Gigantomachie
Gigantomachie
Das Eigentümliche dessen, was hier das "griechische Licht" genannt wird, ist, daß es an der Grenze anlangt. An der Grenze wird das Licht nicht am hellsten, sondern begegnet dem Dunkel - nicht als seinem Gegensätzlichen, sondern als dem ihm Mitgegebenen. Das EINE der UNSCHEINBAREN FÜGUNG (B 52) von Licht und Dunkel - und allem derartig Erscheinenden - heißt bei Heraklit LOGOS. Bei Parmenides kommt die Grenze im Namen des unpersönlichen ES WEST zu Wort. An der Grenze begegnen sich das ES WEST und das SINNEN - das Eigene des Menschen - in einer ersten und letzten Selbigkeit, die keine Trennung, z.B. zwischen Ich und Du zuläßt und keine Verbindung, z.B. in der Form einer "Beziehung" braucht. Die nämliche Selbigkeit, das SELBE, stimmt das "Herz" dessen an, was hier ALETHEIA genannt wird.
Der Titel "Psychotherapie im griechischen Licht" weist auf einen Versuch hin, die therapeutische Begegnung in einer Hinsicht auszutragen, die an die Grenze anlangt.
Psychotherapie im griechischen Licht... Man könnte sich fragen, wozu? Meine ehrliche Antwort wäre: Ich weiß es nicht. Es war ein Weg. Zu diesem kann ich nur sagen, daß er mich bis hierher gebracht hat. Ich habe ihn nicht zum vorneherein geplant, da ich mich auf ihn ohne irgendeine Vorstellung begeben habe. Ich habe ihn nicht im nachhinein gerechtfertigt, da ich nicht mit etwas rechnete, dem ich am Ende Rechenschaft schuldig gewesen wäre. Auf diesem Weg, einem Weg ohne vorher und nachher, ohne warum und wie, wurden Suchen und Gesuchtes ein und dasselbe. Und während ich so spreche, sehe ich, daß wir uns schon dem griechischen Licht zugewandt haben. Denn im Ausdruck "Suchen und Gesuchtes, ein und dasselbe" spricht ein Wort des Parmenides mit: DAS SELBE IST SINNEN UND WESEN (B 3).
Das Suchen, das auf ein Unterwegs bringt, und das Gesuchte, das geleitend führt, entsprechen dem Doppelsinn des Weges als faktischer Fahrt und vorgegebener Richtung. Martin Heidegger hat es in der Wendung ausgedrückt: Wege, gehende selber... Der Doppelsinn, so will es das eine Wort "Weg", ist das SELBE - großgeschrieben, denn es ist kein Akt der Identifizierung, sondern der Name für eine seltsame königliche, wenn mir hier ein Märchenwort erlaubt ist, eine seltsame königliche Selbigkeit, die ohne vor- und nachher waltet, ohne warum und wie. Für den Glanz solcher Augenblicke hatten die alten Lehrer viele Namen. Ich erwähne zuerst denjenigen des Parmenides: ALETHEIA.
Das "ohne vorher und nachher", das "ohne warum und wie" sind ZEICHEN (B 8,1). So wie die Glocke am Kirchturm das Zeichen für das Morgen- und Abendgebet, die Totenmesse und die Tauffeier gibt, diese einläutet, läuten die ZEICHEN das HERZ der ALETHEIA (B 1,29) ein. Es geht nicht bloß um die ALETHEIA, sondern um ihr "Herz". Dessen Namen habe ich Ihnen als letztes vorbehalten. Das Herz der ALETHEIA ist der Weg des ES WEST (B 2,3). Die ZEICHEN sind seine Wegzeichen. Das SELBE ist das Material, daraus er gebaut ist.
Auf diesem Weg habe ich mich geprüft. Meine Worte sind nichts als Gespräche mit einem Anderen, Gespräche, um einen Ausdruck Paul Celans zu gebrauchen, mit einem ansprechbaren Du - einem Gegenüber, zu und mit dem einer sprechen kann. Ein Gespräch sind wir sagt ein Vers Friedrich Hölderlins - selbst in der Zurückgezogenheit und im Monolog, selbst in den Gedanken und in der Phantasie und im Traum, selbst in der Sprachlosigkeit und im Schweigen. Das Ge- dieses Gesprächs ist ebenfalls ein ZEICHEN. Es läutet das SELBE von SINNEN und WESEN ein. Denn das SELBE ist keine stumme Identität. Das SINNEN ist im WESENDEN AUSGESPROCHEN (Parmenides B 8,35). Das heißt: Das Sagen des SINNENS be-wegt sich gerade als der Weg des WESENS. Das heißt: Das WESEN ist das erste und letzte, das notwendige und unumgängliche ganz andere ansprechbare Du des SINNENS. Das SELBE von SINNEN und WESEN, das Ge- des Gesprächs, das wir sind, findet in der Schrift Heraklits seinen Namen: LOGOS als das UNSCHEINBARE GEFÜGTSEIN: EINS ALLES (B 50).
ALETHEIA, das Wort des Parmenides, und LOGOS, das Wort des Heraklit, sprechen vom SELBEN. Die heutige Workshop bezieht sich auf die zwei Namen und die Natur des therapeutischen Gesprächs, das gesinnt ist, ihnen zu folgen und sich in ihr Licht und in ihr Dunkel zu versetzen.
Aber jetzt will ich Ihnen mein Unbehagen nicht länger verbergen: Ich spreche schlecht. Ich gebrauche mehr oder weniger eine Gelehrtensprache, die für mein Vorhaben völlig unzureichend ist, denn hier behandeln wir keinen Erkenntnisgegenstand. Die Sprache, in welcher die Wörter ALETHEIA und LOGOS uns heute ansprechen könnten, ist nicht die der Aussagesätze. Es ist eine andere. Wir werden später versuchen, ihr näher zu kommen. Hier sei nur noch vermerkt, daß auch im therapeutischen Gespräch die Stunden, in denen die ALETHEIA aufflackert und die Heimkehr zum SELBEN geschieht, die Stunden, in denen der LOGOS gehört wird und die Wörter sprechen, wie wenn sie zum ersten Mal sprechen würden, Stunden eines Festes sind, Zeichen, daß dichterisch wohnet der Mensch auf dieser Erde, um wiederum mit einem Wort Hölderlins zu sprechen. Wer es erfahren hat, wird es erkennen.
