Das Wort "Kehre". Nach Duden ist die Kehre
Wendung, scharfe Kurve [einer Straße] (sodass nach deren Passieren [fast] die Gegenrichtung erreicht wird)
Heideggers "Kehre" bezieht sich nicht auf Strassenführung, sondern auf sein Denken nach den späten dreissiger Jahren. Seltsame Kehre: Sie folgt keinem vorgezeichneten Weg, keiner vorgezeichneten Wendung. Es sind, so Heidegger,
Wege,
Wege des Denkens, gehende selber
Dies deshalb, weil, sagt er noch,
Wir kommen nie zu Gedanken.
Sie kommen zu uns.
Schon dieser Satz ist für den Psychotherapeuten relevant. Der Therapeut hat als denkendes Subjekt zurückzutreten, damit die Gedanken kommen. Das kann aber nie aus eigener Intention erfolgen.
Ich erinnere mich an "High Spirits", einen Film von 1988. Peter Plunkett hat in Irland ein altes Schloss geerbt. Er steckt bis über beide Ohren in Schulden. Um das Schloss zu retten, kommt Peter auf eine Idee: Er macht es zu einem Geisterschloss für Touristen. Die Angestellten von Schloss Plunkett versuchen alles, um den Touristen das Gruseln beizubringen, versagen aber erbärmlich. Schon am nächsten Morgen will die Gruppe abreisen. Gerade dann, wo, ach du lieber Augustin, alles ist hin, gerade dann bricht ein heftiger Wind los und da sind sie, die echten Geister des Schlosses.
Die Leute, die zum Therapeuten kommen, stecken mehr oder weniger in einer Sackgasse. Sie sind mit ihrem Latein am Ende. Meistens erwarten sie vom Therapeuten, dass er irgendwie eine Öffnung in der Sackgasse ausfindig macht, dass sein Latein weiter reicht als das ihre. Dieser wird nicht in ihrem Sinne mitmachen. Er wird, mit seiner Kunst, den Mann / die Frau ermuntern, an der Sackgasse zu verweilen, sich auf weiteres "Machen", sogar auf Gedanken-Machen zu verzichten. Gefragt ist ein inniges Vertrauen an die Sachen selbst, ein Verbleiben, schreibt Heidegger, "am Wind der Sache". Momentaufnahme aus einer Analyse:
Sie: Jetzt, wo ich es eingesehen habe und Verbindungen gemacht habe, was mache ich jetzt?
Ich: Es wird was mit Ihnen machen.
Sie: Wie?
Ich: Es hat wohl seine Art.
Sie: Oft bin ich voreilig.
Die Freiheit, die in den freudschen Titeln "freie Assoziation" in Bezug auf den Analysanden und "freischwebende Aufmerksamkeit" in Bezug auf den Analytiker angesprochen wird, läuft letzten Endes auf die Befreiung von sich selbst hinaus, d.h. auf ein Sich-Lösen von dem, was Heraklit ΙΔΙΟΣ ΚΟΣΜΟΣ, "Eigenwelt" nennt, sie läuft auf eine Befreiung vom Gedankenmachen, Befreiung von der Selbstkapsel sogar, um eine Wendung von Medard Boss zu paraphrasieren, zugunsten der zur Sprache kommenden Sachen hinaus. In einer guten Stunde könnten dann die "echten Geister" kommen. Es kann eine "Kehre" ereignen.
Somit wären wir wieder bei Heideggers Wort angelangt. Die "Kehre" wird, wie gesagt, als der Übergang von seinem früheren zu seinem späteren Denken dargestellt. Die Kehre als Kehre, das Ereignis solch eines Kehrens, ist eine andere Sache. Heute werde ich versuchen, bei dem Kehren selbst zu verbleiben, nämlich bei dem, was die Kehre als Kehre überhaupt anstimmt und be-wegt.
"Sein und Zeit" beginnt bekanntlich mit einem Satz aus Platons Dialog "Sophistes":
Denn offenbar seid ihr doch schon lange mit dem vertraut, was ihr eigentlich meint, wenn ihr den Ausdruck seiend gebraucht, wir jedoch glaubten es einst zwar zu verstehen, jetzt aber sind wir in Verlegenheit gekommen.
".... wir jedoch glaubten es einst zwar zu verstehen, jetzt aber sind wir in Verlegenheit gekommen.", sagt der am Dialog teilnehmende Fremde. Das griechische Wort für "Verlegenheit" ist ΑΠΟΡΙΑ, Aporie. Poros ist Weg. A-poria ist Weglosigkeit. Die Weglosigkeit tritt selten in Reinkultur auf. Meistens verbirgt sie sich hinter verschwommenen Fragen und verlegenen Antworten. Diejenigen z.B., die einen Therapeuten aufsuchen, haben oft eine gewisse Vorstellung, wie es um ihr Leiden steht und was es braucht, damit die Heilung erfolgt. Was sie kaum wissen ist, dass ihre Vorstellungen von Leid und Heilung Auswüchse eben der Stōrung sind, die das Leid hervorgebracht hat. Der Therapeut kann, immer mit seiner Kunst, die Möglichkeit erwachen lassen, dass der Boden gereinigt, der Wirrwarr beiseite gelassen und die reine Aporie ausgehalten, ja zu einem Aufenthaltsort wird. Wobei zu beachten ist, dass diese Aporie reflexiven Charakter hat: man wird zur Aporie, man wird zum Fragezeichen selbst. In der Weglosigkeit der Aporie entgleiten nicht nur die Dinge. Mitsamt den Dingen entgleitet der angesprochene, oder eben angeschwiegene Mensch.
Bei Heidegger tritt die Aporie in verschiedenen Gestalten auf. Eine von diesen ist, was er "Angst" nennt. Er schreibt:
Die Angst lässt eine solche Verwirrung nicht mehr aufkommen. Weit eher durchzieht sie eine eigentümliche Ruhe.
Wir "schweben" in der Angst. Deutlicher: die Angst lässt uns schweben, weil sie das Seiende im Ganzen zum Entgleiten bringt. Darin liegt, dass wir selbst - diese seienden Menschen - inmitten des Seienden uns mitentgleiten. Daher ist im Grunde nicht "dir" und "mir" unheimlich, sondern "einem" ist es so.
