Ausgehend von einer Stelle der Odyssee kommt Heidegger auf die dort erwähnte Scheu (αίδώς) zu sprechen. In dem Zusammenhang seiner Erörterung ist die Scheu kein Gefühl, und schon gar keines, das auf eine neurotische Einschränkung hinweist. Die Scheu der alten Griechen, so Heidegger, sei das menschliche Entsprechen zum "Anwesen des Anwesenden". das heisst: Die Scheu im Sinne der Zurückhaltung, des "Verhoffens", wäre die Grundstimmung, die das Anwesen erst anwesen liesse. Die heutige Ab-scheu lässt das Anwesende nur noch als Information im Dienste der "Machenschaft" auftreten.
Der Vortrag versucht, die Modifikationen des Mitseins im Lichte dieser Grundstimmungen (Scheu und Ab-scheu) zu erläutern, vor allem auch in Bezug auf die psychotherapeutische Begegnung.
Heute werden wir uns mit einem griechischen Wort befassen. Das Wort lautet "αίδώς" (aidōs). Es wird mit "Scheu", oder auch "Scham" übersetzt. Meines Wissens erwähnt Martin Heidegger das griechische Wort ein einziges Mal. Es ist in einem Vortrag mit dem Titel ALETHEIA, "Wahrheit", in Heideggers wörtlicher Übersetzung "Unverborgenheit", wo er ein Fragment Heraklits erörtert.
An einer Stelle kommt Heidegger auf Homers Odyssee zu sprechen. Nach dem Fall von Troia sticht Odysseus in See, um die Heimreise anzutreten. Poseidon, der Meeresgott, ist ihm übel gesinnt und stürzt ihn in unzählige Abenteuer. Die Reise hat schon 9 Jahre gedauert, als es den Odysseus auf die Insel der Phäaken verschlägt. Er wird im Palast des Königs Alkinoos empfangen. Wie bei Homer üblich, wird der fremde Gast nicht gleich nach Name, Herkunft usw. ausgefragt. Er wird zuerst empfangen, verpflegt, zum Abendessen eingeladen und mit Geschenken geehrt.
Schon hier treffen wir auf einen wesentlichen Zug der Scheu im Sinne von αίδώς: die Freundlichkeit dem Fremden gegenüber, der als Fremder empfangen und im Geheimnis seines Fremdseins verborgen bleibt - ganz anders als in unserer ab-scheulichen Zeit, die gerade vom abgründigen Misstrauen und folglich vom Imperativ der unbedingten Transparenz, der flächendeckenden Kontrolle und der totalen Überwachung geprägt ist.
Wir sind im Palast des Alkinoos, beim Symposium zu Ehren des Fremden. Der Rhapsode Demodokos spielt auf der Harfe und besingt die Heldentaten und die Leiden des Krieges von Troia. Hier also sagt Homer:
Dieses sang der berühmte Demodokos. Aber Odysseus
Faßte mit nervichten Händen den großen purpurnen Mantel,
Zog ihn über das Haupt, und verhüllte sein herrliches Antlitz;
Der folgende Vers
αἴδετο γὰρ Φαίηκας ὑπ᾽ ὀφρύσι δάκρυα λείβων.
in der sinngemässen Übersetzung Heideggers:
er verbarg sich aus Scheu vor den Phäaken, (daß sie nicht die tränenden Wimpern erblickten)
Und Heidegger fügt hinzu:
Dann hieße "sich scheuen": geborgen und verborgen bleiben im Verhoffen, im an-sich-Halten.
Die Scheu als "verborgen Bleiben im an-sich-Halten" ist bei den alten Griechen kein vereinzeltes Phänomen, auf das man ab und zu trifft, wie etwa an der oben erwähnten Stelle. Sie ist in der altgriechischen Welt überhaupt eingeschrieben. Schauen wir uns den griechischen Vers etwas genauer an. Er ist aus kurzen und langen Silben zusammengesetzt. Dies war für das Vortragen wichtig. Bei Homer, wenn die kurze Silbe z.B. den Wert eines Viertels hat, dann hat die lange Silbe den Wert eines punktierten Viertels, also eine Dauer von anderthalb Vierteln. Demgemäss der Vers
er verbarg sich aus Scheu vor den Phäaken, (daß sie nicht die tränenden Wimpern erblickten)
würde im Griechischen im folgenden Rhythmus rezitiert (Die langen Silben sind unterstrichen):
αιδετο γαρ Φαιηκας υπ᾽ οφρυσι δακρυα λειβων
aideto gar Faiēkas yp ophrysi dakrya leibōn
Wir merken, dass der Vers einen ihm eingeborenen Rhythmus hat. Er ist Sprache und Musik in einem. Es ist der Text selber, der den Rhythmus, also die Musik vorschreibt. Heute kann man einen Text, z.B. "am Brunnen vor dem Tore" beliebig vertonen.
Etwa im ²/₄ Takt:
Im Abendland sind Sprache und Musik autonom. Der griechische Vers ist Sprache und Musik in einem. Nicht nur das. Der homerische Vers, der uns hier im besonderen interessiert, ist aus einem Element zusammengesetzt, das sich sechs mal wiederholt. Das Element heisst Daktylos und besteht aus einer langen Silbe und zwei kurzen Silben. Ein Daktylos ist ein ποῦς, ein Fuss. Das altgriechische Wort für Fuss bedeutet Schritt, auch Mass. Die erste lange Silbe heisst θέσις, Senkung, die zwei darauffolgenden kurzen Silben heissen ἂρσις, Hebung. Sie beziehen sich auf die Bewegung der Füsse und in diesem Sinne schreibt der Vers sogar die grundlegende Choreographie vor.
