Zielsetzung einer Argumentation
Das Ziel einer Argumentation und ihrer einzelnen Schritte besteht darin, Aussagen, die man in ihrem Geltungsanspruch bestreitet, zurückzuweisen, oder Aussagen, die man für gültig erachtet, zu stützen. Aussagen können durch sogenannte «Pro-Argumente» gestützt werden, während «Kontra-Argumente» unliebsame Aussagen widerlegen oder «stürzen» wollen. Wenn sich in einem Wortgefecht die eigene Position durchsetzt, dann werden umstrittene Aussagen oder Fragen in unstrittige überführt. Zuweilen wird dadurch ein Konsens, das heisst eine Einigung unter den Teilnehmerinnen und Teilnehmern einer Debatte erzielt. Rhetorische Argumentationen sind jedoch nicht nur auf Konsens aus.
Wettstreit der Argumente
Viele rhetorische Anordnungen streben nicht nach «Einigung», sondern wie in einem Wettkampf nach «Sieg» oder «Niederlage». Dies bedeutet aber nicht, dass es uns leichtfällt, Sieger und Verlierer in einer Debatte zu bestimmen, denn ein allgemein akzeptierter Massstab zur Festlegung von Sieg oder Niederlage fehlt in der Regel. Einfacher zu bestimmen ist der "Sieger" oder die "Siegerin" dann, wenn im Anschluss an die Debatte eine Abstimmung oder Beschlussfassung folgt.
Doch auch bei einer Abstimmung ist nicht immer klar, ob wirklich die besseren Argumente obsiegt haben. Bei der Entscheidungsfindung spielen auch «äussere» Faktoren wie Macht, Geld oder Autorität eine Rolle. Des Weiteren sind Entscheide auch abhängig von Gefühlen, z.B. Sympathien und Antipathien gegenüber der redenden Person. Die Persönlichkeit und das Auftreten des Redners sind nicht zu unterschätzende Einflussgrössen im Spiel des Überzeugens. Ebenso stellt das Publikum und seine unmittelbare Reaktion auf das Gesprochene einen Einflussfaktor beim Überzeugtwerden dar. Darum war allen Rednern klar, dass es beim Redevortrag darum gehen muss, die Stimmung des Publikums für sich zu gewinnen.
Rhetorik verfährt nicht logisch
Die Argumentationslehre der antiken Rhetorik zielte darauf ab, durch überzeugende Argumente beim Publikum die beabsichtigte Wirkung zu erzielen. Die rhetorische Argumentation ist nicht zu verwechseln mit den logischen Schlussverfahren und Methoden der heutigen Naturwissenschaften. Bei gesellschafts-politischen Auseinandersetzungen geht es um Fragen, die nicht mit wissenschaftlicher Genauigkeit und Folgerichtigkeit behandelt werden können. Rhetorische Argumentation verfolgt darum das Ziel der Plausibilität und Überzeugungskraft. Aus diesem Grunde kommen auf dem Feld der Rhetorik den effektvollen bzw. effekterheischenden Argumentations-Strategien eine besondere Bedeutung zu.
Fragen der Rhetorik sind als grundsätzlich «offen» oder gar «unentschieden» zu sehen. Rhetorik ist nicht strenge Wissenschaft oder Logik. «Rhetorik wird als problemorientierte Wissenschaft gesehen, sind doch ihre Themen strittig und unentschieden (…). Sie ist demnach für alle Fragen zuständig, über die man zu beraten pflegt und die durch Begründungen zu beantworten sind.» (Ueding, 2000:31)
Glaubwürdigkeit vor Wahrheit
Die Argumentationslehre steht im Dienst von Interessen und ist eingebettet in einen sozialen Aushandlungsprozess, der in eine Handlungsorientierung münden soll. Es geht nicht um das Erringen oder Vermitteln von Erkenntnis oder Wahrheit in einem wissenschaftlichen Sinn. Darum verfährt und argumentiert Rhetorik nicht rein rational und «logisch», sondern sie verfährt mit «Taktiken», welche die Plausibilität einer Aussage, einer Position oder eines Urteils bewirken wollen. Im Unterschied zur Logik, die nach allgemeingültigen Aussagen und Schlussregeln strebt, ist die Rhetorik stets auf einen Einzelfall bezogen, der in einem bestimmten gesellschaftlichen und historischen Zusammenhang steht. Aus diesem Grunde hat schon Aristoteles darauf hingewiesen, dass die Rhetorik die Fähigkeit vermittle, «bei jedem Gegenstand das möglicherweise Glaubenerweckende zu erkennen» und einem Publikum zu vermitteln (Aristoteles, Rhetorik, 1355b). Es geht also um das «Glaubwürdig-Erscheinen», um das Plausibel-Machen einer Überzeugung und nicht um «Wahrheit».