Diese Angst wäre die Kehrseite der alltäglich erfahrenen Angst, die ja keineswegs als "Ruhe" erfahren wird. In den Augen des geneigten Therapeuten erscheint die unruhige Angst seines Patienten, um ein Wort des japanischen Denkers Keiji Nishitani zu gebrauchen, in einer "Doppelbelichtung": Er erfährt seine Ängstlichkeit mit, und zugleich kehrt bei ihm jene "eigentümliche Ruhe" ein. Aus dieser Stimmung heraus werden die rechten Worte kommen und in diese Stimmung wird der Patient, wenn überhaupt, früher oder später eingestimmt. Diese Ein-stimmung, die im nicht kognitiv vermittelten, sondern geleibten, wenn ich so sagen darf, Sagen und Schweigen des Therapeuten stattfindet, wäre das eigentlich Heilende.
Ein weiteres Wort Heideggers für die Aporie wäre die "Langeweile":
Alles Seiende entzieht sich uns ohne Ausnahme in jeder Hinsicht, alles, worauf wir hinsehen [...], in jeder Rücksicht, alles Seiende, worauf wir zurücksehen als Gewesenes und Gewordenes und Vergangenes, alles Seiende, in jeder Absicht, worauf wir es absehen als Künftiges.
Es ist eigenartig, dass im alltäglichen Sprachgebrauch das Wort alles andere bedeutet, als was es selber sagt. Denn gerade dem auf Langeweile Gestimmten ist die Möglichkeit abhanden gekommen, bei einer Sache zu verweilen: er hat keine Ahnung, was das heisst, das lange Weilen. Heidegger:
Weilen heißt: währen, stillbleiben, an sich und innehalten, nämlich in der Ruhe. Goethe sagt in einem schönen Vers: 'Die Fiedel stockt, der Tänzer weilt.'
Dazu der deutsch-koreanische Philosoph Byung-Chul Han in Anspielung auf eine mögliche Kehre:
In dem Moment, in dem der Tänzer in der Bewegung innehält, wird er des ganzen Raumes gewahr. Diese zögernde Weile ist die Voraussetzung dafür, daß ein ganz anderer Tanz beginnt.
Das Verweilen bei … ist ein Moment dessen, was Heidegger das "besinniliche Denken" nennt. Dieses, schreibt er, ist "arm":
Die Armut der Besinnung ist jedoch das Versprechen auf einen Reichtum, dessen Schätze im Glanz jenes Nutzlosen leuchten, das sich nie verrechnen läßt.
Die Alten nannten es ΒΙΟΣ ΘΕΩΡΗΤΙΚΟΣ, "vita contemplativa". Das besinnliche Denken ist arm, weil es sich dem "Nutzlosen" verschrieben hat, das sich nie "verrechnen" lässt, und gerade deswegen einen "Glanz" und einen "Reichtum" in sich birgt.
Die psychoanalytische Grundregel kann als Aufruf zum Nutzlosen gehört werden. Freud sagt nämlich zu seinem Patienten:
Sie werden beobachten, daß Ihnen während Ihrer Erzählung verschiedene Gedanken kommen, welche Sie mit gewissen kritischen Einwendungen zurückweisen möchten. Sie werden versucht sein, sich zu sagen: Dies oder jenes gehört nicht hieher, oder es ist ganz unwichtig, oder es ist unsinnig, man braucht es darum nicht zu sagen. (...) Sagen Sie also alles, was Ihnen durch den Sinn geht.
Die Grundregel wäre zugleich eine Einladung zum Verweilen. So Freud:
Benehmen Sie sich so, wie zum Beispiel ein Reisender, der am Fensterplatze des Eisenbahnwagens sitzt und dem im Inneren Untergebrachten beschreibt, wie sich vor seinen Blicken die Aussicht verändert.
Ähnlich ginge es dem "im Inneren Untergebrachten", also dem Analytiker. Freud:
Man halte alle bewußten Einwirkungen von seiner Merkfähigkeit ferne [...] Man höre zu und kümmere sich nicht darum, ob man sich etwas merke.
In diesem Sinne wäre die Analyse eine Akklimatisierung in das Verweilen beim Nutzlosen, das nur glücken kann, wenn das Gasthaus des Analytikers sich in einer Gegend befindet, die eben von jenem Klima geprägt ist. Heilend wäre schon diese, um an ein Wort Heideggers zu erinnern, "Gelassenheit" des Analytikers. Ihre Grundstimmung wäre die Freundlichkeit, wenn wir sie nach einem alten Zen-Wort erfahren: Gastfreundlichkeit in einem Gasthaus, wo der Gastgeber derart jedes Eigennutzes bar, derart des eigenes Geistes abwesend ist, dass er selber zum Gast wird. Etwa so kann die Langeweile, die quälende Aporie, in ihr Wortwörtliches, in die gelassene, unbedürftige Aporie des Verweilens beim Nutzlosen einkehren. Hierher gehört, dass der Patient angehalten ist zu vergessen, dass er Patient ist und der Therapeut zu vergessen, dass er Therapeut ist - eine Einsicht, die ich Hanspeter Padrutt verdanke. Die Psychotherapie wäre daher keine Dienstleistung. Mehr dazu später.
Zunächst und zumeist wird die Aporie, die Weglosigkeit als Qual und Leid erfahren. Es gibt z.B. Menschen, die eine Vorstellung von sich haben, wie sie sein müssen, wie sie sein wollen, oder sie überlassen sich dem Diktat der Markt und des Kulturbetriebes. Verbissen versuchen sie, und dabei üben sie an sich ungeheure Gewalt aus, diese Vorstellung für sich selbst und an sich selbst zu verwirklichen. Bewusst oder unbewusst werden sie immer erfahren, dass ihre Versuche scheitern, dass es nicht in ihrer Hand liegt, ihr Sein selbst zu gestalten, dass ihr Sein, ihre ΦΥΣΙΣ, Natur, irgendwie irgendwann alles Müssen und alles Wollen und alle Vorbilder durchbrechen wird. Heidegger erwähnt es in einer Vorlesung aus den 30er Jahren:
Die Gewalt-tätigkeit gegen die Übergewalt des Seins muß an dieser zerbrechen, wenn das Sein als das waltet, als was es west, als φύσις [...]
[...] Da-sein [...] heißt: Gesetzt-sein als die Bresche, in die die Übergewalt des Seins erscheinend hereinbricht, damit diese Bresche selbst am Sein zerbricht.
Selten ahnen die Menschen den im Dasein eingemeisselten Bruch, die Wunde, die allem Wollen und aller Unwille, allem Müssen und Lassen, allem Hoffen und Befürchten einen Streich spielt. Sie machen weiter um den Preis einer existenziellen Schrumpfung, als dürftige Überbleibsel, ja als Abarten ihrer vollen Existenz. Solche Existenzen beschreibt Zarathustra:
Ich sehe und sah [...] Menschen, denen es an Allem fehlt, ausser dass sie Eins zuviel haben - Menschen, welche Nichts weiter sind als ein grosses Auge, oder ein grosses Maul oder ein grosser Bauch oder irgend etwas Grosses, - umgekehrte Krüppel heisse ich Solche.
Und als ich aus meiner Einsamkeit kam und zum ersten Male über diese Brücke gieng: da traute ich meinen Augen nicht und sah hin, und wieder hin, und sagte endlich: ‘das ist ein Ohr! Ein Ohr, so gross wie ein Mensch!’ Ich sah noch besser hin: und wirklich, unter dem Ohre bewegte sich noch Etwas, das zum Erbarmen klein und ärmlich und schmächtig war. Und wahrhaftig, das ungeheure Ohr sass auf einem kleinen dünnen Stiele, - der Stiel aber war ein Mensch! Wer ein Glas vor das Auge nahm, konnte sogar noch ein kleines neidisches Gesichtchen erkennen; auch, dass ein gedunsenes Seelchen am Stiele baumelte. Das Volk sagte mir aber, das grosse Ohr sei nicht nur ein Mensch, sondern ein grosser Mensch, ein Genie. Aber ich glaubte dem Volke niemals, wenn es von grossen Menschen redete - und behielt meinen Glauben bei, dass es ein umgekehrter Krüppel sei, der an Allem zu wenig und an Einem zu viel habe.
Oft haben die Menschen keine Ahnung, was da ihnen geschieht. Verfallen in die Vergessenheit ihres Da-Seins, glauben sie, dass sie sich mehr anstrengen müssen, um sich selbst zu gestalten. Es führt dazu, dass sie ihr Da-Sein durch ihre "Machenschaften", ein weiteres Wort Heideggers, verunstalten. Zuweilen führt das Scheitern dieser Anstrengungen, das "Ich kann nicht mehr" zur Aporie der Weglosigkeit. Es liegt am Therapeuten, das Fingerspitzengefühl seines Gesprächspartners für die "Übergewalt des Seins" wachzurufen.
Bis jetzt haben wir einige Wege erkundet, die in die quälende Aporie als Angst, als Langeweile, als Zerbrechen und Bresche einmünden. Gefragt, ersehnt wäre eine Kehre, die in all diesen Phänomenen verborgen liegt. Wie kann nun die Aporie die Möglichkeit einer Kehre eröffnen? In der Aporie sind die bisherigen Wege zu "Holzwegen" geworden. Zu diesen sagt Heidegger:
Holz lautet ein alter Name für Wald. Im Holz sind Wege, die meist verwachsen jäh im Unbegangenen aufhören. Sie heißen Holzwege. [...] Holzmacher und Waldhüter kennen die Wege. Sie wissen, was es heißt, auf einem Holzweg zu sein.
Im Gravitationsfeld der Aporie ist man auf dem Holzweg. Was für eine Kehre ist auf dem Holzweg überhaupt möglich? Meistens ist es eine einfache Kehrtwendung, wo man, oft mit Hilfe der Psychiatrie und der Psychologie, zum Gewohnten zurückfindet. Oft geht man ein Leben lang den Holzweg immer wieder hin und zurück. Ab und zu kommt die Zeit, wo auch der Weg zurück sich zum Holzweg verwandelt.
Je radikaler zurückbleibt, was man auf seinen bisherigen Wegen alles mitbringt, je umfassender der Strudel der Aporie eine Lebensgeschichte mit hineinzieht, desto reiner kommt die quälende Aporie zum Vorschein, desto klarer waltet in der quälenden Aporie ein nostalgischer Zug. Nostalgie ist ein griechisches Wort. Es ist zusammengesetzt aus ΝΟΣΤΟΣ, Heimkehr, und ΑΛΓΟΣ, Schmerz. Die Aporie wird zu einem schmerzvollen Warten auf Unerwartetes. T. S. Eliot, "East Coker":
Ich sprach zu meiner Seele: sei still und warte, ohne zu hoffen,
Denn Hoffen wäre auf Falsches gerichtet; warte ohne zu lieben,
Denn Liebe wäre auf Falsches gerichtet; da ist noch der Glaube,
Doch Glaube und Liebe und Hoffen sind alle im Warten.
Warte ohne zu denken, denn zum Denken bist du nicht reif
Gewöhnliche Nostalgie und aporetische Nostalgie: jene weiss, was sie ersehnt, diese nicht. Jene ist Schmerz um etwas, diese ist reiner Schmerz, ist, wie Heidegger sagt,
(...) Schmerz der Nähe des Fernen.
Wie steht es mit der Nähe des Fernen? Die psychologisierte Nostalgie wird als ein Gefühl vorgestellt. Wenn wir aber das Gefühl als Gestimmtsein, und das Stimmen am Beispiel eines Musikinstruments erfahren, dann stellt sich die Frage: Worauf ist der Nostalgiker gestimmt? In welchem Bezug gehört sein Schmerz? Hier erwähne ich einen schönen Ausdruck Heideggers, den er in einem anderen Zusammenhang bringt: das Unzugängliche-Unumgängliche. Der Schmerz wäre ein Name für das Gestimmtsein auf die Nähe (Unumgängliches) des Fernen (Unzugängliches).
Meistens kippt man auf die eine Seite dieses in sich schwebenden Sachverhalts:
Das Unumgängliche. Man bildet sich ein, es umgehen zu können. Meistens hat man sogar keine Ahnung von seinem Irrtum, ja von seinem Irrsinn. Es sind die Bewohner einer, wie Hölderlin schreibt, "dürftigen Zeit". Das Dürftige hat allerlei Fülle umgangen: Aus der Sprache hat es die Information herausdestilliert, aus dem Menschen den Konsumenten, aus dem Anderen ein Selbstbild, aus dem Eros den Sex und aus dem Sex die Pornographie. Gegen den Schmerz hat das Dürftige die Psychiatrie und die Psychologie auf den Plan gerufen, es hat die Tunnel der Psychopharmaka, der Verhaltenstherapie, des Life Coaching errichtet.
