"Alltagsleben". "Alltäglichkeit". "Alltag".
Das Alltagleben findet sich im Titel der "Psychopathologie" Freuds; die Alltäglichkeit nennt in Sein und Zeit eine "Seinsweise des Daseins"; das deutsche Wort Alltag wird im Lichte des griechischen Denkens ausgelegt.
Der Vortrag ist insofern ein autobiographischer, als die drei Erörterungen das Gespräch mit Stationen meines Weges aufsuchen.
Einen Verweis auf den üblichen Sprachgebrauch von "Alltag" wird man vergebens erwarten: Die entsprechende Erfahrung fehlt mir, oder ist längst vergangen. Viel naeher liegt mir dagegen diejenige, die in einem Vers aus T.S. Eliots "Four Quartets" zu Wort kommt: And every moment is a new and shocking / Valuation of all we have been.
Nun ist die Luft von solchem Spuk so voll,
Dass niemand weiss, wie er ihn meiden soll.
Meine Damen und Herren,
Die Verse kommen nicht aus meiner, sondern Faustes Mund und sie beziehen sich nicht auf die hiesige Luft, sondern auf eine andere. Seitdem sie aber Freud seiner Abhandlung "Die Psychopathologie des Alltagslebens" vorangestellt hat, erheben sie den Anspruch, im Namen aller zu sprechen und für alle Tage zu gelten.
Hat der Spuk, den Freud im Alltagsleben herumgeistern sieht, einen Namen? Er hat; mehrere sogar. Sie werden im Untertitel der "Psychopathologie..." erwähnt: "Vergessen, Versprechen, Aberglaube und Irrtum." Wie werden nun diese vorgestellt, dass Freud sie als Spuk erfahren muss?
Letzten Juni in Wien, als ich zur Mittagsstunde auf dem Weg zum Hotel war, bin ich an einem Touristikbüro vorbeigelaufen. An der Fassade paradiesische Ferienorte und darüber gross und laut geschrieben: "Weltschwätze" [kommt von "schwatzen"]. "Weltschwätze"? - Halt! "Weltschätze" heisst es! Verheitert sag' ich zu mir: "Wenn ich auf deutsch noch verlesen kann, dann bin ich in dieser Sprache weiterhin heimisch!". Der Gedanke, dass die Vertrautheit mit einer Sprache sich nicht nur an den Sprachkenntnisen, sondern auch an den Sprachfehlern gemessen werden kann, scheint mir einiges zu versprechen. Nur ihm nachzugehen, hab' ich im Moment keine Lust. Ich lege ihn beiseite und gehe meines Weges.
Angenommen nun ich sei da nicht alleine, sondern in der Gesellschaft von - Sigmund Freud, den ich nur flüchtig kenne. Ich erzähle ihm, was mir gerade geschah. Auf einmal wird er ernst. Über sein Gesicht breitet sich ein Schatten aus. Das sei eine Fehlleistung, erwidert er. Ich bin verdutzt. Ich hätte nie daran gedacht, dass ich gerade etwas geleistet, und sogar fehl geleistet habe; dass mein Tun und Lassen überhaupt ein Leisten ist; dass "leben" nicht ein [ORAN PHAOS AEELIOIO] "das-Licht-der-Sonne-schauen" ist, wie es noch bei Homer heisst, sondern ein Arbeitsprozess - es kommen mir in den Sinn auch Worte von ihm wie Traum-arbeit und Trauer-arbeit. Freud spricht unentwegt: Es sei eine Unzulänglichkeit meines psychichen Lebens, hämmert er ein. Jetzt bin ich noch mehr verdutzt. Ich wüsste nicht, dass ich gerade ein psychisches Erlebnis hatte, und noch ein unzulängliches dazu.
Ich merke, wie ein Verstummen mich überwältigt. Ja, Freud hatte mich eigentlich schon darauf vorbereitet, als er sagte, seine Auffassungen bedeuteten eine zweite kopernikanische Wende. Mein Verstummen ist genauso wie damals, als ich belehrt wurde, dass Aufgang und Untergang der Sonne Augentäuschung sei.
