Psychotherapeutische Wege in philosophischen Horizonten
Zürich, Zollikon
Zürich, Zollikon
Das Werk, dessen griechische Übersetzung wir heute feiern, ist für mich schon mehr als blosse bibliographische Quelle. Es ist eine Wegmarke meines Werdegangs. Mein Beitrag wird deswegen auch einen autobiographischen Zug haben. Ich fange mit einem Auszug aus dem Buch "Wiedereinführung in die Psychoanalyse" (Επανεισαγωγη στην ψυχαναλυση) an. Das erste Kapitel hat den Titel "Selbstdarstellung" (Αυτοπαρουσιαση):
Es war kurz nach meinem Studium, als ich Sein und Zeit in englischer Übersetzung las. Die Übersetzung, und noch mehr das Fehlen einer philisophischen Bildung haben es mir erschwert, seinen Gedankengängen zu folgen. Nur eines dämmerte mir: In der vertrauten Alltäglichkeit sind wir in einer Vergessenheit versunken, und ihr Bann kann durch die Rüchkehr zu etwas Ursprünglichem gebrochen werden. Ich verstand nicht, was genau die Vergessenheit betrifft, und was das Ursprüngliche ist, die Heimkehr zu welchem die Vergessenheit aufheben würde und zu einem anderen Ort führen würde, zu einer "eigentlichen" Existenz. Aber sofort spürte ich, dass es hier um einen Weg handelt, der gewisse Gemeinsamkeiten mit demjenigen der Psychoanalyse hat. Denn in der Psychoanalyse, so wie ich sie aus Texten Freuds kennengelernt hatte, ist die "Verdrängung" von entscheidender Bedeutung für die Entstehung der "psychopathologischen" Erscheinungen, so wie ihre Bewusstwerdung und ihre Lösung durch die "Regression" zu einem "Archaischen" hin.
"Vergessenheit", "Verdrängung" und die Wege ihrer Erlösung durch eine, wohl jedesmal ganz anders gedachten, Heimkehr - bei Heidegger fand ich wieder, was ich über die Psychoanalyse ahnte, nämlich die Möglichkeit einer Ent-bergung, einer Befreiung von allem Fremdem, das widrige Zeiten zusammenbrachten und das Wahre zuschütteten. Der Unterschied war, dass der Weg der Entbergung, der in Heideggers Denken durchschimmerte, von viel weiter her zu kommen und viel weiter hin zu gehen schien. Er machte nicht an der "Kindheit" und ihre "traumatische Erfahrungen" halt, und er versprach eine grössere Freiheit als diejenige der Wunscherfüllung. Aber das wichtigste hier waren nicht Argumente. Bei Heidegger spürte ich jene Begeisterung und jene Frische, die mich bei Freud verliessen, als ich vor seinen an den Haaren herbeigezogenen Deutungen und seinen gedanklichen Seiltänzen stand.
Ich war also nicht völlig unvorbereitet, als ich, um dieselbe Zeit etwa, in einem dreibändigen Werk mit dem Titel Psychiatrie der Gegenwart
Schüler von Ludwig Binswanger las, wo die Rede von der "Daseinsanalyse" war, einer psychoanalytischen Richtung, die im Denken Heideggers gründete. Im Artikel stand glücklicherweise noch Kuhns Adresse:
Und erheitert stellte ich fest, dass meine Annäherung an die Daseinsanalyse mit einer mühsame Suche in Karten und Enzyklopädien starten musste, um diesen seltsamen Ort zu lokalisieren!
Nach langem Hin und Her nicht nur fand ich Münsterlingen auf der Karte, sondern später in der gleichnahmigen kantonalen Klinik
begann ich meine psychiatrisch-psychoanalytische Arbeit und Ausbildung. Schnell erkannte ich, dass Binswanger und sein Denken mir wenig zu bieten hatte bezüglich der Fragen, die mich beschäftigten - die Einsicht in mir selbst und in die konkreten Umstände der Begegnungen mit den Leidenden. Es war die Zeit, wo ich Medard Boss
kennenlernte, erst durch seine Schriften und wenig später persönlich. Hier fand ich endlich einen Weg, der mir in jenen Jahren entsprach. (...) Um Boss war ein kleiner Kreis von Psychoanalytikern versammelt, der die sogenannte Zürcher Schule der Daseinsanalyse bildete (welche nun, im Jahre 2017, fast unexistent ist). An diesem Kreis beteiligte ich mich etwa 10 Jahre lang, hier machte ich meine Ausbildung und arbeitete in seinem Geist.
Entscheidende Rolle für das Zustandekommen dieser Schule spielte Heidegger selbst, der in den sechziger Jahren regelmässige Seminare in Bosses Wohnung in Zollikon, einem Vorort Zürichs, hielt.
Protokolle dieser Seminare, die nunmehr als "Zollikoner Seminare" bekannt sind, waren schon damals, ich spreche von den siebziger Jahren, grundlegend für die theoretische Ausbildung der Kandidaten. Wir bekamen die einschlägigen Typoskripten, die wir am Ende des Seminars, wahrscheinlich aus Urheberrechts-Gründen, zurückgeben mussten. Trotzdem machten wir Kopien, die, wie alte Photos, in den Schubladen vieler von uns ihr Dasein fristen:
Die Zollikoner Seminare hatten nicht die Absicht, aus uns Philosophen zu machen. Es ging darum, dass unsere Augen aufmachten für eine Revolution, in der Heidegger, wenn auch nicht als einziger, entscheidend beigetragen hat. Die Revolution, im Kontext unserer heutigen Diskussion, betraf das Verweisen des wissenschaftlichen Denkens, das wir, nach einem Ausdruck von Boss, mit der Muttermilch aufgenommen haben, an seine Grenzen. Welche Grenzen, für eine Psychotherapie, in der einer ermuntert wird, sich in der ganzen Weite seiner Existenz zu öffnen, sehr eng sind.
Die Zollikoner Seminare ist kein eigenhändiges Werk Heideggers. Es sind stenographierte Protokolle, die Heidegger bloss kontrollierte. Deswegen fehlt sein eigener Sprachstil, es fehlt noch, was alles zwischen den Zeilen sich verlauten liesse. Es fehlt das schwere Aroma Heideggers.
Da wir von über etwa 10 Jahren verstreuten Seminarprotokollen sprechen, gibt es keine Erzählstruktur. Das Buch hat eher die Züge eines Mehrteilers. Die Zollikoner Seminare, weil gerade nicht von Heidegger geschrieben, gehörten nicht zu meinen Lieblingstexten Heideggers. Und ich fand die Art, wie Boss über sie spricht, nicht ziemend - eine Mischung aus Untertänigkeit und Selbstgefälligkeit ob des grossen Philosophen, der ihn durch seine Anwesenheit und seinen Beitrag ehrte und erleuchtete. Ich fand noch den Anspruch einfältig, die Zollikoner Seminare, wenn nicht das Werk Heideggers überhaupt, zu einer Art Bibel der Schule zu küren - wie schon ihr Name bezeugt.
Trotzalledem. Da war Martin Heidegger, er sprach zu Psychiatern und er hatte etwas zu sagen. Es ist mir wohl schwierig zu präzisieren, was ich alles von Heidegger übernommen habe, unter anderem auch von den Zollikoner Seminaren.
Es sind vieler Menschen Worte unsere Worte
schreibt der Dichter Giorgos Seferis. Einer von Vielen, dessen Worte meine sind, ist Martin Heidegger und zuweilen jener der Zollikoner Seminare. Worte von mir, die seine sind, klingen unter vielen anderen im Titel des Buches eines alten Freunden und Kollegen:
Und sie bewegt sich doch nicht
Sie haben wohl verstanden, dass es sich um die Umkehrung des berühmten Satzes von Galileo Galilei handelt "Eppur si muove", "Und sie bewegt sich doch", den er angeblich in dem Gericht sagte, das ihn zu lebenslanger Haft verurteilt hatte. Wer würde an ihre Wahrheit zweifeln? Und zugleich an die Alleinherrschaft der wissenschaftlichen und nunmehr technologischen Weltanschauung?