Das Unzugängliche. Man glaubt, auf es doch zugehen zu können. Es sind diejenigen, die sich in einer Sehnsucht nach Unerreichbarem verstricken, z.B. nach den Kinderjahren, oder nach einem Verstorbenen. Es kann auch Sehnsucht nach nie Ereignetem sein, z.B. nach Bildern, Vor-Bildern, denen die Eltern, der Partner, die Kinder, die Fussballmannschaft, ja die Welt angleichen sollten. Diese Nostalgie ist, wie Eliot sagt, auf Falsches gerichtet. Dieser Schmerz ist eher eine Misere die, nach einem chinesischen Ausdruck, einem tropfenden Dach gleicht. Der Therapeut kann, statt diese Nostalgie zu analysieren, zu interpretieren, zu verarbeiten, mit seiner Kunst, betone ich immer wieder, ihr Falsches aufzeigen und dem Leidenden die Möglichkeit eröffnen, diese letztlich autoerotische Phantasmen fallen zu lassen. Somit wäre der Weg der aporetischen Nostalgie, der Weg des reinen Schmerzes offen. Wie weit diese Bewegung reicht, ist verschieden. Auf jeden Fall nur derjenige Therapeut, der in beiden Arten der Nostalgie heimisch ist, wäre imstande, Einen entsprechend zu leiten.
Meine Frage lautete: Wie kann die Aporie, die Weglosigkeit in der Form der Angst, der Langeweile, des Zerbrechens, der Nostalgie und des Schmerzes die Möglichkeit einer Kehre eröffnen? Wie kann es zur "eigentümlichen Ruhe" der Angst kommen? Wie kann die Langeweile ein Verweilen bei… einleiten? Wie kann die Bresche zur Öffnung werden? Wie kann die Misere einem reinen Schmerz als Aufenthalt in der Gegend des Unzugänglichen-Unumgänglichen weichen?
Es gibt keine Antwort. Schon die Frage ist verfehlt. Denn die Antwort auf ein "Wie?" setzte voraus, dass es eine Kontinuität in der Kehre bestünde, dass die Kehre eine Αrt Prozess wäre, also letztendlich eine Fortsetzung des Gleichen. Dann aber wäre sie keine eigentliche Kehre, da diese nach Heidegger den Charakter eines "Sprunges" hat. Wie sich eine Kehre ereignet, mag uns Einiges aus Heideggers Text "Aus der Erfahrung des Denkens" ahnen lassen:
Wenn unter aufgerissenem Regenhimmel
plötzlich ein Sonnenschein über das Düstere der Matten
gleitet...
Wenn im Vorsommer vereinzelte Narzissen
verborgen in der Wiese blühen und die
Bergrose unter dem Ahorn leuchtet…
Wenn in den Winternächten Schneestürme
an der Hütte zerren und eines Morgens die
Landschaft in ihr Verschneites gestillt ist…
Etwa so ereignet sich eine Heilung in der Psychotherapie. Eines morgens ist alles einfach anders, oft derart anders, dass man sich kaum an die Sachen erinnert, die ihn gequält haben. Denn eine Erinnerung ist nur möglich, wenn das Subjekt des Erinnerns sich selber bleibt und so einen Unterschied zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem feststellen kann. Wenn aber solch eine Kehre ereignet, wo der Kehrende selbst mit erfasst ist, dann schwindet das Vergangene mitsamt dem Vergangenen, oder höchstens es löst sich von seiner Chronologie, seiner Datierbarkeit und nunmehr weilt es an dem Ort eines "Es war einmal…" in eins mit einem "Ich war einmal…". Oder es ist, wie wenn man z.B. ein altes Lied hört, oder einen Ort von früher wieder besucht, und dies alles wie von einem Grab heraus, als ein Toter, als ein nunmehr Unbeteiligter erfährt. Heilung in diesem Sinne heisst Vergessen, und Vergessen in diesem Sinne heisst, dass eine Lebensgeschichte ins Verborgene gestillt wird.
In der Kehre bleibt meistens alles gleich und doch ist alles anders, wie z.B. dieselbe Melodie in einer neuen Modulation. Ein Beispiel findet sich bei Heidegger selbst. In einem Vortrag kehrt sich die Sache in dem Augenblick, wo die Betonung eines einzigen Wortes sich ändert: Statt "ZUSAMMENgehören" sagt er "zusammenGEHÖREN".
Gedanken, die mit Taubenfüssen kommen, lenken die Welt,
heisst es in Nietzsches "Zarathustra". Gedanken, die mit Taubenfüssen kommen, sind kaum merkbar. Das heisst, diese Gedanken haben kaum Gewicht, haben kaum Substanz. Ensprechend substanzlos muss auch das Subjekt des Hörens sein, damit es diese Gedanken empfängt und ins Werk setzt. Schon die Namen "Gedanken" und "Subjekt" vermögen nicht, das zu nennen, was da vor sich geht. Heidegger:
Die Sage des Denkens wäre erst dadurch in ihr Wesen beruhigt, dass sie unvermögend würde, jenes zu sagen, was ungesprochen bleiben muß.
Solches Unvermögen brächte das Denken vor seine Sache.
Fürs erste wollen wir festhalten, dass das Sagen sich irrt, wenn es meint, alles sagen zu können. Dem Sagen wohnt ein Unvermögen inne. Für die Wissenschaft, inklusive Psychologie, wäre dies ein Mangel. In einer Analysestunde sagte eine Frau jedoch:
Ich mag Ihre Stimme … Das Schweigen … Wenn Sie sprechen und für eine Weile schweigen … Ich mag es, wie Sie ins Schweigen hineingehen … Es ist erholsam …
Dieses Schweigen ist nicht das Schweigen der Unkenntnis, des Ausweichens, oder der Hilflosigkeit. Es geht auch nicht um ein alternierendes Sagen und Schweigen. Es geht um ein schweigendes Sagen, oder um ein sagendes Schweigen. Ein Fragment von Heraklit sagt über den delphischen Orakelspruch:
weder entbirgt er (nur), noch verbirgt er (nur), sondern er gibt Zeichen.
Die Zeichen. Weder sagen sie aus, noch verschweigen sie. Es ist uns gar nicht so fremd, wie wir auf den ersten Blick meinen würden. Zeichen geben die Träume, die kleinen Kinder und die dementen Alten, die Narren und die Propheten. Zeichen sind die sogenannte "Körpersprache", die Sprache in der die Verführung, der Eros und der Tod sprechen. Heideggers Wort für den Menschen, Dasein, ist ein Zeichen.