Meine Damen und Herren, ich bringe die Daten durcheinander. Das Verstummen kam über mich nicht letzten Juni beim Touristikbüro, sondern in meiner ersten Begegnung mit Freud vor fast vierzig Jahren ausgerechnet hier in Wien, das ich, ein junger Student der Medizin, während einer Familienreise besucht hatte. Unter den Armen schleppte ich eine griechische Übersetzng der "Psychopathologie des Alltagslebens" mit - es war ein rabenschwarzes Buch. Trotzdem, oder gerade deswegen hat es sich auf dieser Reise zugetragen, dass ich mich entshloss, Analytiker zu werden.
Inzwischen ist viel Reinigungswasser unter der Neckar-, der Limmat- und der Donaubrücke geflossen. Und manches Gedächtnis haben die nachgekommenen griechischen Meere und Lüfte genommen und gegeben.
Und nun bin ich wieder da und wieder wirft mir Freud entgegen: "Psychiches Leben"; "Fehlleistung"; "Unzulänglicheit". Diesmal schaue ich ihn an: das düstere Gesicht; die verbissenen Züge; den Krieger, der, einem don Quichote ähnlich, gleich gegen Spukgestalten losstürmen wird.
Mein Verlesen, sagt er, sei durch dem Bewusstsein unbekannte Motive determiniert. Was höre ich da? Selbst mein Fehler sei "determiniert", d.h. begründet, d.h. gerechtfertigt - also kein Fehler! Dieser Mann nimmt mir meinen Fehler weg! In seinem Weltbild gibt es keinen Platz für Fehler. Ich denke, Freud ist da ein Vorgänger der Kybernetik, wo ja der Fehler, als Abweichung gefasst, den Regelkreis im Sinne des feedback gerade mit ausmacht. Freuds Determinismus und Wieners Informationstheorie gehen hier Hand in Hand.
Den Fehler gibt es nicht. Ein älteres Synonym für "Fehlen" ist "Brechen". Den Bruch des Fehlers gibt es nicht. Es darf ihn nicht geben. Denn, Freud, [...] wenn jemand [...] den natürlichen Determinismus an einer einzigen Stelle durchbricht, hat er die gesamte wissenschaftliche Weltanschauung über den Haufen geworfen. In diesem Licht muss der Bruch des Vergessens, des Vergreifens usw. im Alltag zum Spuk werden. Freud muss alles daran setzen - Faust -, ihn zu meiden.
Ich schaue ihn an. Ich lasse mich nicht mehr in seinen Argumentationen verwickeln - mir liegt nichts daran, die wissenschaftliche Weltanschauung zu retten oder über den Haufen zu werfen. Ich rufe mir in Erinnerung, wie es am Touristikbüro angefangen hat. "Fehlleistung" hat es geheissen. "Unzulänglichkeit". Mit diesem Urteil über meine "Weltschwätze" hat es angefangen. Auch ich hab' es so verstanden. Jetzt aber, Freud zu dank, muss ich aufmerksamer werden.
Von einer "Fehlleistung" zu sprechen ist es sinnvoll nur dort, wo ein Kriterium von richtig und falsch vorliegt. Was könnte ein solches Kriterium sein? Etwa die Tatsache, dass man an der Fassade das Wort "Weltschätze" und nicht "Weltschwätze" angebracht hat. Es wäre also Fehlleistung und Unzulänglichkeit von mir gewesen, wenn ich auf die Frage "Welches Wort steht an der Fassade gechrieben?" geantwortet hätte: "Weltschwätze". Bloss die Situation war eine ganz andere: Niemand hat mir eine solche Frage gestellt!