Diese Einsichten in die altgriechische Musik verdanken wir Thrasybulos Georgiades, einem der wichtigsten Musiktheoretiker des 20. Jahrhunderts in Deutschland. Er schreibt:
Der Sinn dieses Verses ist ebenso unberührbar, wie die griechischen Wörter unbeinflussbar durch das Subjekt und seinen Ausdruckswillen sind. Sie haben ihren eigenen Willen. Sie sind nicht fähig, einen Nachdruck zu erhalten, zu ertragen, zu äussern. Und so verhält sich auch der Vers als Ganzes, er erträgt keine Färbung, keine Abänderung, keine Deutung, keine Ergänzung durch das Erklingen. Er ist eine festgefügte Gestalt, wie die griechischen Wörter selbst.
Und weiter:
Das vom subjektiven Willen unabhängige Körperhaft-Gegenständliche der griechischen Sprache, ihr für uns geheimnisvolles Sein und ihre uns verborgene Herkunft werden, als Körperbewegung realisiert, in erhöhtem Grad wirksam. Das nicht bloss gesprochene, sondern körperhaft verwirklichte Wort erhält eine geradezu magische Gegenwärtigkeit. In keiner der modernen abendländischen Sprachen finden wir etwas auch nur von fern damit Vergleichbares.
Bei der Ausführung des griechischen Verses bleibt das Subjekt mit seinem eigenen "Ausdruckswillen" aus dem Spiel. Es taucht unter. Es bleibt verborgen. Die griechisch erfahrene Scheu als "verborgen bleiben im an-sich-Halten" wäre also keine Leistung des Subjekts, keine hart errungene Tugend, sondern mit einem Wort Heideggers ein "Existential", ein Moment, ein Wesenszug des altgriechischen Daseins selbst.
Kehren wir nun zu Odysseus im Palast des Alkinoos. Nach all der Verpflegung, den Festen, den Geschenken kommt die Zeit, wo Odysseus offenbart, wer er ist. Der König Alkinoos fordert ihn dazu (535-556):
Und der König sagte zu den ruderliebenden Männern:
Merket auf, der Phäaken erhabene Fürsten und Pfleger,
Und Demodokos halte nun ein mit der klingenden Harfe;
Denn nicht alle horchen mit Wohlgefallen dem Liede.
Seit wir sitzen am Mahl, und der göttliche Sänger uns vorsingt,
Hat er nimmer geruht von seinem trauernden Grame,
Unser Gast; ihm drückt wohl ein schwerer Kummer die Seele.
Jener halte denn ein! Wir wollen alle vergnügt sein,
Gast und Wirte zugleich; denn solches fordert der Wohlstand.
Für den edlen Fremdling ist diese Feier, des Schiffes
Rüstung, und die Geschenke, die wir aus Freundschaft ihm geben.
Lieb wie ein Bruder ist ein hilfeflehender Fremdling
Jedem Manne, des Herz auch nur ein wenig empfindet!
Drum verhehle mir nicht durch schlauersonnene Worte,
Was ich jetzo dich frage. Auch dieses fordert der Wohlstand.
Sage, mit welchem Namen benennen dich Vater und Mutter,
Und die Bürger der Stadt, und welche rings dich umwohnen?
Denn ganz namenlos bleibt doch unter den Sterblichen niemand,
Vornehm oder gering, wer einmal von Menschen gezeugt ward;
Sondern man nennet jeden, sobald ihn die Mutter geboren.
Sage mir auch dein Land, dein Volk und deine Geburtsstadt;
Daß, dorthin die Gedanken gelenkt, die Schiffe dich bringen.
An einer Stelle des angeführten Zitats spricht Alkinoos vom "edlen Fremdling". Was der Übersetzer Johann Heinrich Voss mit "edel" wiedergibt, heisst im Original αἰδοίοιο - Adjektiv von αίδώς, Scheu. Der Fremdling wäre der "scheue" und Scheu erheischende, also der sich Verbergende und dem das Verborgenbleiben geziemt.
Scheu in diesem Sinne kommt gelegentlich in der Folgezeit vor, selbst wenn sie nicht namentlich erwähnt wird. So etwa bei einem Volkslied aus Kreta:
Mutter, sollten unsere Freunde kommen
sollten unsere Verwandte kommen,
Sag ihnen nicht, ich sei gestorben,
mach ihnen nicht das Herz schwer.
Bereite ihnen die Tischbank vor, dass sie an den Speisen laben,
und Bett, dass sie sich darin legen.
Bereite ihnen Bänke vor,
dass sie ihre Waffen darauf legen.
Und wenn sie am Morgen erwachen
und sich von dir verabschieden,
sag ihnen, dass ich gestorben bin.
Wir hören die drei ersten Verse.
Das Fremde, der Tod sind Figuren des Anderen. Über das Andere, wenn es darum geht, dass seine Andersheit gewahrt wird, kann fast nichts ausgesagt werden. Das Schweigen, das das Andere grüsst, wäre eben ein konstitutives Moment der Scheu. So auch, wenn die Geburt, die Hochzeit, der Eros, der Tod und sonstige Umbrüche eines Lebenslaufs einschlagen. Überall hier waltet ein geheimnisvolles Anderes. Es wird durch Rituale gefeiert. Der Empfang des Odysseus kommt einem Ritual gleich. Rituale sind von alters her die angemessene Art, in der die Begegnung mit dem Anderen stattfindet.
Andersheit ist auch dem Leiden eingeschrieben, insofern das Leid immer inkompatibel, asynton und rätselhaft bleibt. Leo Tolstoys "Anna Karenina" beginnt mit dem Satz:
Alle glücklichen Familien gleichen einander. Jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Art unglücklich.
In diesem Sinne hätte das Leid keinen Platz in der gemeinsamen Welt - allen psychiatrischen Erklärungen und allen psychologischen Deutungen zum Trotz. Das Leid kann kaum mit-geteilt werden. Es bewohnt einen Vorort der Verborgenheit. Die angemessene Entsprechung zum Leiden wäre auf αίδώς, auf Scheu gestimmt. Heilungsrituale bei primitiven Kulturen stehen in krassem Gegensatz zum Vorgehen unserer modernen Psychowissenschaft. Heute weicht das dem Leid angemessene Schweigen oft einer unendlichen Geschwätzigkeit aller Beteiligten.