Zunächst die ALETHEIA. Wir sind ihr als Aufflackern des SELBEN von SINNEN und WESEN begegnet. Ein Beispiel: Eine Frau spricht erstmals von der Möglichkeit, Kinder zu bekommen. Sie sagt's und schämt sich. Ihre Rede ist flach. Sie berichtet bloß. Der Mut und die Begeisterung der letzten Tage seien verschwunden. Es sei ihr verboten, so zu sprechen. Ich frage sie: "Erkennen Sie vielleicht die Stimme, die es Ihnen verbietet?" Sie erkennt sie. Es ist die Stimme der Mutter. Ich sage dann: "Es scheint, daß diese Stimme noch Macht über Sie hat: In dem Augenblick, wo Ihnen das Verbot auferlegt wird, sind Sie das kleine Mädchen, das auf seine Mutter hört. Auch jetzt zeigen die Scham und die flache Rede, daß es das kleine Mädchen ist, das unter der Last des Verbots spricht." Was sage ich ihr? Ich mache sie darauf aufmerksam, daß die verbietende Stimme der Mutter nicht ins Leere hinaus spricht, sondern mit einem für diese Rede ansprechbaren Hören zusammengeht. Wer hört da? Die Frau zwar, jedoch nicht so wie sie jetzt ist, sondern als kleines Mädchen, das sich immer wieder in seine Vergangenheit versetzt, sich in ihr ver-gegenwärtigt, wie wenn diese Zeit nicht vergangen wäre. Ich mache die Frau darauf aufmerksam, daß es die Ohren des kleinen Mädchens sind, die die verbietende Stimme der Mutter hören. Verbietende Stimme der Mutter und Ohr des kleinen Mädchens: das SELBE!
Und nun blicke ich auf Momente zurück, wo ZEICHEN zeigten, daß das therapeutische Gespräch sich auf dem Weg der ALETHEIA, des ES WEST eingefunden hat:
Eine Frau, für welche die Sommerpause -die Unterbrechung ihrer Arbeit, ihrer Therapie, die Trennung von ihrer Familie- fast einem Weltuntergang gleichkam, sagt mir zu Beginn eines Sommers: "Dieses Jahr nichts ist zu Ende, die Arbeit hört nicht auf, Sie gehen nicht verloren ... " Die Augen der Frau haben sich für das geöffnet, zu welchem ein Satz des Parmenides ruft: SINNEND ERBLICKE ABER GLEICHERWEISE SICHER ABWESENDES ANWESENDES (B 4,1). Die Frau sieht jetzt, daß in der Sommerferienzeit, in der ihr Arbeitsort, unsere Begegnungen, ihre Familienmitglieder nicht mehr anwesend sind, also -für die gewöhnliche Sichtweise- ihr An- ins Abwesen umgeschlagen hat, die Frau sieht jetzt, daß bei dieser Änderung sich nichts geändert hat! Nichts hat sich geändert, weil sowohl Ab-wesedes als auch An-wesendes SICHER GLEICHERWEISE WEST. "Nichts ist zu Ende", sagt sie. Auf ihrem Weg hat sie das ZEICHEN: UNVERGÄNGLICH (B 8,3) erblickt. Will sagen: ES WEST unvergänglicherweise. Das abwesend-Vergangene WEST. Das "es war" -das angebliche Nicht-mehr des Abwesens des Vergangenen- bringt Trauer und Heimweh, Haß und Rachsucht mit sich. Wo "nichts zu Ende ist", hat das "es war" nichts zu sagen. Ineins damit schwinden Trauer und Heimweh, Haß und Rachsucht.
Aber der Satz der Frau sagt noch etwas: Da "nichts zu Ende ist", gibt es im September auch nichts anzufangen! Für die Juli-Frau ist der September schon da. Auch das abwesend-Künftige WEST. Auf ihrem Weg hat sie -samt dem UNVERGÄNGLICH- das ZEICHEN: UNGEWORDEN (B 8,5) erblickt. Will sagen: ES WEST ungewordenerweise. Das abwesend-Künftige WEST. Das "wird sein", das angebliche Noch-nicht des Abwesens des Künftigen bringt Hoffnung und Erwartung, Spannung und Furcht mit sich. Dort, wo es nichts zu werden gibt, hat das "wird sein" nichts zu sagen. Ineins damit schwinden Hoffnung und Erwartung, Spannung und Furcht.
Dem Weg des ES WEST entlang fängt nichts an und hört nichts auf. ES WEST UNANGEFANGEN UNAUFHÖRLICH (B 8,27). Also NUN WEST ES GÄNZLICH GLEICHERWEISE (B 8,5). Will sagen: ES WEST nun, ES WEST gleicherweise, ES WEST gänzlich: Ab-Wesendes, An-Wesendes. Dies ist so, weil all die erwähnten Dinge, sobald sie sich auf dem Weg des ES WEST einfinden, ihre verschiedenen Namen zugunsten eines einzigen aufgeben: WESEND. Dieser, JENSEITS DER MENSCHEN (Parmenides B 1,27, frei übersetzt nach Celan) stattfindende Umschlag der Dinge zu WESEND liegt der Erörterung aller folgender Beispiele zugrunde.
Eine Frau tritt, in ihren eigenen Worten, als eine "harte" auf - es ist eine verspannte Abwehrhaltung, die sie hinter einer ausgeklügelten Lässigkeitsfassade verbirgt. Zugleich ahnt sie aber eine noch verborgenere Gestalt, eine "weiche Frau". Sie sagt: "Diese wird sterben; die Harte nicht." Auf ihrem Weg hat sie das ZEICHEN: SCHON-IMMER-VOLLENDET (B 8,42) erblickt: die Endlichkeit, als das schon-immer-am-Ende-sein: am-wahren-Ende, wo Erfüllung und Trauer keinen Platz haben, weil nichts erwartet wird und nichts übrigbleibt. ES WEST UNANGEFANGEN und UNAUFHÖRLICH und, in einer paradoxen und wundersamen Weise, hat es sich SCHON-IMMER-VOLLENDET. Alles sind ZEICHEN eines und desselben Weges. Abwesendes und Anwesendes sind nicht verschieden. Denn ES WEST GLEICHERWEISE und SICHER.
Dies heißt aber auch nicht, Abwesen und Anwesen wären identisch. Was es heißt, wird uns -in einer Weise- vom Weg der Analyse selbst her gezeigt: Gerade im therapeutischen Gespräch kommt das Vergangene der Kindheit zum Vorschein. Es kommt und will zur Ruhe kommen. Das Vergangene, wo es uns nicht theoretisch und distanziert, sondern eigens angeht, kommt auf uns zu. Seine Ankunft ist Zu-kunft. Vergangenes und Künftiges: DAS SELBE! Es ist das NUN, dem wir begegnet sind. Die Analyse zeigt uns plastisch das Umgekehrte auch: Vom Anwesenden her, z.B. einem Symptom, kommt es ebenfalls zum ALL, zum erwähnten Ineinanderspielen des abwesend Vergangenen und Künftigen. Es kommt zum NUN WEST ES GÄNZLICH GLEICHERWEISE. Dahin kommen wir nicht durch das Denken, sondern mit den Augen des Herzens. Mit den Augen. ERBLICKE ( 4,1), heißt es bei Parmenides. Wir werden zum Sehen aufgerufen. Die hier erfragte ALETHEIA wird nicht durch das Denken und das Verstehen erreicht. Es ist nicht Sache der Erkenntnis, sondern des sinnenden Auges.