Wieder bin ich verdutzt. Diese letzte Betrachtung zwingt mich, meine kleine Geschicte mir nochmals zu vergegenwärtigen, diesmal aber nicht in der Dimension richtig-falsch, die ja hier als irrelevant sich erwiesen hat. Wie ist es also vor sich gegangen? Da waren die Bilder von den idyllischen Ferienorten. Ich komme selbst aus einem sogenannten "Ferienland". Ich dachte flüchtig an die Lügen, mit denen die Reklameindustrie uns überflutet. Und dann: "Weltschwätze / Weltschätze". Ich kann nicht sagen, welches Wort zuerst ausdrücklich kam. Es war fast eine Art Doppelbelichtung, so wie sie in einigen Träumen vorkommt, wenn z.B. zwei Personen in einer Gestalt erscheinen.
Jetzt, wo ich das Traumhafte dieser Erfahrung erkenne, merke ich einen weiteren Zug von ihr: In jenem ganz kurzen Augenblick war ich irgendwie versunken. Die Heiterkeit, mit der ich das Vorgefallene feststellte, war vergleichbar der Stimmung des Aufwachens nach einem guten Schlaf. Wir nennen es "Welt", aber es ist Traum, lautet der Vers eines türkischen Dichters.
Meine Damen und Herren, während Freud noch damit beschäftigt ist, meine letzten Worte in seinen natürlichen Determinismus einzuordnen und langsamen Schrittes nach Hause geht - vom Touristikbüro zur Berggasse ist es ja ein Katzensprung -, wende ich mich dem anderen Grossen unserer daseinsanalytischen Vorgeschichte zu: Martin Heidegger. Dieser spricht bekanntlich nicht von "Alltagsleben", sondern von Alltäglichkeit.
Nach dem üblichen Sprachgebrauch ist es eine Alltäglichkeit, dass ich zum Beispiel morgens eine Tasse Kaffee trinke, einen warmen im Winter, einen kalten im Sommer, eine Zigarette rauche und auf die Toilette gehe. Demgegenüber ist Heideggers Alltäglichkeit, ich zitiere, die Seinsweise des Daseins, in der es zunächst und zumeist ist. Es wird nicht auf eine Verhaltensweise Bezug genommen, z.B. meine morgentlichen Gewohnheiten, sondern auf eine Seinsweise.
Was heisst "Seinsweise"? Alltäglichkeit: die Seinsweise des Daseins, in der es zunächst und zumeist ist. Und was meinen diese Adverbien? Heidegger: "Zunächst" bedeutet: die Weise, in der das Dasein im Miteinander der Öffentlichkeit "offenbar" ist [...] "Zumeist" bedeutet: die Weise, in der das Dasein [...] "in der Regel" sich für Jedermann zeigt. Die Alltäglichkeit ist der Titel für eine Weise des sich "Offenbarens"; des sich "Zeigens". "Seinsweise" heisst hier so etwas wie "Erscheinungsweise", "Anwesenheitsmodus" des "Daseins".
Wie erscheint nun Einer in der Weise der Alltäglichkeit? Ich werde mich auf die uns wohlbekannte einspringende Fürsorge beschränken. Heidegger: Diese Fürsorge übernimmt das, was zu besorgen ist, für den Anderen [...].
Etwas für Einen übernehmen heisst zugleich: es Einem abnehmen, z.B. als über- und unterprotektive Mutter, als herrischer und knechtischer Vater, als vom "therapeutischen Eifer" befangener und unbeteiligter Therapeut, als "einfühlender" und gefühlloser Mensch. Dieses vielfältige Über- und Abnehmen bringt etwas Unerhörtes mit sich: Der Mitmensch wird zum Thema: Er wird zum Anderen. Erst jetzt kommt es zur Auseinander-setzung von "Ich" und "Du".
Der Mitmensch wird zum Thema. Dies heisst, ich sage es mal sibyllinisch: der Botschafter wird für die Botschaft gehalten. Sie sind die Grundrege!, sagte mir kürzlich in der Stunde ein Psychiater. Ein weiteres Beispiel aus dem Dialog mit einem Mann. Ich:
Wenn ich Ihnen sage: "An der Wand hängt ein Bild." [in Wirklichkeit ist es eine schlichte Uhr], wären Sie doch geneigt, dort ein Bild zu sehen?
