Ein altes Problem
Schon früh entzündete sich innerhalb der antiken rhetorischen Theorie ein Streit darüber, ob rhetorische Schulung allein dazu da ist, die eigenen Interessen beim Publikum durchsetzen, oder ob der Rhetorikunterricht dazu beitragen muss, den Redner auch zu einem moralisch guten Wesen, das mit seiner Redekunst gute Ziele verfolgt, auszubilden. Der Rhetoriker und sophistischen Philosoph Gorgias von Leontinoi (um 485-380) vertrat die a-moralische Position. Die Rhetorik dient dazu, die Position des Gegners zu schwächen und die eigene als überlegen erscheinen zu lassen. Es geht nicht darum, der wahren oder guten Ansicht zum Durchbruch zu verhelfen, sondern der eigenen. Getragen ist diese a-moralische Position von der Überzeugung, dass «Wahrheit» oder «Gerechtigkeit» grundsätzlich etwas Relatives sind. Was wahr oder gerecht, falsch oder schlecht ist, ist nach Gorgias nicht grundsätzlich bestimmbar. Es gibt kein sicheres Wissen, keine allgemeingültigen Wahrheiten, keine allgemeinverbindliche Moral. Was wahr oder gut ist, ist sozial bestimmt und damit auch eine Folge von Aushandlungsprozessen.
Die Position von Gorgias blieb nicht unwidersprochen. Gorgias Schüler Isokrates (436-338), der selbst ein bekannter Redner war, verlangt vom öffentlichen Reden ausdrücklich eine moralische Orientierung. Der Redner muss sein Reden in den Dienst des Guten stellen. Ein Redner darf keine a-moralischen Ziele verfolgen und muss selbst daran arbeiten, eine gerechte Person zu werden und dem Guten zum Durchbruch zu verhelfen. Aus diesem Grund darf ein Redner auch nicht alle ihm zur Verfügung stehenden rednerischen Mittel rücksichtslos anwenden. Der gute Redner muss sich selbst und seine Rede-Kunst mit Blick auf das Gute und Gerechte begrenzen können.
Abb. 6: 15. März 1938, anlässlich der nationalsozialistischen Machtergreifung in Österreich steht Adolf Hitler auf dem Balkon der Neuen Hofburg und hält eine Rede zu einer ihn feiernden versammelten Menschenmenge auf dem Heldenplatz in Wien.
Quelle: siehe Abbildungsverzeichnis
Radioreportage von der Einfahrt Hitlers auf den Heldenplatz bis zu seinem Erscheinen auf dem Balkon der Neuen Hofburg:
Ausschnitt aus Hitlers Rede an die Versammelten auf dem Heldenplatz anlässlich der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Österreich (15. März 1938):
Ist Rhetorik eine problematische Disziplin?
Die frühe Auseinandersetzung zwischen Gorgias und Isokrates zeigt ein Grundproblem der Redetheorie und Redepraxis an. Wofür werden die Macht der Worte und die Kenntnisse der Rhetorik eingesetzt? Ein Blick in die Geschichte und Gegenwart zeigt, dass begabte Redner und ihre Redekünste nicht nur Gutes bewirkt haben. Dies ist ein Grund mehr, sich mit der 2500-jährigen Tradition der Redekunst auseinanderzusetzen. Wer mehr über Rhetorik weiss, kann nicht nur das eigene Schreiben und Reden verbessern, sondern auch die manipulativ eingesetzte Kraft des geschliffenen Wortes, die durch einen a-moralischen Redner gebraucht bzw. missbraucht wird, durchschauen.
Während in der Renaissance und im Barock die antike Rhetorik sehr geschätzt und gepflegt wurde, geriet die Rhetorik im Zeitalter der Aufklärung in scharfe Kritik. Bereits René Descartes (1596-1650) lehnte die Rhetorik radikal ab. Rhetorik stellt das Wahrscheinliche als wahr dar. Dies sei schädlich, weil sie als Kunst des Plausibel-Machens nicht im Dienst sicherer Erkenntnis stehen kann. Erkenntnis hat mit sicherem Wissen und als wahr erwiesenen Theorien zu tun. Dies kann Rhetorik nicht leisten. Darum fällt sie als wissenschaftliche Disziplin für Descartes ausser Traktanden. Rhetorik ist keine Wissenschaft, auch wenn sie seit der Antike als solche betrachtet wurde und bis zu Descartes Zeit eine zu studierende «Disziplin» der sieben freien Künste (lat. septem artes liberales) gewesen war. Neben Rhetorik gehörten die Grammatik, die Logik, die Arithmetik, die Geometrie, die Musik und die Astronomie zu den sieben grundlegenden «Studienfächern» der septem artes liberales. Spätere zentrale Denker der Aufklärung wie z.B. Immanuel Kant (1724-1804) folgten Descartes Kritik und diskreditierten die Rhetorik als Kunst der Verschleierung und Verführung, die nichts zur Errichtung einer Vernunft orientierten, aufgeklärten Welt beitragen kann.
Heute erscheint Rhetorik nicht als grundsätzlich problematische Disziplin: «Rhetorik ist eine Sozialtechnik, die aus sich heraus weder gut noch schlecht ist, sondern ihren Sinn erst aus der Entscheidung dessen empfängt, der sie gebraucht – oder missbraucht.» (Ottmers 2007, S.12).
Aufgabe 21
Wo im Alltag sind Sie schon auf manipulative Rhetorik gestossen, z.B. in den Sozialen Medien, in der Schule, zu Hause, unter Freunden, in der Politik?
Welche Formen der manipulativen Rhetorik finden Sie problematisch? Begründen Sie.
Gerüchte und Lügen verbreiten
Ironie, Sarkasmus, Spott
Jemanden zutexten
Unlogisches, unsachliches Argumentieren
Beleidigungen, Angriffe, Herabsetzungen, Drohungen
Dreinreden, Unterbrechen, Worte verdrehen
Einseitigkeit und Übertreibungen
Mit Gefühlen spielen, Gefühlsmanipulationen
Falschmeldungen und Fälschungen (Fake News)
Verschwörungstheorien
Wie kann man gut auf diese problematische Art von Rhetorik reagieren?
Merke: Rhetorik kann auch als manipulatives Instrument eingesetzt werden. Die Disziplin an sich sieht man jedoch heute nicht als problematisch an.