Eine Frau sagte: "Wenn einer einmal geliebt worden ist, selbst wenn es vorbei ist, dann weiß er, daß er geliebt worden ist." Worte wie diese und die Vorhergesagten werden immer in einer eigenen Weise ausgesprochen: Es ist eine ungewöhnliche Festigkeit der Stimme. Es ist nicht nur der Mund, der spricht, sondern es spricht der ganze Körper. Ich höre und antworte mit einem heimlichen "Ja!" - nicht mit dem Mund, sondern mit meinem Leib und mit meiner Seele. Alles ist licht und festlich. Es könnte dem entsprechen, was Parmenides DRIFT DER ALETHEIA (B 8,28) nennt.
"Wenn einer einmal geliebt worden ist, selbst wenn es vorbei ist, dann weiß er, daß er geliebt worden ist." Auf diesem Weg reicht das "eine" Mal. Das "eine" ist hier keine quantitative Bestimmung. Es ist nicht das Weniger als die zwei Male. Das "eine Mal" reicht. Es geht nicht in der engherzigen Berechnung von Entbehrung und Erfüllung ein, es zählt nicht Verlust und Gewinn. Das Eine dieses "einen" Mals ist das griechische HEN. Es ist keine Zahl, sondern das unscheinbar Einende, das in seiner leeren Fülle alles entläßt und versammelt. Von dieser Fülle sprechen die folgenden Worte einer anderen: "Wie der Patient mit einer Atmungsstörung nach der Behandlung gut atmet, so ist es in der Analyse auch: es ist, wie wenn man mit mehr Alveolen atmete."
Der Weg der ALETHEIA, das impersonale ES WEST kann nicht vorgestellt, kann nicht in einem Modell operationalisiert, kann nicht nach Belieben vergegenwärtigt werden, da all das das Denken braucht. Hier sind wir angehalten, auf das Denken zu verzichten. Auf den Weg vom WESEN kommt man unversehens mit einer unerwarteten Wucht - so Parmenides (Vgl. B 1,6-10). Für Heraklit ist es der Weg des Blitzes, der ALLES STEUERT (B 64), wie der Ruder das Boot. Ebenso plötzlich ist er weg. Wir kommen noch darauf zurück.
Jetzt rufen wir uns das Gespräch in Erinnerung, das ich eingangs erzählt habe: Meine Gesprächspartnerin spricht erstmals von der Möglichkeit, Kinder zu bekommen. Sie sagt's und schämt sich. Ihre Rede ist flach. Sie berichtet bloß. Der Mut und die Begeisterung der letzten Tage seien verschwunden. Es sei ihr verboten, so zu sprechen. Wir hören aufmerksam zu: Der Scham, das Tonlose der Rede, das Unbeteiligte des Berichtens sind ZEICHEN, die diese Frau anzeigen: Sie ist potentielle Mutter und ist es nicht; weder ist sie potentielle Mutter noch ist sie es nicht. Und nicht einmal weiß sie das - sie kann es nicht wissen, da sie selber gespalten ist: Sie meint und meint nicht, was sie sagt; weder meint sie es, noch meint sie es nicht.
DOPPELKÖPFE (B 6,5) heißen die Menschen bei Parmenides, DENEN WESEN UND UN-WESEN ALS DASSELBE GILT UND ALS NICHT DASSELBE (B 6,8). Doppelköpfig, gespalten, halten sie WESEN und UN-WESEN [immer verbal zu hören] als identisch und nicht identisch, d.h. sie sind im "ist und ist nicht" und zugleich im "weder ist noch ist nicht" verfangen. Die Schrift setzt sich fort: UND KEHRTWENDIG IST ALLER BAHN (B 6,9). Ständig kehrt sich die Bahn aller Dinge um in der Art vom "sowohl ... als auch", vom "weder ... noch". DOPPELKÖPFE und KEHRTWENDIGE BAHN, die gespaltene gegenwärtige Frau, die meint, was sie sagt, und es nicht meint, die weder meint noch es nicht meint, und die potentielle Mutter, die sie ist und nicht ist, die sie weder ist noch nicht ist: das SELBE!
Was ist hier geschehen? Im "ist und ist nicht", im "weder ist noch ist nicht" ist der Weg vom WESEN gebrochen - das UN-WESEN (B2,7) treibt sich um. Wenn jedoch das SINNEN sich schon immer auf dem Weg vom WESEN befindet, wenn es gilt: SINNEN und WESEN: das SELBE, dann ist das UN-WESEN sinnlos. Dessen Weg ist gerade, fährt Parmenides fort, UNSINNIG UNNENNBAR (B 6,17). Er ist weder zu sinnen noch zu nennen. Er ist wortwörtlich Unsinn. Demzufolge wäre meines Erachtens der Spruch des Parmenides dahingehend zu ergänzen: DAS SELBE IST UNSINN UND UNWESEN.
Bei der gespaltenen Frau, bei der Möglichkeit, die sie ist und nicht ist, die sie weder ist noch nicht ist, hat eine Übertretung der MASSE (Heraklit, B 30, B 94) des WESENS zum Unsinn des UNWESENS hin stattgefunden. Das Unsinnige, sagt Parmenides, DURCHZIEHT ALLES DURCH ALLES HINDURCH (B 1,32). Deswegen ziehen bei der gespaltenen Frau die Dinge ihre KEHRTWENDIGE BAHN überall, wohin wir immer unsere Augen auch wenden. Z.B.: Das Du, das die Frau verbietend anspricht, bin ich und ist zugleich ihre Mutter, ist weder ich noch ihre Mutter; sie ist in meiner Praxis und ist zugleich im damaligen Elternhaus, ist weder in meiner Praxis noch in im Elternhaus; sie ist bei Gegenwärtigem und ist zugleich bei Vergangenem, ist weder bei Gegenwärtigem noch bei Vergangenem; ihr Unsinn ist schon der Unsinn einer gespaltenen Mutter, die ihr sagt: "Du darfst nicht so sein, wie du bist."
Im Bereich der Psychologie werden Weisen des Unsinns bei von den sogenannten "Abwehrmechanismen" bestimmten Haltungen beschrieben. Hier verschließen wir gegenüber dem Vorliegenden auf alle mögliche Art und Weise die Augen. Besser gesagt, wir machen sie halb zu. Wir sagen: Ist und ist nicht; Wir sagen: Weder ist noch ist nicht. Ist / ist nicht und halboffene / halbgeschlossene Augen: das SELBE!
Für den Unsinn -das Übertreten der MASSE des WESENS- hatten die Alten viele Namen. Das uns geläufigste ist: HYBRIS. Da das DOPPELKÖPFE, das Gespaltene des Sinnes und die KEHRTWENDIGE BAHN, das hin-und-her der Dinge im SELBEN aufgehen, ist die HYBRIS blind: sie nimmt sich als solche nicht wahr. Ihr Unsinn ist unbesonnen allererst betreffend sich selbst. Ihr Irrtum irrt sich allererst über sich selbst. Ihr Vergessen hat allererst sich selbst vergessen. Wie wird dann die HYBRIS festgestellt? Sie wird nicht festgestellt. Unsinn und Irrtum und Vergessen können sich selbst nie erkennen. Wie wird dann einer mit der HYBRIS fertig? Er wird nicht fertig. DOPPELKÖPFE und KEHRTWENDIGE BAHN sind dem SELBEN versprochen. Wir können sie nicht voneinander abtrennen und entweder das Gespaltene des Menschen "therapieren" oder das Hin und Her der Dinge zurechtzimmern. Zeuge dafür steht die Geschichte der Frau, mit ihren vergeblichen Anläufen, zur Ruhe zu kommen, entweder indem sie mit Hilfe verschiedener Therapien versuchte, sich selbst zu ändern, oder indem sie bei anderen Menschen eine andere, "bessere" Mutter suchte. Solche Versuche wären sinnvoll gewesen nur wenn einer über seinen eigenen Schatten hätte springen können. Er kann's nicht.
Wie gesagt, können Unsinn und Irrtum und Vergessen sich selbst nie erkennen. Aber von welchem "selbst" ist hier die Rede? Ist die HYBRIS überhaupt in der HYBRIS erschöpft? Wenn doch auch hier, in der HYBRIS, d.h. im Gespann DOPPELKÖPFE und KEHRTWENDIGE BAHN, das SELBE, also das Herz der ALETHEIA schlägt? Dann wären HYBRIS und ALETHEIA gemeinsamschwesterlich (Hölderlin). Wo führt uns dies hin?
Kehren wir zum meinem Hinweis zu der Frau zurück – daß die verbietende Stimme der Mutter und das Ohr des kleinen Mädchens in das SELBE gehören. Die Frau ist überrascht, schockiert, sprachlos. Der Hinweis auf das SELBE, insofern er in seiner vollen Weite wahrgenommen und übernommen wird, versetzt das Problem, selbst die Ausweg- und Hoffnungslosigkeit, in eine andere Dimension. Überall hier war es ein Ich, das, vom SELBEN abgeschnitten, hoffte und nach einer Lösung suchte, oder keine Lösung fand und alle Hoffnung verlor. Beim Erwachen in das SELBE und bei der Akklimatisierung in seiner Luft kann das Ich nicht mehr Bezugspunkt und Subjekt, d.h. ein Zugrunde-liegendes sein. Hoffnung und Furcht, Versuch und Verzicht, Stand und Fall schwinden dahin. Die Überraschung der Frau, ihre Sprachlosigkeit sind eine -wenn auch unsichere und schwache- Spur dieses Sichlösens, der Ana-lyse hin zur Luft der königlichen Selbigkeit.
Das SELBE. In seinem Herzen lichtet sich das WESEN. Es widerhallt der festliche Klang der ALETHEIA. Die Sprachlosigkeit der Frau ist zwar, insofern sie in das SELBE aufgegangen ist, auch ein Fest, ein Fest jedoch von seinem anderen Gesicht her, dem dunklen. Hier flackert das SELBE nicht auf dem Weg der ALETHEIA auf, sondern auf dem Weg der HYBRIS -so geht es am Anfang immer- als der Unsinn, der Irrtum und das Vergessen, die ihre Welt, d.h. ihre Seele bestimmen. Und die Zeit der HYBRIS, wenn es zum Erwachen in ihrem Dunkel kommt, hat ebenfalls etwas festliches an sich. Es ist ebenfalls ein Fest - ein tragisches. Martin Heidegger nennt es in einer anderen Hinsicht (und vermutlich nach Hölderlins Heimkehr) helle Nacht. Anderswo vergleicht er es -plastisch zwar, aber unzureichend, da der betroffene Mensch außer acht bleibt- mit einem photographischen Negativ. In der jüngeren griechischen Dichtung ist es meines Wissens am schärfsten in der zweiten Fassung der Freien Belagerten von Dionysios Solomos und im Tod und Auferstehung des Konstantinos Palaiologos von Odysseas Elytis dargestellt worden. Überall hier ist eine HYBRIS am Werk. So wie die Frau sieht, daß es das kleine Mädchen ist, das die verbietende Stimme der Mutter hört, dies anerkennt und in ihrem Schock und in ihrer Sprachlosigkeit den Unsinn derselben und ihrer Mutter übernimmt, genauso, und viel radikaler, anerkennen und übernehmen die Personen der Dichtungen in der maßlosen Gewalt, die ihnen alles weggenommen hat, ihren eigenen Untergang. Aber sowohl die letzte Nacht in Mesologgi als auch die letzte Stunde an den Mauern der Polis ist ein Fest von seinem anderen Gesicht her, dem dunklen. Von hier aus, vom Ort dieses Festes her, ist vermutlich alle große Dichtung und alles große Denken mitzuvollziehen. Von hier aus öffnet sich der Weg des Gespräches der westlichen Zivilisation mit den anderen. Ich meine z.B. das, was im Zen-Buddhismus der Große Zweifel genannt wird.
Das therapeutische Gespräch, wenn es ihm glückt, an der Grenze anzulangen, wird einmal diesen Knoten erreichen, der Knoten und zugleich Knotenpunkt einer Wende ist, die das andere Gesicht des Festes sichtbar werden läßt. Ein Beispiel für diese Wende: Ein Mann, der erst spät erkannte, daß er die Frau, die er verlassen hatte, doch liebte, kommt erst bei der Vorstellung zur Ruhe, daß er mit ihr ins Meer hinaus schwimmt - geradeaus. Dies ist das eine Gesicht, das dunkle. Die Wende kommt in einem Einfall, wo der Mann zu sich sagt: "Wenn wir zusammen sterben können, dann können wir auch zusammen leben."
Ich erwähne noch zwei leitende Sprüche zu dieser Wende, die für das geneigte Ohr jetzt faßlicher sein sollten. Der eine stammt von Paul Celan: Geh [...] in deine allereigenste Enge. Und setze dich frei. Der zweite ist ein Vers Friedrich Hölderlins: Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch. Wir sollten uns nur davor hüten, "Enge" und "sich Freisetzen", "Gefahr" und "Rettendes" nach dem amerikanischen "happy end", dem "guten Ende", oder nach der platonisch-christlichen Tradition einer End-Erlösung zu hören. Vielmehr sollten wir es im ersten griechischen Licht sehen, wo "Enge" und "sich Freisetzen", "Gefahr" und "Rettendes", HYBRIS und ALETHEIA im SELBEN sich zusammenfinden. Gemeinsamschwesterlich sind. Ihre Wege, sagt Heidegger, treffen sich auf einem Kreuzweg, und die Kreuzung bleibt immer bei uns unterwegs - sie kommt, wenn mir hier eine Ergänzung erlaubt ist, hinter uns her und auf uns zu. Und einmal trifft sie genau. Die Tragödien des Aischylos und des Sophokles bezeugen dies deutlich genug.
Hier sei vermerkt, daß für den Psychiater und für den Psychologen ihre allereigenste Enge, zu der sie gerufen werden, die Psychiatrie und die Psychologie selbst sind - wenn sie sie sehr ernst nehmen. "Sehr" heißt, wenn sie sie ernster nehmen, als diese es überhaupt für sich selbst tun können. Es könnte bisweilen in unerwarteter und unvorhergesehener Weise zur Not werden. Eine Möglichkeit dazu ist der Einbruch dessen, was hier das "griechische Licht" genannt wird.
Im Orakel zu Delphi stand am Eingang die Inschrift: ERKENNE DICH SELBST. Die ahnungslosen Besucher kamen und fragten nach dem Kommenden. Unausgesprochen aber klang mit dem Wort des Orakels zusammen: "Erkenne dich selbst!". Denn die Sprache, die es sprach, WEDER SAGT AUS NOCH VERBIRGT SIE, SONDERN GIBT ZEICHEN (Heraklit B 93). Die ZEICHEN: weder sagen sie aus noch verbergen sie. Das ist uns nicht so fremd, wie wir zunächst meinen. In der Sprache der ZEICHEN sprechen die Träume, die kleinen Kinder und die senilen Alten, die Wahnsinnigen und die Seher. In ihr sprechen die Legenden und die Märchen, die Dichtung. Es ist die sogenannte "Körpersprache". Εs ist unsere gesprochene Sprache in den Stunden, wo uns gegönnt wird, wahr zu sein. Wenn es so ist, daß wir uns selbst in der Sprache der ZEICHEN erkennen, dann sind wir eben - ein ZEICHEN. Der Vers Hölderlins sagt es in einem fernen Einklang zu Heraklit: Ein Zeichen sind wir.
Die ZEICHEN - weder sagen sie aus noch verbergen sie. Wir bleiben dennoch beim "sagt...aus" und beim "verbirgt" stecken: wir übersehen das eine und greifen nach dem anderen aus. Bei den Träumen zum Beispiel übersieht die psychoanalytische Deutung das "verbirgt" - sie behauptet, daß in der Gestalt des "latenten Traumes" der Traum ausgesagt, offenbar wird. Die biologische Erklärung der Träume übersieht das "sagt...aus" - sie behauptet, daß der Traum auf eine Desorganisation der Hirnfunktionen zurückgeht und demzufolge sinnlos ist. Nach dem "sagt...aus" greift derjenige aus, der eine Antwort auf alles hat - oder meint, es gebe eine Antwort auf alles. Er hat die Lösung des Problems bei der Hand und gibt sie in der Form der Erklärung, des Rates, der Verhaltenssteuerung weiter. Nach dem "verbirgt" greift derjenige aus, für den die Sache keinen Sinn hat. Er wird sich am Medikament und an der palliativen Behandlung orientieren.
Das Ausgreifen nach dem "sagt...aus", das Sätze mit sich bringt wie "Dein Traum bedeutet das...", macht mundtot. Der Andere hat dann nichts zu sagen. Er kann es entweder akzeptieren oder verwerfen. Das ist aber kein Gespräch. Stellen wir es jedoch klar: Effektiv kann es sein. Ist aber kein Gespräch. Das Ausgreifen nach dem "verbirgt" bringt das Verstummen mit sich, das hilflose Achselzucken, das bloße Verwalten der Situation. Effektiv kann es sein. Ist aber kein Gespräch. Und wenn es effektiv ist, wenn es, wie wir sagen, "hilft", wozu braucht man dann das Gespräch? Man braucht es nicht - und dies wird uns solange beruhigen, als wir, hypnotisiert, jener verhängnisvollen Eigensucht überantwortet bleiben, die einen im Käfig seines Ichs, seiner Interessen und Bedürfnisse gefangen hält und sein Streben zur Aufrechterhaltung und Verstärkung seines Gleichgewichts hinlenkt.
Wenn die Therapie therapieren, griechisch: dem ERKENNE DICH SELBST dienen soll, dann ist sie angehalten, ohne Seitenblicke diesem Ruf zu entsprechen. Pindar spricht es so aus: LERNE UND WERDE WER DU BIST (P2, 72). Und wer sind wir? Ein ZEICHEN. Und, da wir ein ZEICHEN sind, sind wir ein Gespräch. Ich werde es verdeutlichen, indem ich wieder auf mein anfängliches Beispiel zurückkomme: "Eine Frau spricht erstmals von der Möglichkeit, Kinder zu bekommen. Sie sagt's und schämt sich. Ihre Rede ist flach. Sie berichtet bloß. Der Mut und die Begeisterung der letzten Tage seien verschwunden. Es sei ihr verboten, so zu sprechen." Nach dem "sagt...aus" ausgerichtet, hätte ich ihr sagen können: "Du willst Kinder mit mir bekommen." Nach dem "verbirgt" ausgerichtet, hätte ich etwa ein depressives Syndrom diagnostizieren und ihr ein Medikament verschreiben können. Ich bezweifle nicht, daß all das stimmen könnte. Um jedoch in der Art der erwähnten Therapeuten zu agieren, müßte ich ihre Worte als Information über ihren Zustand gehört haben, die ich in mir verarbeitet und nach denen ich mich entsprechend verhalten hätte.
Die wahre Sprache ist weder Information, wie es die entsprechende Theorie annimmt, noch Wirklichkeitsersatz, wie es die Freudsche Betrachtung will, noch Signifikant für ein Signifikat, wie es die Sprachphilosophie vorstellt. Die Sprache "bedeutet" nichts. Ich höre die Frau, ohne etwas jenseits ihrer Worte zu suchen: ohne zu denken, ohne zu vergleichen, ohne zu verbinden. Ich höre bloß. Ich höre die Stimme - den Scham, das Flache und Pulsierende und Synkopische ihres Tons. Weder sagt sie aus noch verbirgt sie. Sie gibt ZEICHEN, wie die Glocke am Kirchturm: sie läutet ein. Sie läutet die Frau selbst ein. Sie führt sie ein. Sie stellt sie vor. Die Sprache als konkrete bewegte Stimme ist jetzt ZEICHEN: Es zeigen sich die Frau mit ihren Möglichkeiten, ihren Verlangen und ihrem Scham, die verbietende Mutter, ich, Ungesagtes und Unsagbares. Es zeigt sich das All - in diesem bestimmten Augenblick, an diesem bestimmten Ort.
Das in der Stimme, in der gesprochenen Sprache eingeläutete All hat bei Heraklit seinen Namen gefunden: LOGOS. Schon immer hat er alles in einer UNSCHEINBAREN FÜGUNG sich zeigen lassen - in einer Fügung, die weder aussagt noch verborgen bleibt. EINS ALLES heißt es in einem anderen Fragment. Am LOGOS zeigt sich das ALLES im EINS jenes "einen Mals", wo einer geliebt worden ist - und es reicht. Die Stimme der Frau, als ZEICHEN gehört, läßt dieses EINS ALLES sich zeigen, insofern sie als gestimmt zum LOGOS gehört wird.