Trotzdem. Im Geiste der Zollikoner Seminaren das in dem kritischen Blick geübte Auge könnte sich vom Anspruch der Wissenschaft nicht kleinkriegen lassen, die Wahrheit, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu vertreten. Der kritische Blick könnte sich z.B. fragen: Wer ist der Mensch, der die Erde sich bewegen sieht? Von welchem Ort aus kann er sie sich um die Sonne und um sich selbst drehen sehen? Ist es nicht der Mensch, der sich, lange vor den Astronauten, im All aufhält? Denn nur vom All aus kann man die Erde um die Sonne und um sich selbst drehen sehen.
Für den Menschen, der auf dieser Erde geboren wird, unterwegs ist und stirbt, diese bewegt sich nicht. Nun sind die Bahnen der Sonne, des Mondes und der Sternen keine optische Täuschung, sondern, nach einem Spruch von Alexandros Papadiamantis, "der obere Grund der unbegreiflichen Dinge". Nun ist ein Traum weder ein Truggebilde, das die uneingestandenen Triebe eines ursprünglichen "latenten"Traumes verbirgt, noch eine Desorganisation der Hirnfunktionen, sondern eine andere Welt, wo alles anders ist und alles dasselbe bleibt, eine Welt bei der ἀσφοδελὸν λειμῶνα, der Asphodelenwiese, wie Homer sagt.
Oft insistiert Heidegger auf die Notwendigkeit, dass wir den Bezug zu den Dingen mittels der Erfahrung vollziehen. Wir sprechen von der Notwendigkeit eines Zusammengehörens weder durch den Verstand noch durch das sogenannte "Gefühl", sondern im Sinne eines umfassenden Leibens. So haben z.B. die abstrakten wissenschaftlichen Modelle uns aus dem Vorliegenden ausgeschlossen - abstrahiert. Die Bewegung der Erde um sich selbst und um die Sonne, der Traum, sei er "Arbeit", die vom "latenten" zum "manifesten Traum" führt, sei er Desorganisierung der Hirnfunktionen, ist keine Erfahrung von mir. Ein Gespräch, wo die Sprechenden weder mit Mund und Kopf, noch mit dem Herz, sondern leibend zueinanderfinden, was meiner Meinung nach den Kern der psychotherapeutischen Bewegung ausmacht, ist zum vornherein ausgeschlossen. Die Sprache eines wissenschaftlichen Models, da allgemein und abstrakt, die gefühlsbeladene Sprache des Sentimentalismus, da in einem in sich selbst kreisenden Ich festgefahren, lassen eine Begegnung nicht atmen. Sie haben unsere Verankerung an den Dingen, an die Faktizität verlassen.
In dem, sagen wir mal, "Erfahrungs-", oder "Faktizitätsprinzip" gehört ein kritischer Sinn, der unterscheidet, was mir in der Wahrnehmung gegeben wird, so wie es mir gegeben wird, von überlieferten Meinungen, die mich voreinnehmen und mich dahinbringen zu sagen, wie ein Schlafwandler, dass der Esel fliegt. Die Erfahrung glückt wenn das vollzogen wird, besser, wenn das geschieht, was Heidegger in einem anderen Zusammenhang den "Schritt zurück" nennt, Schritt zurück von Denkkonstruktionen und Gefühlsinkontinenz, zurück zum Boden, auf dem wir uns befinden, zur Erde, die "sich doch nicht bewegt", zum Immanenten. Ein Beispiel:
Die Balkontür und draussen die Bäume. Ein erschütternder Augenblick: die Blätter flatterten am Wind. Ich versuchte, näher zu betrachten, was mich eigentlich erschütterte. Die Blätter tanzten irgendwie mit dem Wind zusammen. Und ich war in ihrem Tanz rhythmisiert. Was war das Neuartige an dieser meiner Erfahrung? Es war die Loslösung von der latenten und obwaltenden Vorstellung der Mechanischen Physik, nach der die Blätter träge Körper sind, zu denen die kinetische Energie des Windes übertragen wird - aber auch Loslösung von der Vorstellung der Blätter als ästhetischer, letztendlich autoerotischer Gegenstand.
Die Erfahrung braucht weder die wissenschaftliche Genauigkeit noch die ichbezogene Selbstgefälligkeit, sondern die Aufmerksamkeit des wohlhörenden Ohres, des wohlsehenden Auges und des Wohlsprechenden Mundes. Malebranche bezeichnete sie als "das natürliche Gebet der Seele". Ihr Geschehen vollzieht sich nicht als aktive Handlung des Subjekts. Es geschieht unerwartet und unverhofft. Heidegger vergleicht die Erfahrung mit dem Blitz, der
πάντα οἰακίζει
alles steuert, nach Heraklit. Oder, man würde sagen, eine Erfahrung kommt da, wo, nachdem Einer manches durchgemacht hat, den Blick des kleinen Kindes wieder findet, sich mit dem angeeigneten Blick des kleinen Kindes wieder findet.
Das wären einige wenige Andeutungen über die Horizonte, die sich bei einer kleinen Anzahl von Psychotherapeuten in Zürich öffneten den Zollikoner Seminaren zu dank. Hier muss betont werden, dass Heidegger keinen Bezug zur Psychotherapie hatte und die Psychotherapie ihn offenbar überhaupt nicht interessierte. In einem Seminar sagt er:
Krankheit ist ein Privations-Phänomen. In jeder Privation liegt die wesensmäßige Zugehörigkeit zu solchem, dem etwas fehlt (...) Sofern Sie es mit der Krankheit zu tun haben, haben Sie es in Wahrheit mit der Gesundheit zu tun, im Sinne von fehlender und wieder zu gewinnender Gesundheit.
Das kann über die klassische Medizin gesagt werden, derer Losung ist: restitutio ad integrum, Wiederherstellung des Integren der Gesundheit aus dem Privativen der Krankheit. In der Psychotherapie Gesundheit und Krankheit folgen anderen Gesetzen. Hier Krankheit wäre vielmehr die Prüfung und die Herausforderung zu einer Kehre, der entlang Einer offener, reicher, weiser werden könnte. Heidegger hat zwar Vieles von einer solchen Kehre zu sagen. Ihre Vollzugsmöglichkeiten auf dem Feld der Psychotherapie werden aber nicht erörtert. In den Zollikoner Seminaren fehlt fast jeder Hinweis auf das Zwischenmenschliche. Es eröffnen sich erstaunliche Horizonte, jedoch keine Wege zu diesen Horizonten. Dies führte manche daseinsanalytische Therapeuten, auch schon Medard Boss, zu einer Haltung, die mal mehr mal weniger mit Anleihen von der überlieferten psychiatrisch-psychotherapeutischen Mentalität praktiziert wird. Und oft betonen sie ihre Identität durch heideggerianisch anmutende Werke fraglicher Gültigkeit.
Die Zollikoner Seminare bleiben ein seltener Fall, wo ein Philosoph sich zu einem systematischen, didaktischen und beharrlichen Gespräch mit psychotherapeuten verpflichtete. In ihrer Zeit waren sie aktuell, es war ein kathartisches Erdbeben, ein feierliches Erdbeben, das Aufzeigen der Möglichkeit einer Befreiung von der Diktatur der wissenschaftlichen Anschauung der Zeit und des Raumes, des Verständnisses des Selbst und der Welt in Termini von Subjekt-Objekt, in Termini von irgendeinem Solipsismus (Innerlichkeit, Bewusstsein, Psychobiologie).
Heute befinden wir uns unter einer ganz anderen Konstellation. Der Orkan, der die ontologisch gedachten Titel Neoliberalismus, Globalisierung, Virtuelle Realität, Künstliche Intelligenz trägt, hat die alte Welt weggefegt. Unsere gewohnten Namen für die Dinge und für uns selbst sind eigentlich wie das Licht der toten Sterne, das weiterhin unterwegs ist und in unser optisches Feld verwaist ankommt, nämlich ohne den Gruss seiner Quelle herüberzubringen.
Zu den toten Sternen zählen sowohl die Sprache der Philosophie als auch diejenige der Psychologie. Wenn etwas noch heute haltbar wäre, nämlich wenn heute, inmitten dessen, was Jean Baudrillard die "Hölle des Gleichen" nannte, etwas Zeichen eines Anderen, eines erlösenden Anderen geben könnte, das wäre vielleicht ihr archaischer Ursprung - die Aporie: die Aporie entweder als das θαυμάζειν, das Sich Wundern der Alten, oder als die Verzweiflung der Heutigen. In welchen Worten und in welchen Künsten das Sich Wundern hätte artikuliert werden können, in welchen Orten hätte die Verzweiflung gestillt werden können, bleibt eine Frage.