstruktion eines Verbrechens und die argumentierende Anklage oder Verteidigung eines Angeklagten ging. Die Gerichtsrede war in der Antike das «Hauptparadigma der Rhetorik» (Ueding 2000: 16). Die Gerichtsrede war das vorbildhafte Muster und damit der Orientierungspunkt für das Nachdenken über die Redekunst und ihre unterschiedlichen Redetypen. Die Gerichtsrede sollte wie folgt hergestellt werden.
Die ersten drei Arbeitsschritte - inventio, dispositio und elocutio - betreffen die Konzeption und das Schreiben der Rede, während die nachfolgenden Schritte - memoria und actio/pronuntatio - den Vortrag der Rede betreffen. Die fünf notwendigen Schritte beim Herstellen einer Rede beinhalten sowohl Aspekte der Textproduktion als auch solche der Textperformanz. Die ersten drei Arbeitsschritte sind ineinandergreifende Arbeitsprozesse. Dessen war sich die antike Rhetorik durchaus bewusst.
1. Arbeitsschritt: inventio
Mit Blick auf die die fünf zentralen Aufgaben eines Redners (inventio bis actio) ist das Erstellen der Argumentation und das Festlegen der Überzeugungsstrategien eine zentrale Aufgabe der inventio. Das «Erfinden» oder «Auffinden» der Gedanken ist damit das erste Produktionsstadium einer Rede. In der dispositio, dem zweiten Herstellungsschritt, geht es dann um die wirkungsvollste Anordnung der gefundenen und entwickelten Gedanken und Argumente.
2. Arbeitsschritt: dispositio - Die Frage der Anordnung der Argumente
Das Ziel der disposito besteht darin, dass die in der inventio entwickelte Argumentation als sinnvoll, schlüssig und plausibel wahrgenommen wird. In welcher Reihenfolge, die gefundenen Gedanken und Argumente der dispositio angeordnet und präsentiert werden, darüber gibt es keine einheitliche Meinung. Es gibt unterschiedliche Muster, die sich herausgebildet haben und zum Ziel führen können. Welches Muster ich verwende, ist abhängig von der Redesituation, meinen persönlichen Vorlieben und meiner übergeordneten Redeabsicht.
Alle Rednerinnen und Redner müssen sich die Frage stellen: Welche Argumente sind wichtig, welche weniger wichtig, welche vernachlässigbar? Darüber hinaus stellt sich die Frage: In welcher Reihenfolge soll ich die einzelnen Argumentationsschritte vornehmen? In welche Anordnung möchte ich meine Argumente bringen? Welches ist also das für meine Zwecke beste Muster?
Argumentationsmuster
Steigerungskette: Die Anordnung der Argumente als Steigerungskette, in der zunächst weniger bedeutsame Argumente präsentiert werden, danach die wichtigeren und am Schluss die wichtigsten. Eine Variante besteht darin, dass mit wichtigen Argumenten begonnen wird, danach folgen weniger wichtige, am Schluss wird ein Höhepunkt mit den wichtigsten Argumenten gesetzt.
Abnahme der Argumentationsstärke: Begonnen wird mit dem Wichtigsten, dann folgt das weniger Relevante. Diese Anordnung ist in einer Rede oder einer Erörterung unüblich. In journalistischen Texten jedoch werden die Kernaussagen in der Regel gleich zu Beginn präsentiert.
Akzentuierung: Die Präsentation der Argumente arbeitet mit gezielter Akzentsetzung und Wiederholung. Die Gedanken werden so aufgebaut, dass besonders einprägsame Aussagen und Botschaften deutlich hervorgehoben und evtl. mehrfach wiederholt herausgestrichen werden.
Dialektischer Aufbau: Das Redeziel wird nicht direkt angesteuert, sondern es werden (mindestens) zwei Standpunkte geschildert und miteinander verglichen. Am Schluss wird ein Urteil oder eine Synthese der Standpunkte als eigene Position dargebracht. Varianten des dialektischen Aufbaus: A) Läuft die Rede auf eine Synthese unterschiedlicher Positionen zu, dann können daraus weiterführende Schlussfolgerungen vorgenommen werden, müssen aber nicht. B) Häufig jedoch wird bei der Betrachtung unterschiedlicher Standpunkte einer der Standpunkte favorisiert und zu seinen Gunsten geurteilt, während die anderen Standpunkte letztlich angegriffen oder als weniger bedeutend hingestellt werden. C) Es kann sein, dass keiner der vorgetragenen und diskutierten Standpunkte überzeugt und darum am Schluss – als Höhepunkt - eine neue, eigene Position oder Lösung vorgeschlagen wird.
