Die drei Redegattungen (lat. genera orationis)
Grundsätzlich wurden seit dem griechischen Philosophen Aristoteles drei Rede-Gattungen unterschieden: 1. Die Gerichtsrede, 2. die beratende Rede und 3. die festliche Rede. Wie kommt Aristoteles zu diesen drei grundsätzlichen Redetypen? Aristoteles untersucht in seinen Überlegungen zur Rhetorik unterschiedliche Reden und nimmt eine Kategorisierung von Redetypen vor. Bei der Kategorisierung setzt er bei den Zuhörern an. Zunächst stellt er fest, dass wir Reden zuhören, um ein Urteil über eine umstrittene Frage zu fällen oder wir hören Reden zu, um uns an ihnen zu erfreuen.
Genuss und Urteilsfindung sind damit die möglichen Hauptwirkungen bzw. Hauptfunktionen von Reden. Von da her unterscheidet Aristoteles drei Redegattungen (lat. genera orationis). Die ersten beiden Redegattungen, die Beratungsrede und die Gerichtsrede, dienen der Klärung und Beurteilung umstrittener Sachverhalte. Sie sind politischer Natur. Sie betreffen gemeinsame, öffentliche Angelegenheiten. In der dritten Redegattung, der Lob- oder Festrede, steht nicht die Urteilsfindung, sondern der Genuss im Vordergrund. Reden dieser Gattung können sowohl im öffentlichen wie auch im privaten Rahmen stattfinden.
Übersicht der drei Redegattungen nach Aristoteles
a) Beratungsrede (lat. genus deliberativum): Reden dieser Kategorie werden im Rahmen des Politischen gehalten, bei öffentlichen Versammlungen und Beratungen. Sie dienen der Urteilsfindung und wirken auf die Zukunft der Gemeinschaft ein.
b) Gerichtsrede (lat. genus iudiciale): Während Gerichtsprozessen gehaltene Reden. Ein mögliches Verbrechen soll aufgeklärt und beurteilt werden. Nicht wie in der Beratungsrede die gemeinsame Zukunft, sondern die Aufklärung von Vergangenem steht in einer Gerichtsrede im Zentrum der Aufmerksamkeit.
c) Lobrede, Festrede (lat. genus demonstrativum): Reden, die im Rahmen von privaten oder öffentlichen Feierlichkeiten gehalten werden. Sie zielen auf den Genuss der Anwesenden ab und sind der Gegenwart verpflichtet.
Vorbild Gerichtsrede
Die Gerichtsrede war in der Antike das «Hauptparadigma der Rhetorik» (Ueding 2000: 16). Die Gerichtsrede war das vorbildhafte Muster und damit der Orientierungspunkt für das Nachdenken über die Redekunst und ihre unterschiedlichen Redetypen. Die Gerichtsrede soll nach Aristoteles folgendem, vierteiligem Schema entsprechen: Einleitung, Schilderung des Sachverhalts, Begründung/Argumentation, Schluss.
1) Einleitung: Die Einleitung dient dazu, einen Kontakt mit dem Publikum herzustellen und zu gestalten. Die Zuhörer bringen in der Regel eine Einstellung zum Sachverhalt mit, über den der Redner sprechen wird. Darum muss der Redner die mögliche Haltung des Publikums zum Redethema antizipieren. Wenn das Interesse am «Fall» oder am Thema nicht besonders gross sein wird, ist es die Aufgabe der Einleitung, die Aufmerksamkeit der Zuhörer zu gewinnen. Liegt ein schwierig zu beurteilender Fall vor, dann soll die Lernbereitschaft des Publikums aktiviert werden, indem der Redner verkündet und verspricht, Licht in eine dunkle Angelegenheit zu bringen. Scheint der Fall besonders klar zu sein oder umgekehrt besonders verworren, dann soll der Redner in seiner Einleitung die Zuhörer von Beginn weg für sich und seine Sache einzunehmen versuchen. Dies kann durch Loben erreicht werden, z.B. durch Selbst-Lob des Redners oder Lob des Publikums, des eigenen Standpunktes. Die sofortige Aufmerksamkeit des Publikums kann auch durch das Angreifen und Lächerlich-Machen des Vorredners oder der Gegenpartei gewonnen werden.
2) Schilderung des Sachverhaltes: Der Fall, der zur Debatte steht, soll nun direkt angesprochen und in einer Weise geschildert bzw. erzählt werden, die den Zielen des Redners dient. «Im gewissen Sinne geht es um ein ‘subjektives’ Darstellen der ‘objektiven’ Aspekte des Falles.» (Göttert 2009:33). Kürze, Klarheit und Glaubwürdigkeit sind die drei Tugenden der Darstellung eines Sachverhaltes. Kürze (lat. narratio brevis): Das Wesentliche eines Falles soll geschildert werden. Klarheit (lat. narratio aperta): Die gedankliche Klarheit zeigt sich in der geschickten Anordnung und Verbindung der Teile und Aspekte des geschilderten Falles. Glaubwürdigkeit (lat. narratio probabilis): Der Zuhörer soll die Schilderung des Sachverhaltes als glaubwürdig, als wahrscheinlich und «natürlich» empfinden.
3) Begründung, Argumentation: Der Redner muss seine Falldeutung, also seine Thesen, die er vorbringt, mit Argumenten wirkungsvoll begründen. Dabei unterscheidet Aristoteles drei Typen von Argumenten: a) Zeichen (Anzeichen, Indizien), b) Beispiele (induktives Verfahren) und c) Gründe (deduktives Verfahren).
Beispiele (b) zielen auf induktive Schlüsse. Über Beispiele - einzeln Auftretendes -wird eine allgemeingültige Folgerung oder Regel gewonnen. Gründe (c) zielen auf deduktive Schlüsse. Aus allgemeinen Prinzipien oder Regeln werden Einzelphänomene beurteilt. Von der Logik her sind induktive Schlüsse nicht zwingend richtig oder wahr, denn von beobachteten Einzelphänomenen lässt sich nicht auf eine allgemein-gültige Aussage oder Regel schliessen. Dennoch sind Beispiele sehr beliebte Mittel der Überzeugung, was an ihrer Anschaulichkeit und Verständlichkeit liegt.
4) Schluss: Der Abschluss der Rede soll einerseits das durch die Rede dargebrachte «Wissen» rekapitulieren. Der Gedankengang und die Ergebnisse der Überlegungen sollen noch einmal hervorgehoben werden. Die Schlussfolgerungen müssen klar erkennbar sein. Es geht um das Erinnern des Redeinhaltes. Andererseits, und das ist die Hauptfunktion des Schlusses, soll der Zuhörer emotional angesprochen werden. Es geht darum, die erwünschte Sichtweise und Handlung beim Publikum affektiv abzustützen. Zum Beispiel soll das Publikum noch einmal leidenschaftlich erregt werden (aufpeitschen, entrüsten) oder deren Mitleid und Sympathie angesprochen werden (wehklagen oder besänftigen, versöhnen), damit das gesetzte Redeziel erreicht wird.
Merke: Die antike Rhetorik unterschied als Gattungen die Gerichtsrede, die beratende Rede und die festliche Rede.
Die Gerichtsrede gab eine exemplarische Struktur vor: Einleitung, Schilderung des Sachverhalts, Begründung, Schluss.