Einst träumte Dschuang Dschou, dass er ein Schmetterling sei, ein flatternder Schmetterling, der sich wohl und glücklich fühlte und nichts wusste von Dschuang Dschou. Plötzlich wachte er auf: da war er wieder wirklich und wahrhaftig Dschuang Dschou. Nun weiß ich nicht, ob Dschuang Dschou geträumt hat, dass er ein Schmetterling sei, oder ob der Schmetterling geträumt hat, dass er Dschuang Dschou sei ...
Meine Damen und Herren, das ist der "Schmetterlingstraum" des Dschuang Dschou. In diesem Wortlaut habe ich ihn von den Traumbüchern von Medard Boss kennen gelernt. Dem ersten Buch ist er als Motto vorangestellt. Im zweiten Buch leitet er seine Diskussion über das so genannte "Wesen des Traumes" ein. Soweit ich weiß geht Boss auf diesen buchstäblich hervor-ragenden Traum merkwürdigerweise nie ein. Noch merkwürdiger ist es, dass seine Traumauffassung eine andere Richtung eingeschlagen hat. Denn in der Indienfahrt eines Psychiaters, also schon noch vor dem ersten Traumbuch, zitiert er einen indischen Weisen: "Kein Mensch träumt von einer schwerfälligen, eingepanzerten Schildkröte, dem es nicht schildkrötenhaft eng und beschwerlich zumute ist." Hier ist der Traum auf die Stimmung des wachen Menschen zugeschnitten. Sein "schildkrötenhaft enges und beschwerliches" Wachleben bestimmt eben seinen Traum. Das Duett Wachen-Schlaf wird einzig auf den Menschen, und überdies auf den wachen Menschen hin ausgelegt. Der indische Weise und Medard Boss hätten nie gesagt: "Nun weiß ich nicht, ob dieser Mensch geträumt hat, dass er eine Schildkröte sei, oder ob die Schildkröte geträumt hat, dass sie dieser Mensch sei ..."
Und doch. Wie gesagt, an markanten Stellen der erwähnten Bücher stößt man gerade auf diese Traumgeschichte. Sie steht dort wie ein Fremder; oder wie ein Hofnarr, in dessen Augen die todernsten Geschäfte zu einem Loch im Wasser werden, wie wir sagen. Ich dachte, Boss stellte auf der Szene seiner Traumdeutung einen Narren hin, der auf seine Part vergeblich wartet. Ich meinte, ich müsste nach dem Ende der Vorstellung noch im Saal sitzen bleiben und auch warten, bis der Narre sich regt und den Mund aufmacht. Der Narre aber "wohnt dichterisch". Was ich von seinem Spiel aufschnappen konnte, legte ich in einer vor zwanzig Jahren erschienenen Schrift mit dem Titel "Der Traum" dar.
Die kleine Geschichte vom "Schmetterlingstraum" hat eine Fortsetzung. Ich lese Ihnen die Geschichte ganz vor, so wie sie in einer neueren Übersetzung wiedergegeben ist:
Einst träumte Dschuang Dschou, ein Schmetterling zu sein - ein fröhlicher Schmetterling, der sich seines Lebens freute und nichts wusste von einem Dschou.
Plötzlich, da er erwachte, war er leibhaftig der Dschou.
[Frage:]
'Ich weiß aber nicht, ob Dschou davon träumte, ein Schmetterling zu sein, oder der Schmetterling [jetzt] davon träumt,
Dschou zu sein.'
[Gegenposition:]
'Aber zwischen Dschou und dem Schmetterling müsste es doch einen Unterschied geben!'
[Fazit:]
'Das nennt man die Wandlung der Dinge.'
Wer ist denn dieser Mensch, der geträumt hat, er sei ein Schmetterling und von sich sagt, tatsächlich sagt, er könnte wohl genauso gut Traum eines Schmetterlings sein?
Letzten Dezember habe ich in einem Vortrag Freuds Beitrag in einer gewissen Hinsicht erörtert. Gegen den Schluss sagte ich: "… mein heutiger Vortrag ist ein Gespräch, …"; dann sprach ich die Anwesenden an: "… denn Sie haben ihn geschrieben. Insofern es sich nicht um einen Wahn handelt, geht er nicht nur mich, sondern Sie auch und uns alle an – Freud auch, der zu den Verfassern des Vortrags mitgehört."
Eine merkwürdige Erfahrung war das. Diese Worte hatte nicht ich zu Papier gebracht. Sie waren mir diktiert worden. Sie leiteten meine Hand. Sie waren mir zwar irgendwie sinnvoll, aber zugleich total fremd. Später, und zwar während der Vorbereitung des heutigen Vortrags, meinte ich, in ihnen einen Nachklang des "Schmetterlingstraums" erkannt zu haben. Dann wäre das Zusammenspiel der erwähnten Sprecher und Hörer so wie das Zusammenspiel von Dschuang Dschou und dem Schmetterling.
Nachdem ich diese Zeilen geschrieben hatte, erinnerte ich mich an eine Anekdote über Picasso: Während der deutschen Besatzung von Paris gingen einige Offiziere zu seinem Atelier. Dort stand "Guernica". "Hast du das gemacht?", fragten sie ihn. Picasso versetzte: "Nein. Ihr."
"Kinder vieler Menschen sind unsere Worte", sagt ein Vers des griechischen Dichters Giorgos Seferis.
Was einer tut und lässt, geschieht vielleicht doch nicht in seinem Namen und in seinem Sinne allein. In Becketts Theaterstück Warten auf Godot Estragon und Wladimir warten auf jemanden, den sie nicht kennen. Eine weitere Figur ist Pozzo. Er ruft um Hilfe. Estragon und Wladimir fragen sich, ob sie ihn verprügeln, oder ob sie ihm helfen wollen. Zuletzt spricht Wladimir:
Wir wollen unsere Zeit nicht mit unnützen Reden verlieren. Pause. Ungestüm. Wir wollen was tun, solange die Gelegenheit sich bietet! Uns braucht man nicht alle Tage. Offen gesagt braucht man nicht uns persönlich. Andere würden die Sache ebenso gut, wenn nicht besser, machen. An die ganze Menschheit richteten sich diese Hilferufe, die in unseren Ohren nachklingen! Aber an diesem Ort, zu diesem Zeitpunkt sind wir die Menschheit, ob es uns passt oder nicht. Wir wollen es ausnützen, bevor es zu spät ist. Wir wollen einmal würdig die faule Brut vertreten, in die ein hartes Geschick uns spediert hat!
Früher in Sizilien, während der Geburtswehen der Frau, kam es vor, dass der Vater ebenfalls Bauchschmerzen hatte. (Das Pikante ist dabei, dass einige Male der Mann, der Bauchschmerzen hatte, nicht der Ehegatte war...) Eine ähnliche, wenn auch weniger spektakuläre Erfahrung ist uns wohl möglich, wenn wir z.B. auf der Straße eine Mutter sehen, die ihrem Kind eine Ohrfeige gibt. Es kann sein, dass die Ohrfeige uns auch trifft, es kann sein, dass auch unsere Hand das Kind schlägt. Eine noch weniger spektakuläre Erfahrung: Ich sitze im Kaffee. Draußen gehen Leute vorbei – Männer und Frauen, Jung und Alt. Ist es wohl allzu abwegig, sich mit Dschuang Dschou zu fragen: Bin ich denn derjenige, der im Kaffee sitzt und die alte Frau draußen vorbeigehen sieht, oder bin ich die alte Frau, die an einem sitzenden Mann im Kaffee vorbei geht?
Hier wollen wir endlich halt machen und auf einen nahe liegenden Einwand eingehen. Er sagt nämlich: "Deine Hörer haben doch deinen Vortrag nicht wirklich geschrieben; die deutschen Offiziere haben keine 'Guernica' wirklich gemalt; der Sizilianer hat keine wirkliche Wehen; die Mutter schlägt nicht dich; du bist keine alte Frau." Wer bringt aber diesen Einwand vor? Ist es nicht derjenige, der nur für wirklich hält, was seine Augen sehen und seine Ohren hören? Ist es nicht derjenige, der auf den Finger schaut, wenn einer ihm den Mond zeigt?
In alle Zeiten sind wir voneinander abgeschieden und gar in einem Moment nie getrennt; den ganzen Tag begegnen wir uns einander und gar in einem Augenblick niemals.
Es sind Worte des Zen-Meisters Daito. Sie hätten genauso gut von Heraklit stammen können. Er hätte nämlich gesagt: "Nah und fern, Selbst- und Anderssein, das Selbe."
Wir sind bei Nachklängen des "Schmetterlingstraums". Nun wollen wir diese Erfahrungen uns näher bringen. Ein diesmal wirkliches Fragment Heraklits lautet:
Sterblich Unsterbliche, unsterblich Sterbliche. Jene leben den Tod dieser, diese sterben das Leben jener.
Es geht nicht um Unsterbliche und Sterbliche, die in einer Beziehung zueinander stehen. Die einen heißen die "sterblich Unsterblichen", die anderen heißen die "unsterblich Sterblichen". Die Unsterblichen sind, indem sie den Tod der Sterblichen er-leben; die Sterblichen sind, indem sie das Leben der Unsterblichen er-sterben.
Worum geht es hier? Martin Heidegger erläutert in seiner Heraklit-Vorlesung das griechische Wort "Physis" folgendermaßen:
Überall ist (...) ein wechselvolles Ein-ander-an-wesen aller <Wesen>
Das Verbum "an-wesen" ist hier transitiv zu hören: das eine west das andere an. Wie das vor sich geht, können wir in einer gewissen Hinsicht vielleicht ahnen, wenn wir einige Verse aus Paul Celans Gedicht "Es ist alles anders" hören. Es ist von dem russischen Dichter Ossip Mandelstamm die Rede:
[…]
der Name Ossip kommt auf dich zu, du erzählst ihm,
was er schon weiß, er nimmt es, er nimmt es dir ab, mit Händen,
du löst ihm den Arm von der Schulter, den rechten, den linken,
du heftest die deinen an ihre Stelle, mit Händen, mit Fingern, mit Linien,
- was abriss, wächst wieder zusammen -
da hast du sie, da nimm sie dir, da hast du alle beide,
den Namen, den Namen, die Hand, die Hand,
da nimm sie dir zum Unterpfand,
er nimmt auch das, und du hast
wieder, was dein ist, was sein war,
[…]
Eine andere Figur, die unserem Anliegen, nämlich der Beschreibung der Erfahrung von Nachklängen des "Schmetterlingstraums", entgegenkommt, ist der Seher Teresias, so wie er in T. S. Eliots Gedicht The waste land [Das wüste Land] erscheint. Eliot hat zu diesem Gedicht Notizen beigefügt. Dort schreibt er:
Teresias, selbst wenn er bloßer Beobachter und doch kein 'Charakter' ist, ist trotzdem die wichtigste Persona im Gedicht, indem sie alle übrigen einigt.
Genau so wie der einäugige Händler […] in den phönizischen Seemann hineinschmilzt, und dieser nicht ganz distinkt von Ferdinand, dem Prinzen von Neapel ist, sind alle Frauen eine Frau, und die zwei Geschlechter treffen sich an Teresias. Was Teresias sieht, ist faktisch die Substanz des Gedichtes. Die ganze Passage von Ovid ist von großem anthropologischen Interesse.
In den Metamorphosen des Ovid soll Teresias während sieben Jahren die Gestalt einer Frau angenommen haben. Das "große anthropologische Interesse" bezieht sich darauf, dass an Teresias "die zwei Geschlechter sich treffen". "Ein Geschlecht" heißt es bei Georg Trakl. Und Rimbaud spricht in einer seiner "Illuminationen" namens ANTIQUE den Sohn des Pan an und sagt: "Dein Herz schlägt in diesem Bauch, wo das doppelte Geschlecht schlummert."
Im "wüsten Land" kommt es nun zu einer dürftigen erotischen Begegnung zwischen einer Sekretärin und einem jungen Angestellten. Es spricht Teresias:
Ich, Teresias, wenn auch blind, ich, der zwischen zwei Leben pulsierende,
Ich, Teresias, ein alter Mann mit runzligen Warzen
Ich erfasste die Szene und sagte den Rest voraus
Ich auch wartete auf den kommenden Gast
Und wenig später:
Und ich, Teresias, habe all das vorausgelitten,
Was sich auf diesem Diwan oder Bett abspielte
Ich frage nochmals: Wer ist denn dieser Mensch, der geträumt hat, er sei ein Schmetterling und von sich sagt, tatsächlich sagt, er könnte wohl genauso gut der Traum eines Schmetterlings sein? Wer ist Picasso? Wer ist der sizilianische Vater und der Mann im Kaffee? Wer sind Wladimir und Teresias? Wer sind wir?
Erfahrungen wie die vorher erwähnten sind nicht möglich, wenn wir uns allein von unserem Tun und Lassen her vorstellen. Denn so haben wir uns in eine Gestalt und in eine Identität festgefahren und verstehen uns von dieser jeweiligen Gestalt und Identität her. Dann ist Dschuang Dschou bloß Dschuang Dschou und der Schmetterling bloß Schmetterling. Die Bemerkungen Dschous zu seinem Traum wären undenkbar.
Wer ist der Mensch? Martin Heidegger sagte, das Sein sei nirgendwo inmitten des Seienden zu finden. Entsprechend ist das Menschsein nirgendwo am Tun und Lassen des Menschen, nirgendwo am Menschlichen überhaupt zu finden. Paul Celan sagt es in seiner Sprache:
KRISTALL
Nicht an meinen Lippen suche deinen Mund,
nicht vorm Tor den Fremdling,
nicht im Aug die Träne.
Sieben Nächte höher wandert Rot zu Rot,
sieben Herzen tiefer pocht die Hand ans Tor,
sieben Rosen später rauscht der Brunnen.
Das un-menschliche Menschsein ist kein bloß philosophischer Begriff. Es kann erfahren werden. Der frühe Heidegger hat es im Namen der "eigentlichen Langeweile" und der "eigentlichen Angst" erfahren. Im Zuge dieser Erfahrung sagt er: "Das Seiende entgleitet". Es könnte heißen, dass einer sich gerade da findet, wo er alles verloren hat - auch das Verlorenhaben selbst. Erst inmitten dieser Enthüllung, dieses Nacktseins wird alles leicht und spielt frei ineinander. Erst dann ist Menschsein und Sein das selbe (Parmenides). Erst dann sind wir "ein Gespräch" (Hölderlin).
Zu der existentiellen Aufgabe eines solchen Gesprächs schreibt der japanische Denker Keiji Nishitani:
Diese Anforderung ist deshalb von einschneidender Art, weil sie uns dazu aufruft, zu unserem ursprünglichen »Selbst« […] zurückzukehren, uns ein für allemal jener fixierten Formen und Normen zu entledigen, die unser Denken, Fühlen und Wollen in vorgefertigte und scheinbar ewige Rahmen einschließen. Wir sind aufgerufen, auf die grundlegendste Ebene zurückzukehren, wo der Mensch einfach Mensch ist oder nur noch ein Menschensohn, nicht mehr und nicht weniger; wo er gänzlich bloß ist, barhäuptig, unbekleidet, mit leeren Händen, barfuss, aber wo er ebenso auch das Innerste seines Herzens vorbehaltlos öffnen kann.
Was sehen die Augen desjenigen, dem "das Seiende entgleitet", der "einfach Mensch" ist und so "das Innerste seines Herzens vorbehaltlos öffnen kann"? Nishitani zitiert aus dem Markus Evangelium:
Und da er aus dem Tempel ging, sprach zu ihm einer seiner Jünger: Meister, siehe, was für Steine und was für Bauten! Und Jesus sprach zu ihm: Siehst du diese großen Bauten? Nicht ein Stein wird auf dem anderen bleiben, der nicht zerbrochen werde. (Markus 13:I,2)
Dazu bemerkt er:
Aber die Bauwerke müssen nicht erst zerfallen, es muss nicht erst Gras an ihrer Stelle wachsen. In all ihrer Pracht ist die Ginza [ein Gebiet im Zentrum Tokios] wie eine Steppe. Sie ist wie eine doppelbelichtete Photographie. Erst eine solche Doppelbelichtung lässt überhaupt die Aufnahme der Realität entstehen. Die wahre Wirklichkeit ist zwiefältig. In hundert Jahren wird keiner der Menschen, die jetzt auf der Ginza gehen, sei er jung oder alt, Mann oder Frau, noch am Leben sein. Heißt es doch, dass ein Nu zehntausend Jahre ist und zehntausend Jahre ein Nu sind. In einem solchen Gedankenblitz, im Licht eines solchen «geistigen Auges», ist, was in hundert Jahren aktuell sein wird, schon heute aktuell. In einer derartigen Doppelbelichtung kann man also die Lebenden, so wie sie sind - gesund und munter - als Tote sehen. «Zuckender Blitz - / an meinem Gesicht / Ähren von Steppengras!» Dies ist auch ein Gedicht über die Ginza.
Hier kommt Nishitani gerade auf Eliots "wüstes Land" zu sprechen:
Das Auge für diese doppelte Sicht kann man auch bei einigen modernen westlichen Dichtern finden. Bei T. S. Eliot heißt es:
Unwirkliche Stadt,
Unter dem braunen Nebel eines Wintermorgens
Strömte eine Menge über London Bridge, so viele,
Ich hätte nie gedacht, dass der Tod so viele abgetan hat.
Nishitani weiter:
Er zeigt in der letzten Zeile, einer Beschreibung der Totenprozession in Dantes Inferno, wie die Menschen über London Bridge strömen. Die geschäftige Stadt London, eine vor Augen liegende Wirklichkeit, erscheint dem Dichter als solche als «unwirklich», das heißt: als tot. […]
Eine solche Doppelbelichtung ist der wahren Sicht der Wirklichkeit in ihrer Realität gemäß. Die Wirklichkeit selbst erheischt sie.
In einem Fragment Heraklits heißt es:
Dasselbe ist aber lebendig und tot und wach und schlafend und jung und alt. Denn dieses ist umschlagend jenes und jenes wiederum ist umschlagend dieses.
Hier ist von Dschuang Dschous "Wandlung der Dinge" die Rede. Das griechische Wort für "Umschlagen" ist METAPTOSIS. META heißt "mit", PTOSIS heißt "Fall". METAPTOSIS wäre das "Mitfallen". "Mit" besagt hier, dass lebendig und tot und wach und schlafend und jung und alt keine Gegensatzpaare sind, sondern eine Wohngemeinschaft bilden, etwa im Sinne von Nishitanis "Doppelbelichtung": Wo das eine der "Fall" ist, ist das andere mitgefallen. Es ist ein "freischwebendes", ich verwende dieses erstaunliche Wort Freuds, es ist ein freischwebendes Übergehen von der einen Gestalt zur anderen; an keiner wird festgehalten, keine wird verneint.
Von hier aus kann das Gedicht Paul Celans SOVIEL GESTIRNE aus dem Band "Die Niemandsrose" gelesen werden und zugleich die anstehende Sache in einem anderen Licht erscheinen lassen:
[...]
ich weiß,
ich weiß und du weißt, wir wussten,
wir wussten nicht, wir
waren ja da und nicht dort,
und zuweilen, wenn
nur das Nichts zwischen uns stand, fanden
wir ganz zueinander.
Ich bin bei Nachklängen des "Schmetterlingstraums". Ihre "unscheinbare Zusammenfügung" (Heraklit) weist darauf hin, dass sie nach einem Wort Hölderlins Gestaltungen eines "gemeinsamen Geistes" sind, wie mir scheint. Soweit ich imstande war, in einer Entsprechung zu diesem Geist zu gelangen, hat er mich unter anderem auch als Therapeuten gezeichnet.
Eine Bemerkung noch, die für uns der Phänomenologie Verpflichteten von Belang sein könnte: Wenn es gilt, "zu den Sachen selbst" zu kehren, sie sich so zeigen zu lassen, so wie sie sich von selbst zeigen, wenn wir Menschen, die von den Phänomenen Angesprochenen, zu einer solchen Entsprechung aufgerufen sind, dann müssen wir nach Nishitani völlig "nackt" sein, dann muss nach Celan "nur das Nichts zwischen uns" stehen. In diesem Sinne sehe ich die so verstandene Phänomenologie auch als einen Weg, einen Hauptweg vielleicht, des "gemeinsamen Geistes".
Nun werde ich eine Art Engführung, eine geraffte Wiederholung des Gesagten versuchen, indem ich Ihnen einiges von dem mitteile, was mich in der Therapiestunde leitet. Die Richtung lässt sich in den Versen Celans zusammenfassen, die wir zuletzt hörten: "und zuweilen, wenn / nur das Nichts zwischen uns stand, fanden / wir ganz zueinander."
Der Weg dahin führte mich durch manche Windungen hindurch. Bei jeder Windung, so stelle ich rückblickend fest, bin ich um eine Hülle nackter geworden. So bemerkte ich einmal, dass ich mich in einer Beziehung zu meinem Analysanden nicht mehr verwickelt bin. Es ist mir einfach kein Thema. Es geschieht weder als Zwang noch als Verzicht. Der Mensch, der zu mir kommt, könnte mir wohl Freund oder Feind, Vater oder Mutter, Sohn oder Tochter, Schwester oder Bruder, Geliebte oder Geliebter, oder einfach gleichgültig sein, und gerade er/sie kann es nicht sein. Es bedeutet nicht unbedingt einen Konflikt zwischen einer solchen Regung und dem Gebot der therapeutischen Abstinenz. Es ist etwa so wie z.B. der Vater, an dem die Tochter erstmals den Mann erblickt, und gerade er kein Mann für sie sein kann; oder so wie die Toten, z.B. Medard Boss und andere, die unter uns verweilen und an dem, was wir hier treiben, auf ihre teilnahmslose Art teilnehmen. Philosophisch ausgedrückt: In der Psychotherapie werde ich zwar als Freund oder Feind, Vater oder Mutter usw. angesprochen, ich entspreche dem wohl – jedoch ohne Appetitus.
Moralische und sonstige Bewertungen sind mir fremd. Ebenso ist mir die Dimension "normal-pathologisch" oder "eigentlich-uneigentlich" kein Thema. Es geht mir nicht darum, über das Gesagte Urteile zu fällen. Wenn "Denken" Trennen und Verbinden, Einordnen, Interpretieren usw. bedeutet, dann denke ich nicht. Im therapeutischen Gespräch versuchen meine Augen, das Gehörte zu sehen. Dahin führe ich meinen Gesprächspartner – dass wir das jeweils Vorliegende sehen. In dem Grade, in dem wir das Gesagte und Gehörte sehen, finden wir uns. Erst dann sind wir bei der Sache; wir stehen auf dem Boden der Sache.
Ich verwende keine Technik und keine Methode. Ich spiele "Therapeut" nicht. So wie es z.B. in einer Auseinandersetzung mit unserem Lebenspartner oder mit unseren Kindern völlig abwegig ist, uns auf unser Expertentum zu berufen, ebenso fatal ist es, in der Psychotherapie der Weisheit letztes Wort uns vorzubehalten. Vielleicht ist der Therapeut ein solcher, gerade wenn er eben nicht "therapiert". Eine Kunst ist die Psychotherapie trotzdem.
Ich verstehe mich als einen Boten. Die Botschaft kommt von den Sachen selbst. Wenn es sich z.B. herausstellt, dass einer zu mir und zu anderen sich so verhält, wie wenn er immer noch als Kind in seinem Elternhaus wäre, so werde ich darauf hinweisen, dass er kein Kind mehr ist, dass er nicht wirklich merkt, an welchem Ort und in welcher Zeit er sich befindet, welchen er jeweils wirklich anspricht. Ich mache ihn darauf aufmerksam, dass diese Haltung ihn dazu führt, immer wieder gegen Wände anzurennen.
Ich bin dahin gekommen, das Kranksein, das hier von Belang ist, als Übertretung solcher Grenzen, als Pronomen der Hybris anzusehen. Entscheidende Anstöße dazu verdanke ich unter anderem den Seminaren und dem Parmenidesbuch von Hanspeter Padrutt.
Wir hörten von Heraklit: "Dasselbe ist aber lebendig und tot und wach und schlafend und jung und alt.". In der Schrift des Parmenides heißt es, die Menschen hätten dieses Selbe entzweit und sich auf zwei Gestalten festgesetzt und meinten, sie würden die eine nicht brauchen. Sie trennen z.B. Leben und Tod, Wachen und Schlaf, Jugend und Alter, aber auch Sicheres und Ungewisses, Lust- und Leidvolles, Rechtes und Fehlerhaftes, aber auch Ich und Nicht-Ich, Heimisches und Fremdes. Sie nehmen Partei für das eine und gegen das andere. Sie merken nicht, dass sie gerade so in ein heilloses Hin und Her hineinrutschen und dass gerade darin ihr Leiden samt ihren Vorstellungen von seiner Heilung besteht. Dementsprechend wäre die Psychotherapie angehalten, einen zur Anerkennung und zur Akzeptanz von allem Gegebenem zu ermuntern, dass alles ist, wie es ist. Und da kann es vorkommen, dass die Gestörtheit einer unheimlich anmutenden Ruhe Platz macht.
Die Hinweise auf die mannigfaltigen Übertretungen der Grenzen werden nicht von oben herab verkündet. Derjenige, der zu mir kommt, ist irgendwie krank. Ich werde von seiner Krankheit angesteckt. Damit meine ich natürlich keine Einfühlung und kein Mitleid und dergleichen. Ich brauche nicht, mich an seine Stelle zu versetzen, denn immer schon teilen wir uns ja dieselbe Stelle. Oft kommt es sogar vor, dass ich sein Leiden vorausleide. Nun in dem Grade, in dem ich von dieser Krankheit genese, kann er von meiner Genesung angesteckt werden – wobei selbst diese Genesung sich aus von ihm kommenden Zeichen gestaltet.
Wie kommt es zu diesem gegenseitigen Anstecken? Es kommt von selbst, wenn wir "nackt, barfuss" werden, wenn "nur das Nichts zwischen uns steht". Dann sind die Worte des einen dem Munde des anderen enteignet und wiederum seinem Mund übereignet. Dann, nach einem Ausdruck Heideggers, sprechen nicht wir, sondern - die Sprache. Dann sind wir "ein Gespräch". Somit wäre die Psychotherapie Enthüllungskunst. Was sich da enthüllt, sind die Sachen selbst.
Das alles muss aber durch eine Prüfung hindurch, die zuweilen, Hölderlin, "fast das Knie beugt". Das Freischwebende dieses Spiels wird leicht gestört, so wie die Glocke Hölderlins, die "Von wegen geringer Dinge / Verstimmt wie vom Schnee war". Man wird in vielfältiger Weise Unrecht tun und Unrecht erleiden, man wird in den Sumpf von Verirrungen und Verblendungen hineingeraten. Es gibt keinen anderen Weg. Nicht immer wird man aufstehen und sich aufrichten. Im glücklichen Fall ergibt sich ein unerwarteter und unvorstellbarer Ausweg.
Byung-Chul Han, ein koreanischer Philosophiedozent in Basel, nennt den Ort, wohin solche Auswege gelangen lassen, "archaische Freundlichkeit". An einer Stelle leitet er ihre Erörterung mit einem Haiku von Issa ein:
Der Diener, ein bisschen dumm:
Er schippt auch den Schnee
des Nachbarn.
Die Dummheit des Dieners besteht wohl darin, dass er sich nicht von einem Ich her begreift und deswegen nicht imstande ist, sich nur um den Schnee im Hof seines Herrn zu kümmern. Er ist ein Hofnarr, wie derjenige vom "Schmetterlingstraum" in Bosses Büchern. Auch er "wohnt dichterisch". Zuweilen auch die an der Psychotherapie Beteiligten. Ein Zug dieses Wohnens, das uns hier angeht, findet sich bei Paul Celan:
Wer Kunst vor Augen und im Sinn hat, der ist […] selbstvergessen. Kunst schafft Ich-Ferne. Kunst fordert hier in einer bestimmten Richtung eine bestimmte Distanz, einen bestimmten Weg.
[…]
Aber das Gedicht spricht ja! Es bleibt seiner Daten eingedenk, aber - es spricht. Gewiss, es spricht immer nur in seiner eigenen, allereigensten Sache.
Aber ich denke - und dieser Gedanke kann Sie jetzt kaum überraschen -, ich denke, dass es von jeher zu den Hoffnungen des Gedichts gehört, gerade auf diese Weise auch in fremder - nein, dieses Wort kann ich jetzt nicht mehr gebrauchen -, gerade auf diese Weise in eines Anderen Sache zu sprechen – wer weiß, vielleicht in eines ganz Anderen Sache.
Diese "Freundlichkeit" scheint mir ein Name für den Ort, für das Gasthaus zu sein, zu dem das psychotherapeutische Gespräch unterwegs ist. Zuletzt zitiere ich Han noch einmal:
Das Zen-Wort "Weder Wirt noch Gast. Wirt und Gast offenbar." drückt auch dieselbe Bewegung aus. Die ursprüngliche Gastfreundlichkeit entspringt jenem Ort, wo es keinen Unterschied, keine starre Differenz zwischen Wirt und Gast gibt, wo der Wirt bei sich nicht zu Hause, sondern zu Gast ist. Sie ist ganz anders verfasst als jene <Generosität>, in der der Gastgeber sich gefiele. "Weder Wirt noch Gast" hebt gerade dieses Sich auf. Das Gasthaus der archaischen Freundlichkeit gehört gleichsam niemand.