Ja-Aber-Prinzip: Das Prinzip arbeitet wie die dialektische Disposition mit mehr als einer Position und den zugehörigen Argumenten. Eine Gegenposition wird dazu genutzt, die eigene Position besser hervorzuheben. Aus taktischen Gründen wird eine Gegenposition und ihre Argumentation geschildert, um den eigenen Standpunkt davon bewusst und kontrastierend abzuheben. Das ergibt eine antithetische Struktur bei der sprachlich häufig mit «aber»-Konstruktionen gearbeitet wird.
Offensive/Angriff: Dieses Dispositionsschema gleicht dem «Ja-Aber-Prinzip». Eine Gegenposition wird unmittelbar angegriffen und argumentativ aus dem Weg geräumt. Dies schafft quasi Platz für die eigene Position, die danach vorgebracht wird.
3. Arbeitsschritt: elocutio - Sprachliche Ausgestaltung bzw. Verschriftlichung der Rede
Die antike, griechische und römische Rhetorik-Theorie hat die sprachlichen Aspekte der Rhetorik ungleich weniger beachtet als die Fragen nach den Redegattungen, der Redekonzeption und der Argumentation. Eine Vorstellung war dabei leitend: Die Sprache ist wie ein Gewand, das über den Körper der inventio und elocutio gelegt ist. Die Sprache (lat. verba) bildet nicht den Kern einer Sache (lat. res), sondern ist quasi etwas Sekundäres und verdient darum nicht dieselbe Aufmerksamkeit wie der Redeinhalt. Fragen der angemessenen Ausdrucksweise und des wirkungsvollen Stils (elocutio) wurden in den Rhetorik-Theorien der Antike durchaus behandelt und gelehrt. Sie wurden jedoch in den Lehrbüchern als weniger wichtig eingeschätzt als die Fragen, die sich um das Finden der Gedanken und der Argumente (inventio) und deren Anordnung (dispositio) drehten.
In der Praxis hat die «elocutio», haben Fragen der sprachlichen Gestaltung einer Rede, wohl immer grösste Beachtung gefunden. Wie kann es mir gelingen, die entwickelten (inventio) und geordneten (dispositio) Gedanken sprachlich verständlich oder besonders wirkungsvoll auszudrücken? Wie kann ich meine Anliegen sprachlich optimal und überzeugend rüberbringen? Diese Fragen waren stets Kernfragen jedes Redners. Und sie sind es bis heute. Und sie betreffen die sprachliche Realisierung dessen, was ich ausdrücken will. Darum wurden die vorhandenen theoretischen Ausführungen zur «elocutio» oft besonders aufmerksam studiert und bildeten für viele Redner das heimliche Herzstück ihrer rhetorischen Ausbildung.
Stil-Lagen/Stilgattungen: Wie formuliere ich am wirkungsvollsten, wenn ich eine Rede halte? Welche Sprache wähle ich? Rede ich wie die Menschen auf der Strasse (= schlichter oder niederer Stil) oder gehoben und kunstvoll wie z.B. eine Figur in einer griechischen Tragödie (= hoher Stil)? Oder wähle ich etwas dazwischen? Dann wähle ich einen mittleren Stil: Nicht zu nah am Plauderton der Umgangssprache, aber auch nicht in einer «hochgestochenen», besonders kunstvoll wirkenden Sprache.
Zusammenhang zwischen Stil-Lage und rhetorischen Stilmitteln
Aristoteles sprach noch nicht von drei «Stilen», sondern riet, die Rede in einer «mittleren Lage» zwischen Schlichtheit und Prunk herzustellen. Wobei unter «Prunk» oder «Pracht» die sprachliche Eleganz gemeint sein kann oder die Häufigkeit, mit der in der Rede mit rhetorischen Stilmitteln gearbeitet wird. Cicero meinte, je mehr sprachlicher Schmuck eine Rede enthalte, desto gehobener wirke ihr Stil. Diese Aussage zeigt an, dass ein mögliches Kriterium zur Bestimmung eines schlichten, mittleren oder hohen Stils die Verwendung des sprachlichen «Schmucks» (lat. ornatus) ist. Welchen Stil ich nun für meine Rede wähle und wieviel sprachlichen Schmuck ich darin verwenden möchte, ist abhängig vom Redeanlass, dem Redeziel und dem Publikum, zu dem ich spreche. Ob ich an einem Geburtstagsfest spreche, bei einer Beerdigung, an einem wissenschaftlichen Kongress oder innerhalb einer politischen Debatte hat einen grossen Einfluss darauf, wie ich formuliere und welche generelle Stil-Lage ich wähle.