Die Stimme ist ZEICHEN: sie läutet ein, sie führt ein, sie stellt vor. Das Gesagte, das sehe ich. Und je klarer es gesagt wird, desto plastischer tritt es vor mir auf. Hör, daß du siehst! Es gibt ein Fragment Heraklits, das lautet: WAS DAS GESICHT DAS GEHÖR LEHRT, DAS ZIEHE ICH VOR (B 55). Eventuell gibt Heraklit den Vorzug nicht dem Gesehenen und dem Gehörten vor anderen Sinneswahrnehmungen, sondern dem, WAS DAS GESICHT DAS GEHÖR LEHRT: dem, was gelernt wird, wenn GESICHT und GEHÖR das SELBE ist: wenn einer hörend sieht. Dann hört man nicht mit den Ohren, sondern ganz. Dann sieht man nicht mit den Augen, sondern ganz. Ein Fragment des Xenophanes sagt: GANZ SIEHT UND GANZ SINNT UND GANZ HÖRT ER (Β 24). Es geschieht, wenn das Gesehene und das Gesonnene und das Gehörte uns trifft. Eine Frau sagte mir: "Daß der Sinn eines Wortes einen trifft, das ist was anderes."
Das Wort, wenn sein Sinn einen trifft, ist keine "Sprache" mehr. Es ist GESICHT GEHÖR: das WESEND selbst. Nur wenn wir sehen, was wir hören und sagen, sind wir bei den Dingen; ist unsere Begegnung ein Gespräch; ist unser Gespräch gemeinsames Wohnen. Dann wird die Welt zum Wohnort. Dann besagt Hölderlins Ein Gespräch sind wir: Ein Wohnen sind wir. Dann ist das Leben ein wohnend Leben. Das therapeutische Gespräch ist ein Weg zu diesem Wohnen hin. Deswegen achte ich als Therapeut darauf, daß ich das, was ich höre, es sehe und was ich sage, gesehen habe. Es geht abhanden, wenn mein Gesprächspartner nicht beschreibt, sondern denkt, und wenn ich nicht sehe, sondern ihn zu verstehen versuche. Dann bleibt jeder von uns in seiner Person verschlossen, in dem, was Heraklit EIGENSINN (Β 2) nennt.
Da ich -jedenfalls in den mir gegebenen Grenzen- als Therapeut mit meinem Gehör und mit meinem Blick dem LOGOS zugewandt bin, bin ich nie in mir selbst verschlossen: ich denke nicht und fühle nicht. Mein Gesprächspartner existiert nicht in der dritten Person als "Er/Sie", sondern von Anfang bis Ende ist er mir ein anfragbares, so wie ich ihm ein ansprechbares "Du" bin, gleich ob es gesprochen oder geschwiegen wird. Dort, am Ort der dem Jeweiligen zugekehrten Zweitpersonen, warte ich auf ihn, dorthin führe ich ihn mit meiner Kunst. Ich lade ihn quasi ein, eine fremde Sprache zu lernen. Diese Sprache ist nach dem LOGOS gebaut: Ihre FÜGUNG ist UNSCHEINBAR: Sie stellt keine Verbindung und keinen Zusammenhang her. Sie kümmert sich um kein Warum und Wie. Sie läßt die an einem Ort und zu einer Zeit gegebenen Dinge und Menschen, solang sie stehen, so erscheinen, wie sie sind: nachbarlich und zugleich unbekannt einander (Hölderlin). Dieses reine Beieinander könnten wir, wenn wir das Wort nicht eng grammatikalisch hören, "Parataxis" nennen. Sie ist ein zu spielendes Sprachspiel (Wittgenstein), d.h. eine anzueignende Lebensform. Sie ist, so verstehe ich es, die der therapeutischen Begegnung aufgegebene Richtung. Hier seien vier Momente dieser herausgegriffen und kurz erläutert:
1. Den vielfachen Verbindungen, Begründungen, Erklärungen der "syntaktischen" Rede stellt die Parataxis die Beschreibung entgegen. Sie findet sich in ihrer strengsten Form nicht etwa in einem Bericht, wo einer vermittelt, was seine Augen gesehen und seine Ohren gehört haben. Je getreuer die beschreibende Rede, desto dichterischer wird sie - sofern diese sich vom Schönen und vom Gefühlsmässigen freihält. Ein Beispiel: Die beiden Türen der Welt / stehen offen: / geöffnet von dir / in der Zwienacht. / Wir hören sie schlagen und schlagen / und tragen das ungewisse, / und tragen das Grün in dein Immer (Paul Celan, GRABSCHRIFT FÜR FRANCOIS).
Als Beispiel einer parataktischen Beschreibung, zumindest der Intention nach, können wir uns aber auch jede beliebige Rede aus einer Therapiestunde vergegenwärtigen, welche die von der UNSCHEINBAREN FÜGUNG ahnungslose Psychologie "freie Assoziation" nennt. Das "Freie" liegt gerade darin, daß man sagt, was ihm in den Sinn kommt - ohne dabei zu denken, d.h. ohne das in den Sinn Gekommene zum Gegenstand einer wie auch immer gearteten "Zensur" zu machen. Je freier man spricht, desto "parataktischer" ist seine Rede.
2. Der definierenden, und der daraus entstehenden symbolischen und übertragenen "syntaktischen" Rede stellt die Parataxis die Tautologie entgegen. Als Beispiel erwähne ich den von Hanspeter Padrutt's Eine Wiese ist eine Wiese inspirierten Satz: "Die Liebe ist Liebe." Ich habe ihn in einem Vortrag vor fast vier Jahren ausgesprochen. Er ist dort am Platz, wo die Liebe am Werk ist. Das "Ich liebe dich" spricht nicht vom "Begriff" der Liebe; es spricht nicht von "Liebesgefühlen"; es wird nicht durch andere Wörter ersetzt wie Zärtlichkeit, Sorge, Verständnis, Mitgefühl, Eros und dergleichen; es wird nicht als "Beziehung" vorgestellt; es wird nicht von "Mechanismen" gesteuert; es wird nicht auf neurochemische Prozesse zurückgeführt. Nicht Ich liebe dich, weil du schön bist, sondern, denken Sie an die Rose des Angelus Silesius, "weil ich dich liebe".
3. Der Vorstellung eines wie auch immer gearteten Fortschreitens im Sinne eines Prozesses, einer Entwicklung u.drgl. stellt die Parataxis die Wiederholung entgegen. Hier könnten fast alle späte Gedichte Hölderlins angeführt werden, die die wiederkehrenden Jahreszeiten besingen. In einem Gedicht vom Jahre 1842 mit dem Titel "Der Mensch" heißt es: Wenn aus sich lebt der Mensch und wenn sein Rest sich zeiget, / So ist's, als wenn ein Tag sich Tagen unterscheidet, / Daß ausgezeichnet sich der Mensch zum Reste neiget, / Von der Natur getrennt und unbeneidet. // Als wie allein ist er im andern weiten Leben, / Wo rings der Frühling grünt, der Sommer freundlich weilet / Bis daß das Jahr im Herbst hinunter eilet, / Und immerdar die Wolken uns umschweben.
Meistens sträubt man sich gegen die Wiederholung. Man empfindet die Kreise von Tag und Nacht, von Frühling, Sommer, Herbst und Winter als beengend und ist versucht, aus sich gerade Linien durch diese Kreise hindurch zu ziehen. Zuweilen kann einer sich von den Banden der Selbstsucht lösen und im Kreisen des andern weiten Lebens aufgehen - er kann mit dem Licht des Tages und mit dem Dunkel der Nacht zusammengehen. Dann wird man mit dem Dichter Giorgos Sepheris sagen können: Gleich ob es dämmert oder leuchtet / bleibt das Jasmin / weiß. Man wird mit der Sommerferien-Frau sagen können: "Dieses Jahr nichts ist zu Ende, die Arbeit hört nicht auf, Sie gehen nicht verloren ... "
4. Den um der zusammenhängenden, "syntaktischen" Rede willen entfremdeten Dingen und den ihnen nunmehr entsprechenden Sprachzeichen stellt die Parataxis das Nennen entgegen.