In einem Fragment von Pindar spricht der Seher Amphiaraos. Er ermahnt seinen Sohn Amphilochos mit folgenden Worten:
den Anderen (darf man) nicht ans Licht stellen, was ertragen von uns wird an Pein; dies will ich dir sagen fürwahr: Was uns an Schönem zuteil wird und Frohem, soll inmitten allen Volks man zeigen; jedoch, wenn uns Menschen gottheitverhängt, unerträglich Unheil befällt, dieses in Dunkel zu bergen, das geziemt sich.
"Eifersucht und Stolz" ist der Titel eines Liedes von Franz Schubert aus dem Zyklus "Die schöne Müllerin". Die schöne Müllerin hat den jungen Müller zugunsten eines Jägers verlassen. Der Junge fordert den vorbei fliessenden Bach auf, die Müllerin "für ihren leichten, losen, kleinen Flattersinn" zu schelten. Dann geht das Lied weiter:
Hörst du, kein Wort von meinem traurigen Gesicht.
Sag ihr: Er schnitzt bei mir sich eine Pfeif' aus Rohr
Und bläst den Kindern schöne Tänz' und Lieder vor.
Das Fremde, die Geburt, die Hochzeit, der Eros, der Tod, das Leid sind Phänomene, die dem Verstand unzugänglich sind. Es gibt nichts mehr, worauf sie zurückgeführt werden können. Sie wären, frei nach Goethe, Urphänomene. Vor diesen, sagt Goethe,
wenn sie unseren Sinnen enthüllt erscheinen, fühlen wir eine Art von Scheu, bis zur Angst.
Vielleicht ist eine Begegnung, in den wenigen Fällen, wo sie sich in ihrer vollen Spannweite entfaltet, ebenfalls ein Urphänomen.
Der Lyriker Alcman:
Wer, bitte, wer könnte je leicht den Sinn eines anderen Menschen sagen?
Paul Celan spricht vom "Geheimnis der Begegnung":
Begegnungen, Wege einer Stimme zu einem wahrnehmenden Du, kreatürliche Wege, Daseinsentwürfe vielleicht, ein Sichvorausschicken zu sich selbst, auf der Suche nach sich selbst... Eine Art Heimkehr.
Auf der Suche nach sich selbst schickt sich das wahrnehmende Du zur Dichtung, zur Kunst voraus und von diesen Orten her kehrt es zu sich heim, es kehrt zu sich selbst, es findet sich. Dies ist möglich, wenn dieser Mensch in der Kunst, im Ansprechen der Kunst sich selbst wahrnimmt, nämlich Worte, Bilder, Töne, die er als seine eigenen, ja als seine ureigenen und doch nie Gestalt gewonnenen erkennt.
In einem ähnlichen Sinne würde manchmal die Psychotherapie zur Begegnung. Ich denke an Momente, wo es der Leidende ist, der durch den Mund des Therapeuten spricht, und zwar so, wie er selber noch nie gesprochen hat. Indem er nämlich den Therapeuten anspricht, schickt er sich voraus, insofern seine Worte sein Sagen kaum erschöpfen und einen, nach dem Titel eines Gedichts von Celan, singbaren Rest mitbringen. Sein mit einem Rest geschwängertes Sagen wäre das dem Therapeuten Vorausgeschickte, das in glücklichen Augenblicken Worte durch seinen Mund gebären kann. In diesem Sinne lässt der Therapeut diesen Rest, nun in Worten gehüllt, um Hölderlin zu paraphrasieren, zu ihm selbst heimkehren.
Kürzlich hat eine Frau aufgeregt über ihren Mann geschimpft: er vernachlässige die Kinder, er habe nur noch das Vögeln im Sinn, er treibe es mit der einen und der anderen Frau, er sei selbst ein Kind usw. Mitten in diesem Geschimpfe, das eine Weile dauert, sage ich quasi ihre Worte fortsetzend: "Aber ich liebe ihn!" Sie lacht herzhaft, all die Spannung ist fort. Ich habe es nicht erdacht. Ich habe es am Ton ihrer Worte schwingen vernommen und bloss zur Sprache gebracht. Sie war es, die durch meinen Mund gesprochen hat.
Dialoge wie dieser sind nicht darauf aus, den Anderen als Leidenden zu erforschen, zu deuten, zu erklären, zu begreifen, in ihn einzudringen. Der Andere, ich erinnere an Celans Beschreibung der Begegnung, schickt sich voraus zu sich selbst. Dieses "voraus", das sich im Ungesprochenen seines Atems meldet, wird durch meine Worte, wenn sie glücken, in unser Zwischen eingeholt.
In diesem Sinne würde sich eine Möglichkeit ergeben, das zu Sagende schon in seiner Verhüllung zu erblicken. Der letzte Satz findet sich in einer kleinen Schrift Heideggers mit dem Titel Zeichen. In seinem vollen Wortlaut heisst es:
Das Erstaunliche der Griechen des Altertums bleibt, dass sie es vermochten, das zu Sagende schon in seiner Verhüllung aus einer zuvorkommenden Zurückhaltung her zu erblicken.
Ich greife nicht ein. Mich selber bringe ich nicht ins Spiel. Ich bin Vermittler meines Gesprächspartners zu ihm selbst. Insofern ich ihn nicht zu verstehen, zu begreifen versuche, lasse ich seine Andersheit gewähren. Es wäre eine Art der von Heidegger angesprochenen Zurückhaltung, der Scheu, die unser Treffen zur Begegnung werden lässt. Zuvorkommend wäre diese Zurückhaltung oder Scheu insofern wir das Zuvorkommen im Sinne von Celans Sich-Vorausschicken erfahren. Oder im Sinne der Scheu, die schon immer weiss:
Ick bün all hier
Sagt der Igel zum Hasen: Ich bin schon hier. Heidegger mochte diesen Satz. Die Scheu ist, was sie ist, nicht aus einer erzwungenen Zurückhaltung heraus, sondern aus einer vorgängigen Vertrautheit mit dem Geheimnis als Geheimnis. Sie hat sich in das den Dingen eingeborene, das in den Dingen sich verbergende Geheimnis schon eingestimmt, und aus dieser Einstimmung heraus empfängt sie ihren Wesenszug als "verborgen Bleiben im an-sich-Halten".