Tugenden der sprachlichen Darstellung
Unabhängig von den Stilgattungen gibt es Güte- oder Qualitätskriterien im Bereich des Sprachlichen, die alle Reden erfüllen sollten. Die sprachliche Darstellung der Gedanken, mit der sich die «elocutio» beschäftigt, soll sprachlich korrekt (Sprachrichtigkeit), klar (Klarheit, Deutlichkeit der Gedanken) sowie angemessen (Angemessenheit) sein und der Redner soll dabei mit dem Redeschmuck gekonnt umgehen.
Korrektheit: Eine Rede muss sprachlich korrekt sein. Im Blick ist hier insbesondere die grammatikalische Korrektheit. Klarheit: Eine Rede soll gut verständlich sein. Dafür braucht es eine klare Darstellung der Gedanken. Dies gilt auch für die Verwendung des Redeschmucks, denn der Redeschmuck soll nicht auf Kosten der Verständlichkeit eingesetzt werden. Der Redeschmuck, z.B. rhetorische Figuren, müssen sowohl der Verständlichkeit als auch der sprachlichen Eleganz dienen.
Angemessenheit: Mit «lat. aptum» oder «Angemessenheit» ist gemeint, dass eine Rede auf sprachlicher Ebene dann überzeugend ist, wenn alle Redeteile mit Blick auf das Redeziel angemessen versprachlicht sind. Dadurch wird das Kriterium der «Angemessenheit» zu einer Aufforderung zur Text-Überwachung bzw. eine Anleitung zur Text-Überarbeitung. Das Angemessenheits-Kriterium befragt den Sprachgebrauch vom einzelnen Wort über den Satz zu ganzen Textpassagen bis hin zum ganzen Text. Ist an allen Stellen der treffende Ausdruck gefunden? Treffen alle meine Formulierungen, auch diejenigen, in denen ich mit Redeschmuck arbeite, die intendierte «Sache»? Stehen alle Sätze und Textteile im Dienst meiner Argumentation? Ist meine Rede als Ganzes der Redesituation angemessen und überzeugend formuliert?
Redeschmuck (ornatus) und rhetorische Stilmittel
Die Rhetorik hat im Verlaufe ihre Geschichte viele Kataloge hervorgebracht, in denen rhetorische Stilmittel, auch rhetorische Figuren oder Redeschmuck genannt, versammelt und beispielhaft verdeutlicht werden. In vielen Deutsch-Lehrmitteln finden sich auch heute noch solche Listen von rhetorischen Figuren. Dann werden meist alphabetisch geordnet ganz unterschiedliche sprachliche Stilfiguren vorgestellt und kurz erklärt, z.B. von A wie Allegorie oder Alliteration bis Z wie Zeugma oder Zynismus. Diese Listen täuschen darüber hinweg, dass es schon in der Antike Auseinandersetzungen darüber gab, wie die rhetorischen Figuren zu definieren und zu klassifizieren sind. Darüber hinaus herrschte auch immer wieder Uneinigkeit darüber, ob es klug ist, eine Vielzahl von rhetorischen Stilmitteln auswendig zu lernen, zu üben und anzuwenden.
Die rhetorischen Stillmittel werden im nächsten Kapitel ausführlicher behandelt.
4. Arbeitsschritt: Memoria – Das Erinnern der Gedanken
Nach dem Verfassen des Redetextes geht es um Fragen, wie die Rede am wirkungsvollsten vor Publikum vorgetragen werden kann. In der klassischen Rhetorik betreffen diese Hausforderung das 4. und 5. Stadium der Redeherstellung, die «memoria» und die «actio/pronuntatio».
Das 4. Stadium der Redeherstellung, die «memoria», beschäftigt sich mit Erinnerungstechniken. In der Antike werden Reden in der Regel auswendig vorgetragen. Papier als Schreibunterlage fehlt. Die vorhandenen Wachstäfelchen eignen sich nicht als Erinnerungsstütze für längere Reden. Die weiteren Schreibunterlagen (z.B. Pergament) sind zu kostbar oder unpraktisch. Sich einen Redetext gut einprägen zu können, ist darum zentral.