Er, fast agitiert:
Ja, ich würde die Uhr irgendwie als ein Kunstwerk zu sehen versuchen, oder ich würde meinen, dort müsste anstelle der Uhr ein Bild sein, ja, eigentlich würde ich die Uhr fast wie ein Bild sehen!
In ähnlicher Weise kommen Mütter und Väter und Therapeuten und Bekannten und nur allzu oft wir alle von der Sache ab und auf die Sagenden und Handelnden zu. Das Füreinander-einspringen ist immer zugleich ein Aufeinander-einspringen, z.B. in der Gestalt von Vorwurf und Schuld, Sucht und Flucht, Erwartung und Enttäuschung, Herrschaft und Knechtschaft. Die Welt schrumpft ins Unding der Ich-Du-Vermischung zusammen. Es kommt zum endlosen Hin und Her zwischen den psychologischen Vorstellungen von "Identität" und "Beziehung", die als Wirklichkeiten hingestellt und verhandelt werden.
Die Möglichkeit der "einspringenden Fürsorge" ist eine Unmöglichkeit. Sofern das Miteinander ein Miteinander bei den Dingen ist, z.B. bei der Uhr an der Wand meiner Praxis, sofern diesem Satz der Rang eines Masses zukommt, ist die einspringende Fürsorge eine - Vermessenheit.
Der hörige Mann, der geneigt ist, an der Wand meiner Praxis ein Bild zu sehen, der unzählige Male zuvor die Worte seiner Mutter zu eigen gemacht und unzählige Uhren zu Bildern erklärt hat, ist fast ahnunglos - so geht es immer - einer Vermessenheit anheimgefallen. Das bewegte Staunen seiner Antwort ist vielleicht ein Zeichen, dass er auf dem Weg ist, seine Vermessenheit als solche zu erkennen.
Diese Betrachtung scheint einen Horizont vor Augen zu haben, dem alle Pathologisierung und alle Psychologisierung fremd ist. Es wird auf das Mass der Dinge geachtet. Denn selbst in der Vermessenheit ist Einer bei den Dingen, bei Uhren und Bildern. Er ist ausdrücklich in der Welt.
Meine Damen und Herren, erlauben Sie mir hier eine kurze Abschweifung: Wenn etwas daran liegt, dass die Phänomenologie keine Pathologisierung und keine Psychologisierung duldet, was zumindest meine Überzeugung ist, denn weder das Pathologische noch das Psychische sind Phaenomene im Sinne Heideggers - sie zeigen sich ja nicht an sich selbst -, und wenn dies ernstgenommen wird, dann ist unsere Aufgabe weder in der Medizin noch in der Psychologie zuhause. Und doch: ich bin Mitglied einer Ärztegesellschaft und es kommen zu mir diejenigen Leute, die sich mehr oder weniger als Patienten verstehen und gelegentlich übernehmen sogar die Krankenkassen einen Teil der Kosten. Um den Ansprüchen dieser Begegnungen zu genügen, musste ich vergessen lernen, dass ich Mediziner und sogar Therapeut bin und ich muss denjenigen, die zu mir kommen, beibringen, ihrerseits zu vergessen, dass sie als Patienten gekommen sind. Schon Freuds Warnung vor dem therapeutischen Eifer weist, scheint mir, unausgesprochen in diese Richtung. Aber mit dem Vergessen alleine ist es nicht getan. Ich meine, unsere Sache ist in der Medizin und in der Psychologie fehl am Platz - und ich habe keine Ahnung, wo sie wirklich am Platze wäre. Vielleicht fehlt mir der Mut zu weiteren Gedanken - zu weiteren Entscheidungen. Vielleicht gibt es keinen solchen Platz, keinen solchen Topos und ich rede von einer U-topie. Ich weiss es nicht.
Ich breche also meine Abschweifung unverrichteter Dinge ab und komme zur dritten und liebsten Säule meiner Vorgeschichte. Sie behält noch, es folgt ein Vers aus T.S. Eliots Waste Land, meine letzte Säule behält noch an inexplicable splendour of Ionian white and gold, "einen unerklärbaren Glanz aus ionischem Weiss und Gold". Ich spreche, Sie haben es wohl inzwischen erraten, von Heraklit und von seiner Zeit.