Pindar:
...Edelsten Sinn ja erwirkt in den Menschen und Freude, vorwissende Scheu.
In Aristophanes Komödie "Acharnēs" Dikaiopolis, ein Bauer aus Acharnai, einer Gemeinde in der Nähe von Athen, ist des bereits sechs Jahre währenden, katastrophalen Krieges zwischen Athen und Sparta überdrüssig. Er schließt einen dreissigjährigen Privatfrieden mit Sparta. Die Acharner wollen Dikaiopolis für seinen Verrat steinigen, doch der gewitzte Bauer sucht den Tragödiendichter Euripides auf, um Requisiten und damit die Wortgewaltigkeit von dessen Helden zu leihen, und auf diese Weise seine Verfolger von seinem Vorhaben zu überzeugen. Dikaiopolis geht also zu Euripides Haus, klopft an der Tür und sagt (V. 405):
Höre, wenn du je der Menschen Einen gehört hast!
Dikaiopolis ersucht Euripides, ihn zu hören. In diesem Ersuchen beschwört er nicht die gegenwärtige Situation, die gegenwärtigen Umstände, den prekären Zustand, in dem er sich befindet. Er beschwört Euripides Bereitschaft, ihn zu hören, nicht wie wenn diese Bereitschaft aus den momentanen Motiven heraus entstehen würde, sondern im Namen eines Vorgängigen: der schon immer Euripides und jedem Menschen gegebenen Möglichkeit, ihn zu hören, weil er je schon gehört hat.
Höre, wenn du je der Menschen Einen gehört hast!
Das Wort appelliert an das nackte Menschsein, dem das Hörenkönnen sein Sein auszeichnet. Das Wort will nicht flehen, überzeugen, rühren, nötigen, was alles einer Gewalttat, einem unangemessenen Drängen, einer Ab-scheulichkeit gleichkäme. Das scheue Wort beschwört das nackte Hörenkönnen, das was schon immer einen Menschen als solchen bestimmt. Der Satz, der schon immer wissende scheue Satz denkt jenes "wenn je..." vor und spricht aus seinem Grunde heraus. Es ist dieselbe Scheu, die in der Aufforderung des Königs an Odysseus waltet, seinen Namen zu offenbaren:
Sage, mit welchem Namen benennen dich Vater und Mutter,
...
Denn ganz namenlos bleibt doch unter den Sterblichen niemand,
Vornehm oder gering, wer einmal von Menschen gezeugt ward;
Sondern man nennet jeden, sobald ihn die Mutter geboren.
"Höre, wenn du je der Menschen Einen gehört hast!" Es ist der mehr oder weniger unausgesprochene Ruf von jedem, der den Therapeuten besucht. Dessen Hören ereignet sich nunmehr wie von selbst, da es je schon gehört hat. Dieses vorgängige Hören ist der verhüllte (vgl. Heideggers "schon in seiner Verhüllung …") Hintergrund, den das offene Ohr bei jedem fälligen Wort mithört.
Die Psychotherapie, vor allem das psychoanalytische Setting weist Züge auf, die in den geneigten Augen die Scheu im Urphänomen der Begegnung pflegen und hüten:
- Die Unsichtbarkeit der Beteiligten füreinander. Sie lenkt von den anwesenden Personen ab und lässt die Sache, um die es jeweils geht, eigens in den Blickpunkt rücken.
- Die Grundregel der sogenannten "freien Assoziationen" für den Leidenden und die "freischwebende Aufmerksamkeit" des Analytikers weisen auf einen Weg, der das Ich mit seinem Steuern, Auswählen, Urteilen, Bewerten usw. nicht in Acht nimmt und so in einer anderen Hinsicht die Beteiligten unsichtbar für einander macht.
- Eine ähnliche Funktion hat das sogenannte "Abstinenzprinzip", wonach in einer Stunde Wünsche nicht erfüllt werden dürfen. Was als Verbot sich anhört, wird mit der Zeit zu einem Verweilen, das sich wunschlos, fast un-menschlich, zeitigt und der Möglichkeit des Glückes (wunschlos glücklich…) eine Tür öffnet.
Die Scheu, die, wenn ich mich nicht täusche, nach den Griechen und im Sinne der Griechen Heidegger rehabilitiert hat, ist von einer seltsamen Höflichkeit, ja einer Diskretion gezeichnet, die das frontale Zugehen, also den Anspruch auf ein unmittelbares Be-greifen, vermeidet. Wir merken es an den folgenden Worten von zwei neuzeitlichen Griechen, in deren Adern die Alten den Sauerstoff für ihr Werk lieferten.
Der Dichter Giorgos Seferis schreibt in einem Essay:
Was nun die Tempel betrifft, wenn ein sehr naher Freund versuchte, mit Hilfe von alten Texten ihnen näher zu kommen, so würde ich ihm raten, sich mit Texten vertraut zu machen, die ihn zu diesen auf Umwege führen, nicht durch direkte Beschreibungen. (...) Er möge sich diese Weiträumigkeit vorziehen. Und wenn dieser sehr nahe Freund von mir insistierte, ich solle konkreter werden, so würde ich ihm sagen, dass in diesen Tagen, wo ich die vorliegenden Zeilen niederschrieb, Homers Verse über die fünfzig Mägde im Palast von Alkinoos im Sinn hatte (...) - dermassen entfernt war ich.