Die Psychotherapie nimmt ihren Lauf inmitten von Zeichen. Vor ein paar Monaten klagte eine Frau in den Fünfzigern, ihr bleibe kaum Zeit, neue Einblicke umzusetzen und sich eine neue Lebensform anzueignen. Ich sage ihr: "Wir haben ja Zeit!". Sie lacht. Das hätte ich ihr schon vor Jahren und immer wieder gesagt, aber es sei möglich, dass sie nun schwer krank sei und keine Zeit mehr habe. Ich erzähle ihr eine alte Zen-Geschichte:
Ein Mann flieht vor einem Tiger. Er kommt an einen Abgrund, ergreift eine wilde Weinranke und schwingt sich über den Rand. Von oben schnüffelt der Tiger nach ihm, während unter ihm ein anderer Tiger knurrt und die Zähne fletscht und darauf wartet, daß er abstürze. Während er da nun hängt, fangen zwei Mäuse an, die Weinranke durchzunagen. Gerade in diesem Moment sieht er eine große wilde Erdbeere nahebei wachsen. Er streckt seine freie Hand aus und pflückt sie. Wie süß sie schmeckte!
Dieser Mann, sage ich ihr, hatte Zeit! Sie hat's gehört. Das "Wir haben ja Zeit!" bezog sich nicht auf Zeitmessung. Es bewegte sich im Gefilde der Zeichen.
Die Psychotherapie, wie bereits erwähnt, setzt schon bei der Paradoxie an, dass der Therapeut vergisst, dass er Therapeut ist, und der Patient vergisst, dass er Patient ist. Damit ist nicht gemeint, dass sie zu etwas anderem, z.B. zu Freunden werden. Es geht darum, dass sie sich von derartigen Identitäten befreien. Sie sind angehalten, in einer gewissen Weise gegen sich als Therapeut und als Patient zu denken. Heidegger:
Die böse und darum schärfste Gefahr ist das Denken selber. Es muß gegen sich selbst denken, was es nur selten vermag.
Und, wenn wir im Umkreis der Psychotherapie bleiben, was für eine Gefahr ist da im Spiel? Warum kann der Therapeut nicht Therapeut und der Patient nicht Patient bleiben? Weil, wenn diese Begegnung im Zuge einer unbedingten Freiheit steht, im Zuge eines zum Offenen geneigten Gesprächs, wie es die Grundregel und die freischwebende Aufmerksamkeit andeuten, dann können Therapeut und Patient nicht in diesen Identitäten eingezwängt bleiben. Freud ahnte es, wenn er etwa vor der Gefahr des "therapeutischen Ehrgeizes" warnte, der ja den Therapeuten als solchen traditionell bezeichnet. In diesem Sinne hat der Therapeut gegen sich zu denken. Seine Paradoxie: Weder tritt er als Therapeut auf, noch drückt er sich davor. Er wird selber zum Zeichen. Er schöpft nicht aus sich selbst, sondern aus dem Offenen, und gerade das verleiht seinem Sagen einen schweigenden Unterton, und seinem Schweigen ein freundliches, verhaltenes Grüssen.
Ein Name Celans für das Zeichen im oben erwähnten Sinne ist der "Faden":
Dünner wirst du, unkenntlicher, feiner!
Feiner: ein Faden,
Daher kann er sagen:
[...] es sind
noch Lieder zu singen jenseits
der Menschen.
Gerade das versucht Heidegger in der sogenannten "Kehre". Er versucht sich an ein Denken jenseits des Subjekts, des Ego, der Anthropologie, der Psychologie und des Existenzialismus. In einer Notiz von Elias Canetti steht noch:
Ein Land, wo einer, der 'ich' sagt, schleunigst in die Erde versinkt.
Einiges von diesem Land habe ich bisher, vor allem in seiner Relevanz für die Psychotherapie, angedeutet. Hier geht es mir jedoch, wie gesagt, nicht um das Inhaltliche der Kehre, sondern um das Ereignis des Kehrens.
Ein Meilenstein in Heideggers Rede von der Kehre ist der Vortrag "Der Satz der Identität". Dem Text dieses Vortrags fügte Heidegger nachträgliche Notizen hinzu. Viele Stellen, schon der Titel, schienen ihm problematisch und er ringte um adäquatere Formulierungen. Seine kritischen Bemerkungen betreffen schon Grundworte seines Spätwerks, darunter das Wort "Kehre". In diesen Notizen kommt wiederholt ein anderes Wort, das ihm für den zu beschreibenden Sachverhalt gemässer scheint: Nicht "Kehre" und "Einkehren" sondern "Erwachen". So z.B. an der Stelle, wo er von der "Einkehr" in die andere Betonung des ZusammenGEHÖRENS spricht. Im Vortrag selbst vergleicht er diese Einkehr mit einem Sprung:
Wohin springt der Absprung, wenn er vom Grund abspringt? Springt er in einen Abgrund? Ja, solange wir den Sprung nur vorstellen (...). Nein, insofern wir springen und uns loslassen.
Der Ausdruck "sich loslassen" schien Heidegger viel zu aktiv. In einer späteren Notiz schreibt er:
das Loslassen
sich lösen aus dem Schlaf
Dadurch wird der "Übergang" zum "anderen Denken", wie er es oft nennt, zu einem Geschehen ohne menschliches Zutun, wie eben das "sich lösen aus dem Schlaf" ist - wenn der Wecker sich nicht dazwischenschaltet. In dem Vortrag "Hebel - der Hausfreund" sagt Heidegger:
In allem, was der Hausfreund sagt, hütet er das Wesenhafte, dem die Menschen als die Wohnenden zugetraut sind, das sie freilich allzu leicht verschlafen.
Ein psychologisierender Geist würde sofort bemerken: Heidegger sagt uns nichts Neues. Das "Verschlafen" ist eigentlich der Mechanismus der Verdrängung ins Unbewusste, bloss in einer poetisch-philosophischen Formulierung gekleidet. Wobei der psychologisierende Geist Einiges übersieht: die Theorie der Verdrängung ist eine Antwort auf die Frage "Wo ist das Vergessene hingegangen?" Die Antwort macht ein Salto mortale: sie flüchtet in ein Konstrukt: "Ins Unbewusste." Die Frage fragt so wie: "Ich habe meinen Regenschirm vergessen - wo habe ich ihn bloss liegen gelassen?". Es bleibt zu bedenken, inwiefern das Denken einerseits und Sachen wie Regenschirme andererseits gleich behandelt werden können.