Erinnerungs-Techniken
Die Erinnerungs-Techniken, welche die antike Rhetorik propagiert, versuchen den Redetext mit Hilfe von Bildern zu erinnern. Zum Beispiel wird die Rede als ein Haus vorgestellt, in das ich nun eintrete, durch die verschiedenen Räumlichkeiten gehe und dort auf Gegenstände treffe. Die einzelnen Räume markieren zentrale Teile meiner Rede, die Gegenstände konkrete Aussagen und Argumente meiner Rede. Dieser Visualisierungsansatz findet sich auch heute noch in Rhetorik-Ratgebern. Gleichzeitig schafft er auch Probleme. Bei einer umfangreicheren Rede die einzelnen Gedankenschritte und Passagen zuerst als Gedächtnisbilder zu memorieren, die während des Vortrages in konkrete Sätze zurückbuchstabiert werden müssen, ist ein aufwändiges und zuweilen verwirrliches Verfahren. Darum gab es in der Antike auch die Empfehlung, einfach den ganzen Redetext auswendig zu lernen. Oder zumindest das gedankliche Gerüst und die zentralen gedanklichen Zusammenhänge zu erinnern. Dies wird auch heute noch empfohlen, wenn das Arbeiten mit papierenen oder digitalen «Notiz-Zetteln», auf denen zentrale Aussagen geordnet festgehalten sind, als Gedankenstütze empfohlen wird.
Abb. 7: «Der Redner» mit nichts in der Hand, etruskische Bronzestatue, 1./2. Jh. v. Chr; Quelle: siehe Abbildungs-verzeichnis
«Der Redner», etruskische Bronzestatue, 1./2. Jh.v.Chr, Fund: 16. Jh. Dargestellt ist Aule Meteli. Er trägt eine Tunika, über die eine kurze Toga geworfen ist, zudem Schnürstiefel, die römische Senatoren tragen (Archäologisches Nationalmuseum Florenz). Die Statue wurde «Arringatore» genannt, ital. für «Der Redner», denn Aule Meteli scheint gerade dabei, das Wort an eine Versammlung zu richten. Er steht, wie bei Reden in der Antike üblich, frei im Raum und nicht hinter einem Rednerpult. Der Redner hält kein Manuskript in den Händen, denn Reden werden auswendig vorgetragen.
5. Arbeitsschritt: actio/pronuntatio (Der Redevortrag)
Grundsätzlich behandelt die Rhetorik in der «actio» oder «pronuntatio» Fragen der Körpersprache und der Stimme: Die Bewegung des Körpers, Gesten, Gebärden, Gesichtsbewegung, Mimik, Mienenspiel. Im stimmlichen Bereich äussert man sich zum Stimmumfang, zur Festigkeit der Stimme und zu ihrer Geschmeidigkeit. Der Redevortrag bildet in der antiken Rhetorik die letzte Aufgabe eines Redners. Für Cicero und viele andere Rhetoriker der Antike ist das wirkungsvolle Vortragen des erarbeiteten Redetextes absolut zentral. Denn was nützt eine gut ausgearbeitet und formulierte Rede, wenn es mir als Redner durch meine Vortragsweise nicht gelingt, das Publikum zu erreichen und zu beeindrucken?
Die Kunst des Redevortrages
Die Kunst des Redevortrages besteht kurz gefasst darin, die Körpersprache und die Stimme so einzusetzen, dass es den Redeinhalt, den ich vermitteln will, unterstützt. Als Person soll ich "echt" wirken und innerlich an der Sache beteiligt.
Die Antike ist sich nicht einig, ob ein Redner die Kunst des Redevortrages überhaupt systematisch erlernen kann. Die Vortragskunst ist möglicherweise eine Frage des Talents und der Erfahrung. Es gibt rhetorische Lehrbücher, die dem Redevortrag sehr viel Raum einräumen und z.B. beim Aspekt des Körpersprachlichen detailliert beschreiben, was die rechte und die linke Hand beim Redevortrag tun soll, wie die Augen bewegt werden sollen und ob und wie stark der Redner sich im Raum bewegen darf. Andere Lehrbücher behandeln die «actio» nur rudimentär. In römischer Zeit gibt es zuweilen die Redepraxis, den Redetext theatralisch vorzutragen und eine Sprechweise zu wählen, die sich an den deklamierenden Schauspielern des Theaters orientiert. Oft wird dies in den Lehrbüchern jedoch als künstlich verurteilt und eine Vortragsweise empfohlen, die natürlich wirkt.
Merke: Es gibt fünf Arbeitsschritte beim Erstellen einer Rede: Erfinden (inventio) und Gliedern (dispositio) der Gedanken und Argumente, Formulieren (elocutio), Memorieren (memoria), Vortragen (actio).