Wir nehmen als Beispiel die sogenannte "Übertragung". Die "Übertragung" nennt nichts. Sie ist das Zeichen für eine Erklärung, die von sich übertragenden Gefühlen usw. von den Eltern zum Therapeuten spricht. Sie ist kein Name, weil sie kein Ding nennt. Das Ding gibt es nicht. Es hat sich sogleich in seiner Erklärung aufgelöst. Es ist ein Schatten, der durch und für seine Erklärung besteht. Wir vergessen es aber. Wir sprechen von "Übertragung", wie wir von meinem vor mir liegenden Glas, oder von meiner Liebe zu meiner Frau, oder von der Störung durch meinen Nachbarn sprechen. Die "Übertragung" ist ein Sprachzeichen, aber kein Name.
Wenn wir es sehen, daß dieses Wort und unzählige andere kein Ding nennen, UNNENNBAR, und zugleich kein Ding im Sinn haben, UNSINNIG, wenn wir es sehen, daß es als angeblicher Name uns etwas verspricht, das von unserem Blick sogleich verschwindet, ergreift uns dann nicht ein Schwindel? Befällt uns dann nicht eine Übelkeit? Wo, indem das Ding verschwindet, wir selbst auch verschwinden? Und leuchtet dann nicht von diesem Ort aus der Name als das auf, was dem Ding seine Wirklichkeit und uns unser Wohnen, Heidegger, bei den Dingen gönnt?
Ein Gedicht Stefan Georges schließt mit der Anführung des Gesetzes: Kein Ding sei, wo das Wort gebricht. Im Gespräch mit diesem Vers hat Paul Celan geschrieben: Kein Ding, kein Wort / und beider einziger Name. Hier enthüllt sich der einzige Name als das SELBE von Wort und Ding, als das EINS ALLES des LOGOS, als das AUSGESPROCHENE des SINNENS am WESEN.
Aber den Namen gibt es nicht von selbst. Es ist ein Handeln. Es ist der Nennakt (Thrasyboulos Georgiades), der uns nicht als Eigentum gegeben, sondern als Pflicht [mit "pflegen" verwandt!] aufgegeben ist. Vom gesuchten Namen nährt sich und zu diesem hin neigt jedes Gespräch, auch und vor allem das therapeutische, gleich ob es darum weiß oder nicht. Als einer mir sagte, er sei müde, immer ums Selbe zu kreisen, antwortete ich: "Es könnte sein, daß Sie noch nicht das richtige Wort für das haben, was Sie angeht." Ein weiteres Beispiel für das Einstimmen in den Zug des Nennakts. Ich frage einen: "Macht es überhaupt einen Unterschied, daß Sie kommen? Ändert sich was?" Er: "Die Lüge ist nicht leicht - der Fehler ist mehr Fehler." Ich dachte an einen Vers des späten Hölderlin, der mir besonders lieb ist: Und höher zeigen die Unterschiede sich.
Das therapeutische Gespräch wird weniger derjenige suchen und verfolgen, der unter Leidensdruck steht, nicht derjenige, der die Voraussetzungen der einschlägigen Literatur erfüllt, sondern, um es einfach zu sagen, derjenige, der beherzt genug ist. Aber damit er sich überhaupt auf den Weg kommt, braucht er einen, mit einem Parmenideswort, ZUVORKOMMENDEN (Β 1,22) Mitgeher. Das Wort wird so von Hanspeter Padrutt übersetzt. Hier soll kein Gefühlszustand bezeichnet, sondern derjenige genannt werden, der "zuvorkommend" im gewöhnlichen Sinne sein kann, nur weil er im zuvor-, also am Ort weilt, worauf der Gang dieser Begegnung aus ist und er deswegen imstande ist, die ZEICHEN zu erkennen und selber Zeigender zu werden.
Es ist nicht eine Frage der Methode. Denn trotz aller noch so ausgeklügelten Technik wird der Therapeut nicht aus seinem Schatten heraustreten können. Und sein Schatten setzt sich aus den ZEICHEN seines eigenen Leibens und Lebens zusammen. Insofern er zu seinem Schatten steht, wird sein Sagen und Schweigen auch therapeutisch wirksam sein, indem er eben zu einem Zeigenden wird. Zeigend, wohin?
Incipit Tragoediae (Nietzsche). Jedes Gesicht ist von seiner Tragödie gezeichnet. Wenn ich von "Tragödie" spreche, so meine ich keineswegs das Mißgeschick, das einen bisweilen trifft. Denn hier ist immer noch ein Ich da, das protestieren und weinen, kämpfen und aufgeben kann. Die "Tragödie" höre ich im Nachhall des alten Dramas. Ich meine die HYBRIS, die sich zugespitzt hat, in deren Wirbel alles mitsamt dem Betroffenen selbst in diesen Untergang zugrundegegangen ist. Ich meine das andere Gesicht des Festes, das dunkle Licht des Aufgangs des SELBEN.
Jedes Gesicht ist von seiner Tragödie gezeichnet. Es ist die Tragödie selbst, die an den Linien des Gesichtes lauert, denken Sie an das DURCHZIEHT ALLES DURCH ALLES HINDURCH. Sie lauert auf den Augenblick, ungebremst auszubrechen. Die "Abwehrmechanismen" sind nur Dammbauten gegen den drohenden Vormarsch ihres vorausgeworfenen Schattens. Zwar irgendwie, irgendmal, sagt Kavafis, der Ephialtes wird am Ende passieren, / und die Meden werden endlich passieren. Jene sehen es voraus, die es in ihrem Leben / bestimmten, Thermopylen zu bewachen. Thermopylen: die allererste allereigenste Enge. Unsere, wiederum Kavafis, perplexen und widersprüchlichen / Seelen wissen es nicht und wollen es nicht wissen. Das therapeutische Gespräch wird selten dorthin gelangen. Die Wege der Therapeuten und ihrer Gesprächspartnern sind kaum weit genug und bleiben irgendwo stecken. Und je ferner sie von der je allereigensten Enge zurückbleiben, desto fader wird die Öffnung sein. Aber dorthin wendet sich die Therapie. Das ist -im griechischen Licht- ihr entscheidender Punkt und die äußerste Mark.