Wenn wir einen Standpunkt öffentlich vertreten, geht es also darum, ihn glaubhaft oder plausibel erscheinen zu lassen. Ein Redner wird den zu behandelnden Sachverhalt stets interessegeleitet prüfen und bewerten und von da her nach geeigneten Strategien – z.B. Argumenten – suchen und diese wirkungsvoll anordnen, um die eigene Position als überzeugend erscheinen zu lassen. Genau dies ist die Aufgabe der inventio und der dispositio.
Affektische und rationale Überzeugungsstrategien
Was macht nach Aristoteles eine gute, überzeugende Rede aus? Sie wird erstens von einem klug wirkenden und integren Redner gehalten (griech. éthos), der es zweitens versteht, sein Publikum emotional anzusprechen und in die gewünschte Stimmung zu versetzen (páthos) und drittens eine Rede hält, in der er seine Position mit tauglichen Beweismitteln plausibel vertritt (lógos).
Mit dem «éthos» ist der Redner und seine Art und Weise, wie er beim Publikum ankommt, im Blick. Mit «páthos» sind die Zuhörer im Blick und wie sie für die Botschaften des Redners empfänglich gemacht werden können. Und beim «lógos» geht es folgerichtig um die Rede bzw. den Redeinhalt und seine Überzeugungskraft. Damit setzt Aristoteles bei den drei zentralen «Akteuren» jedes Redeanlasses an und sieht, dass eine gute Rede ein Zusammenspiel zwischen diesen Akteuren ist. Er befasst sich darum nicht nur mit dem Redetext selbst, sondern auch mit dem Produzenten des Redetextes (dem Redner) und den Rede-Rezipienten (dem Publikum).
Auf der Ebene des «lógos», des Redetextes und seiner Argumentation unterscheidet Aristoteles zwei Argumentationsweisen: a) affektische oder emotionalisierende Argumentations-Verfahren von b) rationalen oder sachbezogenen Argumentations-Verfahren. Die affektische Argumentation beinhaltet die emotionale Beeinflussung des Publikums und die Selbstdarstellung des Redners als sachkundige und integre Person. Die sachlogische Argumentation beinhaltet sachliche Überzeugungstechniken und rationale Argumentationsverfahren.
Dem zugrunde liegt die Beobachtung, dass eine Rede sowohl den Verstand als auch das Gefühl der Rezipienten ansprechen kann. Der Zuhörer wird in seinem reflexiven Vermögen und/oder in seiner Emotionalität angesprochen und beeinflusst. Beide Komponenten können sich gegenseitig - mit Blick auf die Redeintention - sinnvoll ergänzen, denn der Mensch ist nicht nur ein rationales, sondern auch ein emotionales Wesen. Gleichzeitig ist damit eine problematische Flanke eröffnet: der Gebrauch der affektiven Überzeugungsmittel kann in ein Täuschen, Belügen, Irreführen, Betrügen, Manipulieren des Publikums führen. Aber auch auf der Ebene der sachlogischen Argumentation gibt es Missbrauchsmöglichkeiten: Wenn mit Scheinargumenten, falschen Aussagen, falschen Daten, irreführenden Bespielen, Scheinlogik oder Trugschlüssen operiert wird und diese als wahr oder gültig behauptet werden.
Für Aristoteles soll in einer Rede der «lógos», die sachzugewandten, rationalen, vernünftigen Überzeugungsstrategien, dominieren und die beiden anderen Überzeugungs-Mittel: die Affektbeeinflussung des Publikums (páthos) und die Verführungsmacht der Person (éthos) untergeordnet sein. Dass Aristoteles als Philosoph und Naturforscher die «Herrschaft» der Vernunft zum Ideal erhebt, erstaunt nicht. Dass sich Menschen jedoch nur allzu gerne auch emotional und durch charismatische Personen beeinflussen und «überzeugen» lassen, zeigt an, dass ein rationaler, sachbezogener Diskurs keine Selbstverständlichkeit ist.
Merke: Argumentation im Rahmen der Rhetorik zielt darauf ab, beim Publikum Plausibilität zu erzeugen. Dies kann emotional oder rational geschehen.