Um einer Sache, einem Menschen näher zu kommen, braucht es, dass man paradoxerweise fern bleibt. Thrasyvoulos Georgiades schreibt im Vorwort zu seinem posthum veröffentlichten Buch Nennen und Erklingen:
Die Andersartigkeit meines Vorgehens lässt sich schon daran erkennen, dass die Darstellung eine bevorzugte Verwendung von Analogien (Metaphern, Bildern) aufweist. Eine Analogie ist aber kein Beweis; sie kann nur auf das Nicht-Beweisbare, wohl aber Einleuchtende eines Sachverhalts, eines Phänomens, eines Faktums hinweisen; sie kann lediglich helfen, das Phänomen einzusehen.
Wie unterscheidet sich nun diese griechisch gedachte Scheu von der Scheu im Sinne der Gehemmtheit und Schüchternheit? Letztere ist nicht Scheu durch und durch. Der gehemmte Scheue verbirgt sich zwar vor den Anderen, aber sich selbst bleibt er nicht verborgen, er selber bleibt das aktive Subjekt, das diese Selbstverbergung vollzieht. Demgegenüber sagte Epikur: Λάθε βιώσας, "Lebe im Verborgenen". Heidegger:
Griechisch gedacht sagt das Wort ["Lebe im Verborgenen"]: "bleibe als der sein Leben Führende (dabei) verborgen".
Hier ist das sich-Verbergen kein Akt, sondern ein Geschehen, wo der sich Verbergende selbst in die Verborgenheit versinkt. In diesem Sinne schreibt Heidegger noch:
Die Verborgenheit bestimmt hier die Weise, wie der Mensch unter Menschen anwesen soll.
Das ist nicht genau, was Epikur selbst vorgeführt hat - sein testamentarischer Wunsch war, dass sein Geburtstag alljährlich von seinen Schülern gefeiert werden sollte.
Wer gross denkt, muss gross irren
schreibt Heidegger. Der Spruch könnte sich sowohl auf Epikur als auch auf Heidegger selbst beziehen.
Trotz alledem: Die Verborgenheit bestimmt die Weise, wie der Mensch unter Menschen anwesen soll. Es könnte ein Wegzeichen für die Psychotherapie sein. Ich möchte es zunächst durch Anführung der gegenteiligen Haltung verdeutlichen. In der klassischen Psychoanalyse ist der Analytiker bestrebt, immer wieder sich selbst in Szene zu setzen - allzu oft mit an den Haaren herbeigezogenen Deutungen. Einmal hat ein Kollege von mir den Traum einer Frau erzählt: Eine Bucht, sie sitze am Strand, ein Fischer fange an, Fische aus seinem Boot gegen sie zu werfen. Die Deutung meines Kollegen: Du willst mit mir schlafen...
Es ist ja eine Maxime Freuds, dass die Heilung der Neurose durch ihre Transformation in Übertragungsneurose hindurch erfolgt. Der Therapeut drängt sich auf Biegen und Brechen in den Vordergrund. Ab-scheulich! Dass Heilungen dabei doch zustandekommen, liegt an der alten Weisheit, dass manchmal die Pflanzen trotz Pestiziden hochwachsen.
Der Maler Robert Rauschenberg sagte in einem Interview:
[...] ich will meinen Körper, meinen Kopf und meine Gedanken von meinem Ego befreien.
Und, weiter:
Außerdem muß ich mich von meinen Ängsten befreien. So kann sich die ganze Energie, die aus der Körperlichkeit entsteht, frei bewegen. Ich glaube, daß Ängste das gleiche sind wie Ego. Vielleicht ist beides miteinander verwandt
Wenn der Satz Rauschenbergs etwas an sich hat, worauf ich hier nicht eingehen kann, dann wäre das Ersuchte der Psychotherapie gerade nicht ein starkes Ich. Weniger an Ich heisst mehr an Offenheit zur Welt, heisst mehr an Welt. Byung-Chul Han kommentiert einen Aphorismus Nietzsches folgendermassen:
Tölpisch wäre die Hand, wenn sie zu rasch, überrasch griffe. Das vom Un-Willen beseelte Herz, dem die Scheu des Zurückströmens innewohnt, lehrt die Hand, zögernd, "zierlicher" und "zärtlicher" zu greifen. Das Zögern, dessen Zartheit gibt den Dingen ihr Antlitz zurück. Die Welt wird, verschont vor einem gewaltsamen Zugriff der Hand, antlitzhaft. Das herzhafte Wohnen bleibt dieses Zögerns, dieser Scheu inne.
Eine bekannte Wendung Heideggers ist der "Schritt zurück". In bezug auf die Psychotherapie hiesse es: Vom Lärm der Wörter zurück zum Flüstern des Tons und des Schweigens; vom Aktuellen zurück zur unscheinbaren Präsenz des Geschichtlichen; von den Modellen zurück zur Sache; von der intersubjektiven Kommunikation zurück zum Gespräch unter nackten Menschen; vom denkend-vorstellenden Subjekt zurück zum leibhaftig Vernehmenden; vom Inneren des Bewusstseins und des Psychischen zurück zum Offenen; vom Eingebildeten und vom Virtuellen zurück zur Welt. Dieser Schritt zurück wird eben in der Grundstimmung der Scheu vollzogen. Heisst, dass es zuallererst der den Schritt zurück vollziehende selbst ist, der, frei nach Hölderlin, "scheint fast rückwärts zu gehen".
In einem Fragment der Lyrikerin Sappho ist ein Dialog überliefert. Einer, vermutlich der Dichter Alkaios, sagt:
Wohl möcht ich etwas sagen, doch hindert mich
die Scheu...
Die Dichterin antwortet:
Bewegte dich eine edle, eine schöne Regung
und wehrte nicht die Zunge dem üblen Wort,
dann müsst nicht Scheu dein Auge bannen,
Fügliches könntest du frei mir verkünden!
In Sapphos Antwort wird das Verhaltene der Scheu als Wehr gegen das üble Wort ausgelegt. Die Scheu verbietet Alkaios, das Üble zu sagen, das eine gemeine, unschöne Regung über den "Zaun der Zähne", eine häufige Wendung Homers, schmuggeln wollte. Das griechische Wort für Übel ist κάκον. Im Gedicht wird es dem entgegengesetzt, was δίκαιον, das Edle und Schöne heisst. Heidegger übersetzt das Wort in einem anderen Zusammenhang mit "Fug". Das Üble wäre demnach das, was sich nicht fügt. Sich nicht fügt worin? Antwort: in das Mass der Dinge. Wenn Einen eine "edle und schöne Regung" bewegt, so sind seine Worte recht, "füglich", und sie werden frei verkündet. Das üble Wort ist Un-fug: es überschreitet das Mass. Es begeht eine Hybris.
Der altgriechische Geist ist, nach einem Wort des Gräkisten Jakob Burckhardt, "agonal". ΑΓΩΝ, Agon, ist Kampf. Das Edle und Schöne kommt nicht vorbehaltlos ans Licht. Die Zunge wehrt dem üblen Wort. Gerade diese Wehr leistet die Hemmung der Scheu. Sie nötigt Einen, wenn das üble Wort dabei ist, sich zu äussern, den Mund zu halten. Nur so kann die Zunge erst und nur sagen, was füglich ist.
In einem Fragment Heraklits heisst es:
Denn die Sonne wird die Maße nicht überschreiten; ansonsten werden sie die Erinyen, der Dike (des fügenden Fugs) Schergen, ausfindig machen.
Wird die Sonne das Mass überschreiten, dann werden die Erinyen, diese Ungeheuer der Schuldzuweisung, der Rache und der Aufrechterhaltung des Füglichen, sie zurechtweisen. Die Erinyen wären, genauso wie die Scheu, die entscheidende Abwehr für das Hüten des Masses, den Endsieg des fügenden Fugs. Der heute noch bestehende phänomenologische Zusammenhang zwischen Scheu und Schuldgefühlen dürfte auf diese Anfänge zurückgehen.
In der Folgezeit, schon im Altertum, geht vom Mass keine bindende, fügende Kraft mehr aus. An seine Stelle treten die Gesetze der Kirche und des Staats, wie auch die ungeschriebenen Gesetze der jeweiligen Moral. Hier ist die Scheu Abwehr gegen das Verletzen der Gesetze. Die hier gemeinte Scheu scheut sich nicht mehr vor dem Üblen und Unfüglichen, sondern vor dem rechtlich oder moralisch Verbotenen.
Heute haben selbst die Gesetze keine immanente Kraft mehr. Nur die allgegenwärtige Überwachung kann vor ihrem Verletzen abschrecken. Die Vergessenheit sowohl der bindenden Kraft des Masses, als auch der disziplinierenden Macht des Gesetzes, bringt die Austreibung der Scheu, bringt die Ab-scheu mit sich. Aber die Scheu steht, wie gesagt, in einem innigen Verhältnis zur Verborgenheit. Heidegger:
Sie ist das verhaltene Verborgen-bleiben vor dem Nahen des Anwesenden.
Und weiter:
So ist denn die Scheu und alles ihr verwandte Hohe im Licht des Verborgenbleibens zu denken.
Die Pandemie der heutigen Ab-scheu thematisiert Heidegger an einer Stelle, wo er von der Neuzeit spricht:
Neuzeit. (...)
Daß nichts Ungesprochenes mehr bleibt und scheu verwahrt wird.
Daß alles ausgesprochen wird (...).
Daß "Indiskretion" herrscht. Nichts Diskretes - keine Scheu und keine Ehrfurcht.
Was heisst Indiskretion? Diskretion kommt vom lateinischen discernere, unterscheiden. Die discretio wäre also die Kunst der Unterscheidung, was und wie und wann ausgesprochen werden kann, und muss, und was nicht. Es geht auch um ein Mass der Dinge. Diskretion und Scheu gehören innig zusammen. Wir sind ihr in den Worten des Amphiaraos, sowie auch des toten Kreters begegnet.
Die Indiskretion von heute duldet keine Scheu und keine Ehrfurcht. Das Verborgene überhaupt ist ihr ein Dorn im Auge. Sie wird von einem Enthüllungszwang angetrieben. In der Psychotherapie drückt sie sich am entschiedensten in dem legendären Satz Freuds aus:
Wo Es war, soll Ich werden.
Der Wahn einer restlosen Enthüllung. Freud sagt gleich:
Es ist Kulturarbeit etwa wie die Trockenlegung der Zuydersee
In der Scheu waltet Verborgenheit und in der Verborgenheit waltet Stille. Hölderlins Gedicht "Der Archipelagus" ruft den Meeresgott. Es schliesst mit den Worten:
… und wenn die reissende Zeit mir
Zu gewaltig das Haupt ergreift und die Not und das Irrsal
Unter Sterblichen mir mein sterblich Leben erschüttert,
Lass der Stille mich dann in deiner Tiefe gedenken.
Von der Tiefe spricht auch Samuel Corrado Beck. Er ist ein Fischer in Gerold Späths Roman Commedia:
Man wird es mir nicht glauben, schon gar nicht unter Fischern. Einmal habe ich eine wunderschöne, gut und gern sieben Pfund starke Regenbogenforelle wieder in den See gesetzt.
Ein andermal einen kapitalen Hecht von mindestens dreiunddreissig Pfund, und vor genau neun Jahren, im Herbst, am elften November, frühmorgens noch ganz im flachen, grauen Nebel der See und die Bucht und das Ufer wie hochgehoben, wie schwebend, da habe ich mit Müh und Not einen Wels ins Boot hineingebracht. Ein Riesenwels und im See schon seit Jahren eine grosse Seltenheit. Ein sicher über fünfzig Pfund starkes Tier. Aber auch diesen Fisch habe ich wieder in den See gegeben.
Trotzdem bin ich Fischer, das ist mein Beruf. Ich fange viel. Ich fange genügend. So viel, wie der See bei normaler Fischerei hergeben kann. Ich weiss, wo der Fisch steht, wann und wie tief, und was er annimmt oder liegen lässt, wieviel Gewicht er bringt. Ich hatte aber jedesmal das Gefühl, es bringe mir Unglück, den Fisch zu behalten. Wie beim Fischer im Märchen. Ich habe nie etwas davon erzählt bis jetzt. Es wäre aber folgenschwere Sünde gewesen, diese drei herrlichen Fische in den Fischkasten zu sperren. Ich bin sicher, dass andere Fischer manchmal auch einen Hecht oder sonst einen schönen Fisch wieder springen lassen. Man darf den Fischen die Könige und Königinnen, Prinzen und Prinzessinnen nicht wegfangen, sonst gibt die Tiefe nichts mehr her. Man muss ein Mass und ein Gespür haben für die Wirbel und Strömungen unter dem Kahnboden, Da ist viel los, wir haben keine Ahnung. Man muss wissen, dass das Leben hier zu kurz ist, um es mit kapitalen Fängen garnieren zu wollen und mit Prahlen zu vertrödeln.
Die Trockenlegung der Zuydersee… Die Tiefe wurde ans Offene gezerrt. Das Verborgene ausgeleuchtet. Freuds Schlachtruf war ein vorausgeworfener Schatten der Umwälzung, die zur heutigen Transparenzgesellschaft geführt hat. Transparenzgesellschaft ist der Titel eines Buches des Philosophen Byung-Chul Han. Er schreibt:
Distanz und Scham lassen sich nicht in die beschleunigten Kreisläufe des Kapitals, der Information und der Kommunikation integrieren. So werden alle diskreten Rückzugsräume im Namen der Transparenz beseitigt. Sie werden ausgeleuchtet und ausgebeutet. Die Welt wird dadurch schamloser und nackter.
Die Ab-scheu lässt Hölderlins "reissende Zeit" im Sinne der Beschleunigung aller Abläufe freien Lauf. Die reissende Zeit lässt keinen Abstand, keine Weiträumigkeit zu, weil das Weiträumige das Weilen, das Warten, das Kontemplative, das Abwesen schlechthin bedeutet. Heidegger:
Was geht da vor sich, wenn durch das Beseitigen der großen Entfernungen alles gleich fern und gleich nahe steht? Was ist dieses Gleichförmige, worin alles weder fern noch nahe, gleichsam ohne Abstand ist?
Alles wird in das gleichförmig Abstandslose zusammengeschwemmt.
Dazu Han:
Die Transparenz ist letzten Endes die "totale Promiskuität des Blickes mit dem, was er sieht", nämlich die "Prostitution". Er setzt sich permanenten Strahlungen der Dinge und Bilder aus. Die fehlende Distanz macht die Wahrnehmung taktil und abtastend. Die Taktilität bezeichnet einen berührungslosen Kontakt, ein hautnahes "Aneinanderstoßen von Auge und Bild". Aufgrund fehlender Distanz ist keine ästhetische Betrachtung, kein Verweilen möglich. Die taktile Wahrnehmung ist das Ende der ästhetischen Distanz des Blicks, ja das Ende des Blicks. Die Distanzlosigkeit ist nicht die Nähe. Sie vernichtet sie vielmehr. Die Nähe ist reich an Raum, während die Distanzlosigkeit den Raum vernichtet. Der Nähe ist eine Ferne eingeschrieben. Sie ist daher weit. So spricht Heidegger von einer "reinen die Ferne aushaltenden Nähe". Der "Schmerz der Nähe der Ferne" ist aber eine Negativität, die es zu eliminieren gilt. Die Transparenz entfernt alles ins gleichförmig Abstandlose, das weder nahe noch fern ist.
Die Ab-scheu hat natürlich auch in die Psychologie Einzug gehalten. Vielleicht ist die Psychologie als solche ab-scheulich - ihr fehlt die Scheu. Sie zerrt alles "in das gleichförmig Abstandslose". So z.B. das freudsche Unbewusste: ein Brei, wo Traum und Wachen, Vergangenheit und Gegenwart, Selbst und Anderes, Pathologie und Normalität kaum voneinander zu unterscheiden sind. Ähnliches gilt vom letzten Schrei, der Hirnphysiologie und der Mär rund um das DNA. So ist auch überall in der Therapie, wo man am Symptom, wie man sagt, "arbeitet", wo die Lösung auf der Ebene des Problems angestrebt wird, z.B. in der Verhaltenstherapie und im Life-Coaching, wo weder die Therapeuten noch ihre Klienten eine Ahnung von Sprung, Kehre und Erwachen mehr haben.
Wenn die Scheu in Bezug zum Verborgenen steht, und die Ab-scheu für die Trockenlegung seiner Tiefen, dann ist das, was wir "Psyche" nennen, eine Figur des verborgenen Inneren, das ausgeleuchtet werden muss. Die "Psyche" wird zum Namen für die Innerlichkeit, die in der Neuzeit zunächst einmal konstituiert und dann ab-scheulicherweise kaputtgedeutet und trockengelegt wird. Sie ist von der Psyche, die in einem Fragment Heraklits erwähnt wird, abgründig verschieden:
Der Psyche Grenzen kannst du nicht ausfinden, und ob du jegliche Straße abschrittest; so tiefen Logos hat sie.
Ironischerweise steht der Anfang dieses Fragments vor dem Hörsaal der Psychiatrischen Universitätsklinik "Burghölzli" in Zürich - in griechischen Buchstaben sogar. Vielleicht deswegen bleibt das Wort Heraklits den meisten unverständlich. It's Greek to them, lautet ein amerikanischer Ausdruck.
Die heutigen Pathologien, etwa die narzisstischen Störungen, die Depression, die Panikattacken, das Burnout, können als Auswüchse der sich ausbreitenden Ab-scheu gesehen werden. Sie entstehen dort, wo keine Tiefe, so wie sie Hölderlin, der Fischer oder Heraklit besingen, einen scheuen Aufenthalt beim Verborgenen schenken kann:
- Der Narzisst sieht und hört nur noch sich selbst. Er nimmt alles in Bezug zu sich selbst wahr. Vor seinen Augen breitet sich die Welt als eine Wüste des Selbst aus. Das Andere, das Rätsel des Anderen, das Erdbeben bei der Ankunft des Anderen, die Scheu vor dem Anderen ist ihm abhanden gegangen.
- Die Schuld wird ab-scheulich, wenn sie meint, alles verantworten zu müssen. Sie geht auf eine morbide Hypertrophie des Ich zurück, das glaubt, es sei die Ur-sache schlechthin.
- Die Panikattacke, die sich oft als Sterbenspanik zeigt, gehört zu einem ausgetrockneten, auf sich gestellten, blossen Leben, das die Tiefen seiner Geheimnisse abgeschrieben hat.
- Das Burnout ist die Erschöpfung des Leistungssubjekts, da die Leistung bestehen kann, wenn sie sich selbst masslos ins Unendliche übersteigt.
Das Verstehen des Anderen wäre ab-scheulich. Die Empathie, die Einfühlung, das sich-Versetzen in sein Inneres ist ab-scheulich. Wenn Einer mir z.B. sagt, es sei ihm elend, oder er habe Angst, oder er sei verliebt, und ich meine, ich wisse, wie er sich fühlt, weil mir derartige Erfahrungen bekannt seien, dann täusche ich mich und ich täusche ihn. Die Einfühlung nährt bloss den Narzissten, der den Anderen nach seinem Vorbild vorstellt und so ihn seiner Andersheit beraubt. Die Begegnung birgt keine Tiefen und keine Geheimnisse mehr.
Wenn der Titel "Psyche" für den "psychischen Apparat" der Psychoanalyse, oder für die "Black Box" der Systemtheorie und der Informatik steht, und wenn diese transparente, dumpfe, verdorrte Psyche zur dominanten Vorstellung unseres Selbstverständnisses avanciert ist, dann ginge es in der Psychotherapie darum, demjenigen, der den Therapeuten aufsucht, einen Weg aus dem Ab-scheulichen heraus zu zeigen. In dieser Hinsicht wäre das Heilende gerade die Abkoppelung von den psychologischen und psychiatrischen Abarten der Psyche und ein Erwachen der Scheu.
Wegweisend ist hier das Werk der grössten Denker des vorigen Jahrhunderts, Martin Heidegger und Ludwig Wittgenstein. Sie haben die Zeichen der Zeit erkannt und, jeder auf seine Art, die Vorstellungen der Psyche, des Bewusstseins, des Subjekts ein für allemal in Frage gestellt. Die Psychologie und die Psychiatrie sind nicht nachgekommen. Sie verdanken ihre Entstehung und agieren immer noch im Gravitationsfeld der Weltanschauung des 18. und 19. Jahrhunderts. Gion Condrau, der Direktor des damaligen Zürcher Daseinsanalytischen Instituts sagte einmal, eigentlich gehe es nicht um eine Tiefen- sondern um eine Oberflächenpsychologie. Bloss diese Oberflächen wären, was Jean Baudrillard "abîmes superficiels" nennt, Oberflächen-Abgründe.
Die Lehren dieser und anderer Denker, aber auch der wegweisenden Werken der Kunst und der Dichtung lassen sich in der Psychotherapie nicht unmittelbar, etwa durch Didaktik und Anweisungen anwenden. Wie die Scheu gebietet, werden sie still am lebendigen Beispiel des Therapeuten mit-geteilt, und zwar so, wie er sie sich jeweils angeeignet hat.
Mein Vorgehen ähnelt dem eines Künstlers. Denn was uns in den Werken der Kunst und der Dichtung anspricht, ist, dass sie präsentieren, was wir ohnehin je schon wussten, aber nie haben sagen oder besingen oder darstellen können. Etwa ähnlich lasse ich meinen Gegenüber, wie schon erwähnt, durch meinen Mund sprechen. Ich vergeude keine Gedanken über ihn. Seine Andersheit, das Geheimnis unserer Begegnung bleibt bewahrt.
Sie sind meine Stimme,
sagte mir eine Frau kürzlich.
In der psychotherapeutischen Ausbildung gibt es die sogenannten Kontrollstunden, wo mit jüngeren Kollegen über ihre Therapien gesprochen wird - nur da geht es überhaupt nicht um Kontrolle, um ihnen Rechtes und Falsches aufzuzeigen, sie in das Prokrustesbett meines Vorbilds hineinzuzwängen. Diese Kontrolle wäre ab-scheulich. Ab-scheulich wäre ebenfalls der englische Terminus "supervision", der kontrollierende und urteilende Blick ex cathedra. Ich höre ihre Erzählung, durch klärende Fragen versuche ich, die Situation plastisch mir vor Augen zu führen, ich finde mich in jener Stunde als Therapeut vor, und die Seminarteilnehmer werden Zeugen meiner Präsenz, meines Tuns und Lassens in jener Stunde. Dadurch lernen die Jüngeren einen Therapeuten kennen. Indem sie mit ihm auf diese Weise ins Gespräch kommen, werden sie mit der Zeit ihren eigenen Weg finden und gehen.
Vor Jahren in einem Seminar stellte mir eine Kandidatin eine Frage, die immer wieder in meinen Ohren klingt: "Mit einer solchen Mentalität, wie kommen Sie in dieser Welt zurecht?" Einmal hat man einen Tausendfüssler gefragt, wie er es schaffe, beim Gehen alle tausend Füsse miteinander zu koordinieren. Seitdem ihm diese Frage gestellt wurde, hat der Tausendfüssler nicht mehr gehen können. Damit ich weiter gehen kann, möchte ich dieser Frage nicht nachgehen, obwohl sie mich, wie gesagt, ständig verfolgt.