Jedes Gesicht ist von seiner Tragödie gezeichnet. Der Therapeut soll diese ZEICHEN, die den Gang zur Enge einläuten, ausmachen können und sich unentwegt dorthin wenden. Unentwegt und - blind. Denn der Blick des Therapeuten reicht nur bis zu dem, was in der Luft liegt und zur Sprache kommen und in seinem Namen ruhen will. Zugleich -mit einem Auge zu viel (Hölderlin)- befindet er sich dort, an der Enge. Der Therapeut braucht nur, den Weg auszumachen und sich in der Richtung halten. Dies ergibt sich, wenn er auf den LOGOS hört: wenn er das Gesagte seines Gesprächspartners deutlicher hört als dieser selbst und ihn ermuntert, auf sein Gesagtes weiter einzugehen; es wahrlich zu übernehmen; es zu nennen; zu ihm zu stehen; selbst zu seinem Gesagten zu werden. Das banale Beispiel der schamhaft flachen Stimme, welche die Gestalten des kleinen Mädchens, der verbietenden Mutter, des Therapeuten offenbart und verbirgt, zeigt es meines Erachtens klar genug.
"Selbst zu seinem Gesagten zu werden" heißt: das EINS des LOGOS, das SELBE der ALETHEIA zu bewohnen. Angesichts dessen hat der Therapeut so zu sprechen, wie Heraklit die Rede der Sibylla bezeichnet: UNGELACHT UNGESCHMINKT UNGESALBT (Β 92). Der Therapeut hört und bringt das Gesagte seines Gesprächspartners zu Wort; er gibt es ihm sozusagen zurück, diesmal aber mit klaren fetten Buchstaben geschrieben: er bringt sein Gesagtes als Bild vor seinen Augen, und dieser sieht es. Er kann das, weil er die Worte als auf den LOGOS gestimmte hört, die auch ganz trivial hätten gehört werden können. Heidegger schreibt einmal, unsere alltägliche Sprache sei ein vernutztes Gedicht. Selbst in der trivialsten Rede lauscht der Therapeut das EINS ALLES, das SELBE der ALETHEIA. An den unschuldigen Zeichen spürt er die nahende Tragödie aus. Solomos beschreibt den Gang mit knappen Worten: Auf Grund fällt er aus Grund, bis es anderen keinen gab. Aber der Fall ist nicht furchtbar, weil ineins damit der Fallende, da im SELBEN gefügt, sich auch verwandelt. Deswegen sagt der folgende Vers: Von dort kam er unbesiegbar heraus.
Es ist schon Zeit, daß wir auf die hier erwähnte "Deutung" näher eingehen. Die Frau spricht von der Möglichkeit, Kinder zu bekommen. Sie spricht schamhaft, unbeteiligt und flach. Warum? Eine mögliche Antwort wäre: Weil sie mit mir Kinder haben will, aber ihre "Zensur" es ihr nicht erlaubt, einen solchen Wunsch zu äußern usw. Das "warum?" erzwingt eine Antwort, die das Erfragte in den Gesetzen seiner Wissenschaft einordnet. Ein solches Gesetz wäre etwa der Satz: "Alles kommt von... und wird zurückgeführt auf unbewußte Wünsche."
Ich betone es, weil der Satz des Parmenides DAS SELBE IST SINNEN UND WESEN den Zug dessen hat, was die Alten auch ΝΟΜΟΣ, "Gesetz" nannten. Allein hier geht es um etwas ganz anderes. Der NOMOS der Alten, so der Musikhistoriker Thrasyboulos Georgiades, kann in gewisser Weise mit einer Partitur verglichen werden: Er braucht den Akt der Ausführung, da er nur dann zum Zuge kommt, ohne jedoch in diesem einen Akt je erschöpft zu werden. Aber, im Gegensatz zur Partitur, sagt Antigone zu den NOMOI: NIEMAND HAT GESEHEN WOHER SIE ZUM VORSCHEIN GEKOMMEN (Antigone, 450). Es diktiert sie ein impersonales ES BRAUCHT (so die Übersetzung Heideggers für Parmenides B 6,1) - ein BRAUCH, der uns selbst zu den für ihren Vollzug Gebrauchten bestimmt.
Das SELBE ist ein BRAUCH, zu dem wir uns nie verhalten können, weil wir es selbst sind. Und da wir dem BRAUCH, der wir sind, so wie wir sind, entsprechen oder ihn vernachlässigen können, hat uns der NOMOS in die Prüfung gestellt, inwiefern wir bei unseren Wanderschaften auf dem Kreuzweg von ALETHEIA und HYBRIS ihn anerkennen oder übersehen. PRÜFE (B 7,5), sagt die Göttin zum Parmenides an einer entscheidenden Stelle ihrer Rede.
Das "warum?" ist nur darauf aus, immer wieder die Geltung des Gesetzes, dem es dient, abzusichern, indem es alles seinem Maß anpaßt. Im griechischen Licht kümmern sich die NOMOI nicht daran, etwas in ihren Maßen zu unterjochen, sondern UNGELACHT UNGESCHMINKT UNGESALBT bringen sie die MASSE hervor, welche die HYBRIS überschreitet, an welche der wähnende Sinn früher oder später anprallen wird. Die Psychotherapie im griechischen Licht achtet auf diese MASSE. Sie merkt die wachsame DIKE, die oben kreisenden ERINYEN. Sie merkt den vorausgeworfenen Schatten der nahenden Tragödie. Sie merkt und nennt. Der Therapeut ist da kein Richter, kein Lehrer, kein Ratgeber, nicht einmal Therapeut ist er, sondern, der Ausrichtung nach, erlauben Sie mir einen frevelhaft anmutenden Vergleich, ein Seher: er sagt voraus, indem er die NOMOI und ihre Überschreitungen merkt und nennt. In deren Namen finden die harten und zarten Auseinandersetzungen mit denen statt, die nicht hören wollen, bis sie an ihrem EIGENSINN gescheitert sind.
In einem Gedicht von Kavafis will ein Mann von seiner kleinen Stadt, wo er sich fast begraben vorkommt, fort nach einem anderen Land, nach einem anderen Meer. Der ZUVORKOMMENDE Dichter antwortet ihm: Die Stadt wird dir folgen. Der Dichter gibt keine Anweisung. Er sagt nur voraus. Der Mann wird aber aus seiner Stadt und aus seinem miserablen Leben doch zu fliehen versuchen. Irgendwie irgendwann wird er entdecken, daß die Stadt ihm gefolgt ist.
Und aus einer Therapiestunde. Ich: "Sie wollen Ihren Sohn im Kokon bewahren." Sie: "Ja. Ist es denn schlecht?" Ich: "Es ist nicht schlecht. Es ist unmöglich." Die Frau wird mit aller Kraft versuchen, ihren Sohn im Kokon zu bewahren. Der Therapeut soll sie ruhig lassen, es zu versuchen - sie wird es sowieso tun. In dem Augenblick aber, wo sie gescheitert ist, gerade an diesem Ort des Trümmerhaufens, wird er dabei sein, er wird, wie der Igel zum Hasen sagte, all hier sein, an diesem Reinigungsort, von wo aus eine Wende sich ereignen kann. So geht der Therapeut, mit seiner Kunst, weithin zum griechischen Licht, dort, wo der UNSINN sein Gemeinsamschwesterliches trifft, die ALETHEIA, dort, wo die Menschen gezwungen werden, die Heiligkeit ihrer Seelen bis auf ihren Grund hin zu enthüllen (Solomos).