Eigentlich bin ich zu den Griechen schon herübergerutscht, als ich Heideggers Alltäglichkeit und die Sachen, die uns beanspruchen, im Lichte der Vermessenheit, der Hybris, gedeutet habe. Das ist nicht mehr Heidegger, zumindest nicht explizit. Immerhin Worte wie etwa Gewalt-tätigkeit des Daseins in Einführung in die Metaphysik, Unfug in Der Spruch des Anaximander, Gefahr in mehreren Schriften weisen in je anderer Weise in diese Perspektive auch. Darauf kann ich mich heute nicht weiter einlassen.
Ich hatte ursprünglich im Sinn, das ETHOS, eine frag-würdige altgriechische Entsprechung zur "Alltäglichkeit" zu erörtern. Ausgangspunkt wären Heideggers Ausführungen zu einem Fragment Heraklits gewesen, das er mit den Worten übersetzt: [ETHOS:] Der (geheure [alltägliche]) Aufenthalt ist dem Menschen das Offene für die Anwesung des Gottes (des Un-geheuren).
Es scheint mir dennoch angebracht, da ich heute bei der deutschen Sprache zu Gast bin, mich als Hausfreund zu zeigen und bei dem deutschen Wort, beim "Alltag" zu bleiben, aber jetzt - kommt wieder eine heideggersche Wendung - im Echo der Griechen. Es wäre die mitgebrachte Gabe des Gastes zu Ehren des Gastfreundes. Der Titel meines Vortrages würde sodann lauten: <"Alltagsleben". "Alltäglichkeit". "Alltag.">
Der All-tag spricht vom Tage. Im Wort selbst ist wohlgemerkt nicht vom Menschen die Rede - weder von seiner Verhaltens- noch von seiner Seinsweise. Zum Tage gehört natürlich das menschliche Leiben und Leben. Schon Heidegger macht darauf aufmerksam, dass Stimmungen und Wetter mit denselben Namen genannt werden. Seine kleine Schrift Aus der Erfahrung des Denkens ist an sich ein Zeugnis dieser Selbigkeit. Dies heisst aber bei weitem nicht, dass der Tag vom Menschen aus gedacht werden müsste. Es ist jedenfalls nicht die Art der Alten. Aber auch Trakls Dämmerung, Eliots April, Hölderlins späteste Gedichte singen Lieder davon.
Der Alltag spricht vom Tage. Die ältere Form ist "alletag". Die Nennkraft des Wortes erschöpft sich jedoch nicht darin, dass das Wort "alle" bloss die Summe aller Tage bedeutet. Wie z.B. in "Allmacht", kann das "all-" auch adverbial gehört werden. Es wäre ein Wort für den Superlativ. In diese Richtung weist denn auch das mittel- und althochdeutsche "al" - mit einem "l"; es heisst "ausgewachsen" - auch in der hier ebenfalls relevanten Bedeutung von "verwachsen". Denn "Alltag" würde jetzt heissen: der, es folgt ein Wort Hölderlins, "monarchisch" waltende Tag. Die Menschen, sofern sie ihre Worte und Werke allein vom Tage - altgriechisch: AEMAR - her fassen, heissen: die EPHEMEREN; oder jetzt, vom deutschen Wort her: die All-täglichen.
"Alltag", ich wiederhole: der monarchisch waltende Tag. Und wie waltet der Tag? In der Tragödie des Sophokles "Ajax" heisst es [v. 131]: OES AEMERA KLINEI TE K' ANAGEI PALIN / APANTA T' ANTHROEPEIA, Der Tag beugt darnieder und führt wieder hinauf / alles Menschliche.
Wie der Satz nicht metaphorisch, nicht symbolisch, überhaupt nicht anthropologisch, sondern mit griechischen Ohren gehört werden könnte, zeigt folgender Dialog aus einer Analysestunde. Eine Frau sagte mir kürzlich:
Wenn es zwischen uns immer so wie heute wäre, dann hätte ich Vertrauen fassen können; dann hätte ich frei sprechen können...