Heideggers Schlafwandler sind keine Konstrukte. Sie liegen vor, vor den Augen eines Erwachten. Da gibt es wohl Stufen. In der Analyse kommt es vor, dass jemand es ahnt, dass er halb narkotisiert lebt, so wie einer, der im Schlaf vergeblich versucht zu erwachen.
Was ist nun zu jenem Schlaf zu sagen, der einer Kehre, besser, einem Erwachen harrt? Der griechische Dichter Seferis zitiert in einem Essay ein Fragment des Heraklit:
Die Schlafenden sind Werker und Mitwirkende an den Sachen der Welt.
Es sind die Jahre des zweiten Weltkrieges. Seferis schreibt:
Ich sah diese "Schlafenden", mit den unheimlichsten Mitteln ausgerüstet, sich vernichten, ohne je erwacht zu sein. [...] Und ich fragte mich ständig, mit wie viel Wachsamkeit und mit wie viel Schlafwandeln die Menschheit behandelt, was in der Welt geschieht.
Die Figur des Erwachens entspricht eher der Erfahrung der psychotherapeutischen Heilung. Ich erinnere an das vorher Erwähnte:
Eines morgens ist alles anders, oft so anders, dass man sich kaum an die Sachen erinnert, die ihn gequält haben.
Was läutet nun den Übergang zu diesem Erwachen ein? Heidegger erwähnt ein altgriechisches Wort. Er sagt zu diesem Wort:
keines unserer Worte faßt ihr Wesen, auch wenn wir die anklingenden Namen zusammenbringen: Gnade, Gunst, Anmut, Glanz: das innerste Geheimnis des Edlen, das sich uns zuneigt und doch ganz in sich ruhen bleibt.
Das griechische Wort lautet: ΧΑΡΙΣ. In den "Schwarzen Heften" zitiert Heidegger zwei Verse aus einer Ode des altgriechischen Lyrikers Pindar:
Aber die alte nämlich
ΧΑΡΙΣ schläft
Hier übersetzt Heidegger ΧΑΡΙΣ mit "das schenkende Leuchten der strengen Anmut". Die pindarischen Verse lauten in seiner Übersetzung:
Aber das alte nämlich
schläft das schenkende Leuchten der strengen Anmut.
Das hier erfragte Erwachen verdankt sich einer Zuneigung der ΧΑΡΙΣ. Ja es wäre ein Erwachen der ΧΑΡΙΣ selbst. Mit dem Wort ΧΑΡΙΣ ist das "Charisma" verwandt. Im Gegensatz zum Talent, das sich auf eine angeborene Fähigkeit bezieht, und somit ein Moment des Selbst ist, ist das Charisma eine Gabe, es wird von einem ganz Anderen geschenkt - einem so ganz Anderen, dass es selbst verborgen bleibt. Heideggers Hauptwort für das ganz Andere ist "das Sein". Vielerorts übersetzt er die ΧΑΡΙΣ mit "Huld". Der Unterschied zwischen Talent und Charisma wird im folgenden Zitat aus seiner Schrift "Zu Hölderlins Dichtung des deutschen Geschickes" deutlich:
Das "Menschliche" ist Jenes, was der Mensch gemeinhin nicht und niemals von selbst ist, sondern was nur der Huld des Seyns, das in seiner Wahrheit sich ihm zu-mutet, entstammt.
Das Ereignis des Erwachens verdankt sich einer ΧΑΡΙΣ. Mit einem Charisma ist letztendlich der Therapeut begabt, ja begnadet, wenn ich so sagen darf. Aber auch derjenige, der ihn aufsucht, wird entsprechend begabt sein müssen. Nur so kann eine Heilung, die ihres Namens würdig ist, glücken.
Was kann noch zu der Erfahrung der Ankunft der ΧΑΡΙΣ gesagt werden? Die ΧΑΡΙΣ kommt, wenn überhaupt, über verschiedene Wege. Einer von diesen, der für die Psychotherapie besonders relevant ist, wird in der "Wünschelrute" genannt, ein Gedicht von Joseph von Eichendorff, das Heidegger in einer Rede zitiert:
Schläft ein Lied in allen Dingen,
Die da träumen fort und fort,
Und die Welt hebt an zu singen,
Triffst du nur das Zauberwort.
Das Zauberwort also. Wenn du es triffst, die Welt "hebt an zu singen". Diese Wendung habe ich auch an einer anderen Stelle gefunden, und zwar bei Maurice Merleau-Ponty. Er schreibt:
(...) Wenn wir den emotionalen Inhalt der Wörter in Betracht ziehen, was wir vorher ihre "körperliche Ausdrücklichkeit" nannten, was z.B. für die Dichtung äusserst wichtig ist, es könnte sich zeigen, dass die Worte, die Vokale und die Phoneme so viele Weisen sind, die Welt zu 'singen' (...)
Und Friedrich Hölderlin in dem Gedicht "Der Gang aufs Land":
wenn das Gewünschte
Wir beginnen, und erst unsere Zunge gelöst,
Und gefunden das Wort, und aufgegangen das Herz ist.
Worin unterscheidet sich so ein Wort von den blossen Wörtern? Diese sind in der Aussage eingebettet. Sie sind durch temporale, kausale und sonstige Bindewörtern in einem Beziehungsganzen miteinander verbunden. Solches Verbinden macht das aus, was wir üblicherweise mit "Denken" meinen, das von einem Subjekt vollzogen und in einer Aussage ausgesprochen wird: Zusammenbringen und Auseinanderhalten, Ordnen, Vergleichen, Urteilen, Bewerten. Das "Zauberwort" gehört nicht hierher. Es ist kein Denkakt, sondern ein Geschehen. Deswegen sieht es auf nichts ab, bleibt von aller Intentionalität unbelastet. Das "Zauberwort" nennt bloss. Es geschieht als einfache Nennung. In einem Seminar in Südfrankreich erläutert Heidegger den Unterschied zwischen Nennung und Aussage:
In der einfachen Nennung lasse ich das Anwesende sein, was es ist. Zweifellos schließt die Nennung den ein, der nennt, - aber das Eigentümliche der Nennung ist gerade, daß der Nennende in sie nur eingeht, um selbst vor dem Seienden in den Hintergrund zu treten. Dann ist das Seiende reines Phänomen.
An der Aussage dagegen nimmt der, der aussagt, teil, indem er sich einschaltet, - und er schaltet sich ein als derjenige, der sich über das Seiende beugt, um über es zu sprechen. Sobald das geschieht, kann das Seiende nur mehr als Objekt verstanden werden und der Name nur als ein Rest der Aussage.
Der Nennende, sagt Heidegger, tritt selber in den Hintergrund. Der Nennende tritt selber in den Hintergrund, d.h. er sagt nichts aus, d.h. er denkt nicht. Wie kommen die nennenden Namen, die sich jenseits der Aussage ereignen? Heidegger:
Soll aber der Mensch noch einmal in die Nähe des Seins finden, dann muss er zuvor lernen, im Namenlosen zu existieren.
Hier wäre zu beachten, dass der Mensch, seiend als ein Zeichen, vom Namenlosen durchdrungen ist. Ein Namensträger, der sich völlig in seinem Namen erschöpfte, vermöchte nie, im Namenlosen zu existieren. Je mehr er vom Namenlosen "trunken" ist, ein Wort Hölderlins, desto zeigender erklingen die Zeichen, desto tiefer atmen die nennenden Namen.
Bei einer anderen Gelegenheit habe ich den Therapeuten, als in dem Sinne Nennenden, mit dem Toten verglichen, der, wie Seferis in einem Gedicht schreibt, beraten kann, gerade da, wo die Lebenden versagen. Bei Seferis ist es der Seher Tiresias, den Odysseus in der Unterwelt aufsucht, um zu erkunden, wie er zu seiner Heimat zurückkehren kann. Ein anderes mal schien es mir, dass ich am Therapeuten, so wie an den Dichtenden und den Denkenden, den Zug einer seltsamen Depersonalisierung erkannte.
Wir sind gewohnt, die Namen als Signifikanten eines Kommunikationskodex zu betrachten. In den nennenden Namen schwingt etwas vom Zauberwort mit, das Herz geht auf und die Welt singt. Es braucht überhaupt nicht etwas Ausserordentliches zu sein. In der Analyse kann einmal der Name "Vater" fallen, und er wird gesagt, wie wenn er zum ersten Mal ausgesprochen würde, wie wenn der Vater zum ersten Mal derart lebendig, in einer sei es heiteren, sei es schmerzvollen Anwesenheit erscheinen würde. Die nennenden Namen brauchen nicht einmal, als solche ausdrücklich zur Sprache zu kommen. Zwei Momentaufnahmen aus Analysestunden:
- Er legte seine Hände auf meinen Rücken, und sie redeten. Sie redeten.
- (Sie weint und sagt:) Es ist, wie wenn er durch die Tränen Gestalt annimmt.
Beim Nennen wird der Name zum Aufenthaltsort. Dann bewohnen wir Namen. Wer wir? An einer Stelle aus Heideggers fiktivem Gespräch "Gelassenheit" fragt der Lehrer:
LEHRER Was ist das, was Sie mit dem Namen Gelassenheit benannten?
FORSCHER Nicht ich habe, wenn Sie erlauben, den Namen gebraucht, sondern Sie.
LEHRER Ich habe so wenig wie Sie die Benennung vollzogen.
GELEHRTER Wer ist es dann gewesen? Keiner von uns?
LEHRER Vermutlich; denn in der Gegend, in der wir uns aufhalten, ist alles nur dann in bester Ordnung, wenn es keiner gewesen ist.
Byung-Chul Han kommentriert:
Im Gespräch ist jeder in gewisser Weise ausser sich. Niemand signiert das Wort "Gelassenheit". Keiner war da, als das Wort fiel. Jeder war nur dabei bei diesem Ereignis des Wortes. Das Gespräch findet nicht zwischen den Meinungsträgern statt, sondern Es gibt das Gespräch. Niemand hat das Wort "Gelassenheit" ausgesprochen. Niemand übernimmt oder beansprucht die Autorschaft. Das Wort ist gefallen, dem Gespräch zugefallen, weil Keiner dagewesen war.
Und Hanspeter Padrutt zur psychotherapeutischen Gesprächsführung:
Vielleicht besteht unsere Kunst ja vor allem darin, das Gespräch so zu führen, dass das Gespräch selbst die Führung übernehmen kann.
Das Erwachen: Die erlösende ΧΑΡΙΣ und das subjektlose Nennen. In einer weiteren Beilage zu "Identität und Differenz" notiert Heidegger: "keine Einkehr / aber Erwachen" und in Klammern fügt er hinzu: "(Erheiterung)". Es gibt nicht nur ein Erwachen in das Heitere, sondern auch und zuvor ein Erwachen in die Hölle. Heideggers Wort für die Hölle ist "die Gefahr". Heidegger weiss, dass die Gefahr als solche zunächst und zumeist nicht einmal geahnt wird und dass es eben ein Erwachen in die Gefahr vonnöten ist. Deshalb kann er fragen:
Wie aber ist es dort, wo die Gefahr als die Gefahr sich ereignet und so erst unverborgen die Gefahr ist?
Lassen Sie mich diese Worte in Bezug auf die Psychotherapie erörtern. Nehmen wir z.B. einen, der an Depression leidet. Wo sieht er die Gefahr? Er sieht sie in dem "Ich kann nicht mehr". Seine Rolle in der Familie, in der Arbeit usw. ist gefährdet. Er möchte so werden wie früher. Er möchte weiter können können. Das versprechen die Antidepressiva, und manchmal schaffen sie es auch. Es ist die gute alte Devise der Medizin: Restitutio ad integrum: Wiederherstellung des ursprünglichen gesunden Zustands. Sollte eine, wie man sagt, "Besserung" eintreten, dann wird er wieder können. In der Familie und am Arbeitsplatz wird er brav seine Aufgaben weiter erfüllen, er wird weiterhin sein Tun und Lassen nach Vorschriften richten, die andere oder er sich selbst gesetzt haben.
In seinen depressiven Augen waren die Vorschriften in Gefahr. Er meinte aber, er wäre selbst in Gefahr. Er verstand nämlich sich selbst im Namen der Vorschriften. Sollte er einmal erwachen und einen freieren Bezug zu den Vorschriften gewinnen, dann würde das Subjekt des "Ich kann nicht mehr" seine Existenz nicht mehr voll umfassen. Der Leitsatz seiner Depression hiesse nun: "Ich kann nicht mehr so". Dann könnte er einsehen, dass hier eine andere, verborgene Gefahr waltete. Nun ginge es nicht um die Rolle in der Familie und am Arbeitsplatz. Es ginge um die Einsicht, dass er sich als ein Schlafwandler bewegte, der in den Vorschriften des Könnens und des Müssens wie unter narkotisierendem Äther völlig aufgegangen war. Schon in dieser Erkenntnis würde ihm die Rettung dämmern, denn das "Ich kann nicht mehr" wäre keine Einwegstrasse mehr. Es ginge auch anders. Seine Depression wäre der Übergang, das Zeichen zu einer freieren Lebensform.
Wo aber Gefahr ist, wächst
Das Rettende auch.
Es sind Verse aus Hölderlins Gedicht "Patmos", der Name einer griechischen Insel. Diese Verse lagen Heidegger am Herzen. Das Rettende, das dort wächst, wo Gefahr ist, wächst nicht von der Gefahr weg. Es ist die Gefahr als solche, die das Rettende nährt.
Das Rettende ist kein happy end. Es ein tragisches Zeichen. Denn das "Ich kann nicht mehr so" verbaut den Weg zurück ins Gewohnte. Es stürzt einen in die Aporie, die ich vorher in den Namen der Angst, der Langeweile, des Zerbrechens, der Nostalgie und des Schmerzes angesprochen habe. Diese Aporie kommt einem Erwachen in die Hölle gleich.
Letzten Sommer verbrachte ich einige Tage auf Kreta. Als ich auf Wandern in einer Schlucht war, merkte ich wie seltsam freundlich die Umgebung dort war. Freundlich derart, dass ich sagte: Hier kann ich sterben. Im Flugzeug kann ich es kaum sagen. Das Flugzeug, indem es meine Sterblichkeit gefährdet, ist ein Ort der Hölle. Es gibt eine Fülle solcher gefährlicher, ja höllischer Orte: Der Supermarkt, der Arbeitsplatz, das Auto, das Krankenhaus, die sozialen Medien, allzu oft das eigene Heim. Nicht zuletzt das eigene Selbstbild. In einer Welt, wo das Primat der Prozedur, der Leistung, der Effizienz alles, die Menschen inbegriffen, nur noch als stromlinienförmig gelten lässt, waltet, was Jean Baudrillard die "Hölle des Gleichen" nennt. Das Vergessen des Anderen reicht bis zum Vergessen jenes ganz Anderen, das wir "Tod" nennen. In der Hölle des Gleichen kannst du nicht sterben - und folglich auch nicht leben.
Der Psychotherapeut hat einen seltsamen Beruf. Er setzt sich der Gefahr im emphatischen Sinne aus. Paul Celan sprach von "todbringender Rede": Mancher, der die Psychotherapie aufsucht, spricht mehr oder weniger monologisch. Wenn er hört, hört er nur noch sich selbst. Seine Rede ist todbringend insofern sie die Anderen als Andere, den Therapeut inbegriffen, vernichtet. Immer wieder, wenn sich die Tür der psychotherapeutischen Praxis öffnet, um Einen zu empfangen, strömt eine höllische Luft mit hinein.
An einer Stelle aus Byung-Chul Hans Buch "Die Austreibung des Anderen" heisst es:
In seiner Schrift "Liebe und Erkenntnis" weist Max Scheler darauf hin, dass Augustinus "auf sonderbare, mysteriöse Weise" den Pflanzen ein Verlangen zuspricht, "vom Menschen angeschaut zu werden, als geschähe ihnen durch die liebegeleitete Erkenntnis ihres Seins ein Analogon der Erlösung". Wenn eine Blume in sich eine Seinsfülle hätte, würde sie nicht das Bedürfnis haben, angeschaut zu werden. Sie hat also einen Mangel, einen Seinsmangel. Der liebende Blick, die "liebegeleitete Erkenntnis" erlöst sie aus dem Zustand des Mangels. So ist sie ein "Analogon der Erlösung". Erkenntnis ist Erlösung. Sie hat einen liebenden Bezug zu ihrem Objekt als Anderem. Darin unterscheidet sie sich von bloßer Kenntnis oder Information, der gänzlich die Dimension des Anderen fehlt.
Diese Ausführungen sagen etwas über das Gespräch unter Menschen aus - vorerst eigentlich über das fehlende Gespräch, z.B. auch in der beginnenden Psychotherapie. Dem Patienten fehlt meist der Sinn für eine "liebegeleitete Erkenntnis" des Anderen und von Seiten des Anderen. Dieser Sinn kann erst mittels seines Angeschaut-werdens durch das Auge und den Mund des Therapeuten erwachen.
Das Rettende, wurde gesagt, kündigt sich in tragischen Zügen an. In diesem Zusammenhang führt Heidegger ein entscheidendes Wort ein: das Verwinden. Er sagt:
Dieses Verwinden ist ähnlich dem, das geschieht, wenn im menschlichen Bereich ein Schmerz verwunden wird.
Das Rettende, und das geht vor allem auch den Therapeuten an, wäre das Bewohnen jener "Doppelbelichtung", wo der liebegeleitete Blick, inmitten Nietzsches "umgekehrter Krüppel", gerade dort schmerzvoll standhält, wo das Lieblose waltet. Betrifft vielleicht auch das Sterbenkōnnen im Flugzeug… Elias Canetti:
Eine Wunde, die wie zu einer Lunge wird, durch die man atmet.
Paul Celan:
Geh mit der Kunst in deine allereigenste Enge. Und setze dich frei.
Das wären einige Bemerkungen ausgehend von Heideggers "Kehre" und ihrer Relevanz für die Psychotherapie. Dieser lange Vortrag hätte sich auf einen einzigen Satz beschränken können. Er stammt aus Sophokles Tragödie "Aias" und nennt die Bedingung der Möglichkeit aller Psychotherapie, so wie sie hier erörtert wurde:
ΧΑΡΙΣ ΧΑΡΙΝ ΓΑΡ ΕΣΤΙΝ Η ΤΙΚΤΟΥΣ' ΑΕΙ
In der Übersetzung Heideggers:
Huld denn ist's, die Huld hervor-ruft immer.