Ich:
Es ist wie wenn Sie mir sagten: Ich hätte den sonnigen Tag heute geniessen können, wenn es immer sonnig wäre.
Die Frau hat in der naiven psychologischen Sprache gesprochen: "zwischen uns"; "Vertrauen". Sie hat auf unsere Beziehung, auf ihre Gefühle, ihre Erwartungen und ihre Enttäuschungen Bezug genommen. Mein Es ist wie wenn ... stellt ihre Worte in ein anderes Licht. Es stellt die Frau selbst auf die Erde hin und unter die Sonne. Es lässt sie - kommt schon wieder - das Licht der Sonne schauen. Es lässt sie in der Welt sein.
Es ist nicht nur das Psychologische, das die Rede der Frau bestimmt. Wenn sie, in dieses andere Licht - ins Tageslicht - übersetzt, sagt: Ich will, dass es immer sonnig sei, dann bezieht sie sich zum Tage von diesem "Ich" aus. Ihre Rede wird vom Anthropologischen getragen. Warum ist das hier abwegig? Weil bei den Griechen der Mensch - ANTHROEPOS - kein Thema ist. Der Mensch hat - Parmenides - kein eigenes NOEIN, "Denken", und - Heraklit - keinen eigenen LOGOS. Von sich aus ist er - Pindar - bloss SKIAS ONAR, eines Schattens Traum.
Die Worte der Frau, die, ins nicht-Psychologische übersetzt, lauteten: Ich will, dass es immer sonnig sei, müssten also nochmals übersetzt werden - diesmal ins nicht-Anthropologische. Dann würde der Satz "Ich will, dass es immer sonnig sei" etwa lauten: Die Sonne will immer walten. Das hab' ich der Frau nicht gesagt.
Die Sonne will immer walten. Nach einem Freudianer wäre es eine Projektion. Das "Wollen" bezieht sich jedoch nicht unbedingt auf Menschliches - z.B.: Es will Abend werden. Der Satz: Die Sonne will immer walten heisst dann auch: Es will nicht wolkig, nicht dunkel, nicht Abend, nicht Nacht werden. Oder: Der Tag will All-tag werden. Es ist dieses Wollen des Tages zum Alltag, das aus dem Munde der Frau gesprochen hat.
Meine Antwort lautete: Es ist wie wenn Sie mir sagten: Ich hätte den sonnigen Tag heute geniessen können, wenn es immer sonnig wäre. In meinen Worten klingt noch Anderes: die Warnung nämlich, dass sie nach Unmöglichem jagt, dass der All-tag ein Ding der Unmöglichkeit ist, dass die abgewehrten Wolken, die Nebel, die Unwetter, die Nächte sich rächen werden. Ich hatte natürlich die Worte Heraklits im Sinn: Die Sonne wird das Mass nicht überschreiten - sonst werden ihn die Gehilfinnen des Rechtes, die Rachegeister, ausfindig machen - was auch heisst, dass die Sonne doch dazu neigt, das Mass zu überschreiten, und dass sie erst im Streit, im harten und zarten Streit mit dem Dunklen sich dem Mass fügt und der All-tag sich mit dem Tage bescheidet.
Meine Antwort befremdete die Frau. "Das sind doch Wetterphänomene", meinte sie, "Sie haben damit nichts zu tun." Darauf hab' ich nichts gesagt. Wie das Zuwenig, so auch das Zuviel an Erklärungen ist nicht immer das Beste. Ich liess es als Samen in der schwangeren Luft dieser Begegnung liegen. Es kann gut sein, dass daraus eine Totgeburt wird.
EPHEMEREN... All-tagswesen... Eingespannt zwischen Auf- und Untergang! Selbst jeden Augenblick und bei jeder Gelegenheit und immer von Neuem auf- und untergehend! Ein Musikant aus Kreta sagt es in einem Lied: Was alles der Morgen bringen mag: der Abend wird es nehmen. Wir wollen nun den Vers in seiner eigenen Sprache erklingen lassen: