αἰὼν δὲ κυλινδομέναις ἁμέραις ἄλλ᾽ ἄλλοτ᾽ ἐξάλλαξεν
die Lebenszeit aber, an den auf und ab rollenden Tagen, ändert anderntags Anderes
Pindar, 3. Isthmische Ode, 30
Oft, wenn wir in der Psychotherapie den Satz hören "Ich bin müde", unseren Ausbildungsrichtlinien folgend, stellen wir gleich eine Verbindung her, die ungefähr sagt "Müdigkeit = Depression".
Heute werden wir die Müdigkeit nicht umgehen, sondern wir werden versuchen, sie zu beachten. Soweit ich weiss, hilft uns die psychologische und psychiatrische Literatur hier nicht, denn sie umgeht die Müdigkeit, indem sie sie in ein diagnostisches oder sonst ein Model einordnet. Ich werde Ihnen einen Schriftsteller vorstellen, Peter Handke, Ausschnitte aus seinem Büchlein "Versuch über die Müdigkeit".
Handke schreibt: Ich will erzählen von den unterschiedlichen Weltbildern der verschiedenen Müdigkeiten. Hier sei beiläufig gesagt, dass die Müdigkeit nicht als ein inneres, psychisches Gefühl aufgefasst ist, sondern als Name für ein Weltbild. Und, damit wir vom Tagungsthema nicht abweichen: Bei jedem Müdigkeitsanfall wird Handke zufolge die Welt anders. Diese andere Welt meint jedoch eine Änderung, an der nunmehr das Selbst miteinbezogen ist. Das Andere befindet sich nicht ihm gegenüber; es ist vielmehr ein Ort, nach welchem das Selbst umgezogen hat und zum Ortsinsassen geworden ist.
Da wir gerade von Bildern sprechen, eine Geschichte aus China: Ein alter Maler, gab den Freunden sein neuestes Bild zu sehen. Ein Park war darauf dargestellt, ein schmaler Weg am Wasser und durch einen Baumschlag hin, der lief vor einer kleinen Tür aus, die hinten in ein Häuschen Einlaß bot. Wie sich die Freunde aber nach dem Maler umsahen, war der fort und in dem Bild. Da wandelte er auf dem schmalen Weg zur Tür, stand vor ihr still, kehrte sich um, lächelte und verschwand in ihrem Spalt.
Lächelnd oder die Zähne zusammenbeisend, wissend oder nicht, zulassend oder nicht, treten wir immer in die Bilder ein, die uns begegnen.
Und nun zu Handke. Zuerst spricht er von den "Müdigkeiten zum Fürchten". Drei von diesen werden wir hören: Eine Müdigkeit aus der Kindheit, die "Alleinmüdigkeit" und die "Paares-müdigkeit". Dann spricht er von den "guten" und von den "letzten" Müdigkeiten. Bei einer von diesen werden wir länger weilen. Dazwischen werden eigene Kurzkommentare eingeschoben.
In der Kindheit
Weihnachten. Das Kind ist mit seinen Angehörigen in der Kirche. Müdigkeit, die einen krank macht.
Wie man Krankheiten "häßlich" oder "bösartig" nennt, so war diese Müdigkeit ein häßliches und bösartiges Leiden; welches darin bestand, daß es entstellte, sowohl die Umgebung - die Kirchenbesucher zu einpferchenden Filz- und Lodenpuppen, den Altar samt blinkendem Aufputz in der undeutlichen Ferne zu einer Stätte der Torturen ... - als auch das Müdkranke selber, zu einer Groteskfigur mit Elefantenkopf, auch so schwer, so trockenäugig, so wulsthäutig ... die ganz andere Kälteempfindung des von der Müdigkeit als einer Eisernen Jungfrau Umschlossenen ...
Die Kirchenbesucher, der Altar verändern sich - sie werden zu Anderem. Ineins damit wird das Kind zu einem Anderen. Die zwei, Kirche und Kind, Umgebung und Betroffener, gehen immer zusammen, sind unsichtbar aneinander gefügt. Der Dichter Giorgos Seferis schreibt in den "Argonauten": Ihre Seelen wurden eins mit den Riemen und Klaschen / mit dem ernsten Antlitz des Bugs / mit der Furche hinter dem Ruder / mit dem Wasser, das ihr Abbild in Stücke brach. Und Gerold Späth in "Commedia": Die berufene Hand holt das Ding aus sich selbst hervor und macht es, derweil paßt das dergestalt entstehende Ding der Hand sich an und paßt auch die Hand sich an, und weiter verändern die Dinge zuweilen auch jene Hände, durch die sie später gehen.
Nicht derjenige sieht es, der sich im Burg einer Identität eingeschlossen hat und auf die Stabilität und Beständigkeit seines Selbst inmitten der Änderung beharrt.
Weiter in unserem Text: Schuldgefühl, da der Knabe seinen Angehörigen das Fest verdorben hat. Die Müdigkeit wird zum akuten Schmerz.
Wieder einmal versagst du in der Gemeinschaft: zusätzlich ein Stahlband um die Schläfen, zusätzlich ein Blutentzug vom Herzen ...
Die Eiserne Jungfrau ist ein Gerät, dem der Mythos anhaftet, für Folterung und Hinrichtung von Menschen benutzt worden zu sein. Es handelt sich um einen hölzernen oder metallenen Hohlkörper, meist in Frauengestalt, der mit nach innen stehenden Nägeln oder Dornen beschlagen war. Wenn einer darin verschleppt und die Tür zugemacht wurde, bohrten sie sich in sein Fleisch.
Eiserne Jungfrau
Der Schoss der Mutter Christi ist nicht mehr warm. Dem Schuldigen und Verdammten ist er kalt - die Kälte der brutalen und gnadenlosen Bestraferin. Beim Kind kehrt die Eiserne Jungfrau wieder als … akuter Schmerz … Stahlband um die Schläfen … Blutentzug vom Herzen ...
Im Studentenzimmer
Das Schlafen als Ausweg kam nicht in Frage: Zunächst einmal wirkte sich jene Art der Müdigkeit aus in einer Lähmung, aus der heraus in der Regel nicht einmal ein Krümmen des kleinen Fingers, ja kaum ein Wimpernzucken möglich war; selbst das Atmen schien ins Stocken geraten, so daß man sich erstarrt bis ins Innerste fühlte zu einer Müdigkeitssäule … wie sie (die Müdigkeit) am Ende dem Schlaflosen sogar das Weltbild bestimmt, so daß er das Dasein, beim besten Willen, nur noch als Unglück, jedes Handeln als sinnlos, jede Liebe als lächerlich sehen kann. Wie der Schlaflose daliegt bis hinein ins Fahllicht des Morgengrauens, das ihm die Verdammnis bedeutet, über ihn allein da in seiner Schlaflosigkeitshölle hinaus des ganzen fehlgeratenen, auf den falschen Planeten verschlagenen Menschenwesens . . . Auch ich war in der Welt der Schlaflosen ... Die ersten Vögel noch in der Finsternis, im Vorfrühling: wie österlich sonst oft - wie hohnvoll aber nun hereinschrillend zum Zellenbett, "wie-der-ei-ne-Nacht-ohne-Schlaf" ... Das Fauchen und Kreischen zweier übereinander herfallender Kater in der Reglosigkeit als das Laut- und Deutlichwerden des Bestialischen im Zentrum unserer Welt. Die angeblichen Lustseufzer oder -schreie einer Frau, in ebenso stehender Luft unvermittelt einsetzend, wie wenn, genau über dem Schädel des Schlaflosen, auf Knopfdruck eine in Serie erzeugte Maschine anspränge, als das plötzliche Fallenlassen unser aller Zuneigungsmasken und das Hervorkehren panischer Selbstsucht (da liebt kein Paar, sondern wieder einmal ein jeder lauthals allein sich) ...
Zelle, Regungslosigkeit der Lähmung, Abbrechen der Kommunikation gehen zusammen, und zwar je radikaler dies erfolgt, desto mehr ziehen sich die Zellenwände zusammen, bis ihre Grenzen am Ende mit denen der Haut, ja mit denen des Schädels des Schlaflosen zusammenfallen.
Hier ist die Einsamkeit keine Frage des Individuums, sondern eine Weltfrage: Die Regungslosigkeit der Welt heisst, dass, was geschieht, nicht kommuniziert, nicht mitgeteilt wird, sondern ein Monolog bleibt. Alles ist einsam, verschlossen in der Zelle des Selbst und seiner einsamen Tätigkeit - fensterlose Monaden (ein Ausdruck von Leibniz): der Schlaflose als Müdigkeitssäule, die Vögel, die Katzen, der Orgasmus, die Selbstsucht .
Da lagen, standen oder saßen wir, gerade noch selbstverständlich zu zweit, und von einem Moment zum andern unwiderruflich getrennt. Ein solcher Moment war immer einer des Erschreckens, manchmal sogar des Entsetzens, wie bei einem Sturz: "Halt! Nein! Nicht!" Aber nichts half; die beiden fielen schon, unaufhaltsam, weg voneinander, ein jeder in seine höchst eigene Müdigkeit, nicht unsere, sondern meine hier und deine dort. Mag sein, daß die Müdigkeit in diesem Fall nur ein anderer Name für Gefühllosigkeit oder Fremdheit war - doch für den Druck, der auf dem Umkreis lastete, war sie das der Sache gemäße Wort. Auch wenn der Ort des Geschehens zum Beispiel ein großes klimatisiertes Kino war: Es wurde heiß und eng. Die Sesselreihen krümmten sich. Die Farben auf der Leinwand wurden schwefelig und bleichten dann aus. Wenn wir einander zufällig berührten, zuckten eines jeden Hände weg von einem widrigen Stromschlag ... Ja, solch entzweiende Müdigkeiten schlugen einen jeweils mit Blickunfahigkeit und Stummheit; nicht und nicht hätte ich zu ihr sagen können: "Ich bin deiner müde", nicht einmal ein einfaches "Müde!" ... Solche Müdigkeiten brannten uns das Sprechenkönnen, die Seele, aus.
Dieser Paares-Müdigkeit ist der Charakter eines freien Falls eigen. Vielleicht geht es um das Undenkbare, dass mein sogenannter nächste Mensch auf einmal zum Fremden wird, so wie der Vorbeigehende auf der Strasse, oder der Mitfahrer in der Untergrundbahn - aber in unserem gemeinsamen, im eigenen Haus. Das Haus ist kein Heim mehr, sondern ein öffentlicher Platz. Vielleicht ist der gemeinte Fall derjenige eines Zusammensturzes des Hauses, des Heimes, des Lebenspartners. Und es zeigt sich als eine Unpässlichkeit, als Krankheit, als Verzerrung, welche die Umgebung deformiert, und selbst eine zufällige Berührung der Hände unerträglich macht. Und all das bleibt in Sprachlosigkeit verhüllt.
Die Beschreibung fährt fort:
(die im Innern Entzweiten wurden selber zum Fürchten … der eine jeweils vom andern). Jene Art Müdigkeit, sprachlos, wie sie bleiben mußte, nötigte zur Gewalt. Diese äußerte sich vielleicht nur im Blick, der das andre entstellte, nicht bloß als einzelne Person, sondern auch als das andere Geschlecht. Häßliches und lächerliches Weiber- oder Männer-Geschlecht, mit diesem eingefleischten Frauengang, mit diesen unverbesserlichen Männerposen. Oder die Gewalt ereignete sich versteckt, an etwas Dritten, im wie beiläufigen Erschlagen einer Fliege, im wie zerstreuten Zerrupfen einer Blume. Es geschah auch, daß man sich selber wehtat, indem die eine sich die Fingerkuppen zerbiß, indem der andre in eine Flamme griff ...
Im Gegensatz zur Schuld der Kindheit, zur Lähmung der Alleinmüdigkeit, kommt es hier zu einer Art Klaustropfobie: Das Zusammenleben, das Zusammenwohnen mit dem Partner wird zu einem beengenden Raum, der einen nicht atmen lässt. Die verschiedenen begleitenden Arten von Gewalt könnten als Versuche eines Ausbrechens aus dem Eingeschlossensein angesehen werden - Versuche zur falschen Zeit und in falscher Weise.
Es wäre vielleicht interessant, zu prüfen, inwiefern Klaustrophobie im Allgemeinen zur Situation einer Entfremdung und Depersonalization gehört, so wie diese in der "Paares-Müdigkeit" stattfindet.
Der Autor befindet sich in Spanien und er erinnert sich an einen Tag in Central Park, in Manhattan, nachdem er aufeinanderfolgende Flüge samt Verspätungen und Wartezeiten hinter sich hat: nachts Ancorage, Alaska - frühmorgens Edmonton, Canada - morgens Chicago - nachmittags New York.
Hier werde ich nicht kommentieren. Wir wollen hören, was kommt. Das Klima hätte auch dasjenige des Ortes einer therapeutischen Begegnung sein können.
Endlich im Hotel, wollte ich mich sofort schlafenlegen, wie krank - von der Welt abgeschnitten - nach der Nacht ohne Schlaf, Luft und Bewegung. Aber dann sah ich unten die Straßen am Central Park weit von der Frühherbstsonne, in der, wie mir vorkam, festtäglich die Leute sich ergingen, und im Gefühl, im Zimmer jetzt etwas zu versäumen, zog es mich hinaus zu ihnen. Ich setzte mich auf eine Cafeterrasse in die Sonne, nah am Getöse und an den Benzinschwaden, noch immer benommen, ja im Innern in ein beängstigendes Wanken gebracht von meiner Übernächtigkeit. Doch dann, ich weiß nicht mehr wie, allmählich?, oder wieder Ruck um Ruck? die Verwandlung … als nun in mir die Bedrängnis der Müdigkeit Platz machte. Diese Müdigkeit hatte etwas von einem Gesundwerden. Sagte man nicht: »Mit der Müdigkeit kämpfen«? - Dieser Zweikampf war zuende. Die Müdigkeit war jetzt mein Freund. Ich war wieder da, in der Welt, und sogar - nicht etwa, weil es Manhattan war - in ihrer Mitte. Aber es kam dann noch einiges dazu, vieles, und eins eine größere Lieblichkeit als das andere. Ich tat, weit bis in den Abend hinein, nichts mehr als sitzen und schauen; es war, als brauchte ich dabei auch nicht einmal atemzuholen. Keine auffalligen wichtigtuerischen Atemübungen oder Yoga-Haltungen: Du sitzt und atmest im Licht der Müdigkeit jetzt beiläufig richtig. Es gingen ständig viele, auf einmal unerhört schöne Frauen vorbei - eine Schönheit, die mir zwischendurch die Augen naß machte -, und sie alle nahmen mich im Vorbeigehen auf: Ich kam in Frage. (Eigenartig, daß vor allem die schönen Frauen diesen Blick der Müdigkeit beachteten, so wie auch noch manch alte Männer und die Kinder.) Aber keine Idee, daß wir, eine von ihnen und ich, darüber hinaus miteinander etwas anfingen; ich wollte nichts von ihnen, es genügte mir, ihnen endlich einmal so zuschauen zu können. Und es war auch wirklich der Blick eines guten Zuschauers, bei einem Spiel, das erst glücken kann, wenn wenigstens ein solcher Zuschauer dabeisitzt. Das Schauen dieses Müden war eine Tätigkeit, es tat etwas, es griff ein: die Akteure des Spiels wurden besser durch es, noch schöner - zum Beispiel, indem sie sich vor solchen Augen mehr Zeit ließen. Dieser langsame Lidschlag ließ sie gelten - brachte sie zu ihrer Geltung. Dem dergestalt Schauenden wurde von der Müdigkeit seinerseits das Ich-Selbst, das ewig Unruhe stiftende, wie durch ein Wunder von ihm weggenommen: alle sonstigen Verzerrungen, Angewohnheiten, Ticks und Sorgenfalten von ihm abgefallen, nichts mehr als die gelösten Augen ... Und dann: das selbstlose Schauen wurde tätig weit über die schönen Passantinnen hinaus, bezog ein in sein Zentrum der Welt alles, was lebte und sich regte. Die Müdigkeit gliederte - ein Gliedern, das nicht zerstückelte, sondern kenntlich machte - das übliche Gewirr durch sie rhythmisiert zur Wohltat der Form - Form, soweit das Auge reichte - großer Horizont der Müdigkeit.
Auch die Gewaltszenen, die Zusammenstöße, die Schreie als wohltätige Formen im großen Horizont?
Ich erzähle hier von der Müdigkeit im Frieden, in der Zwischenzeit. Und in jenen Stunden war Frieden, auch am Central Park. Und das Erstaunliche ist, daß meine Müdigkeit dort an dem zeitweisen Frieden mitzuwirken schien, indem ihr Blick jeweils schon die Ansätze zu Gesten der Gewalt, des Streits oder auch nur einer unfreundlichen Handlung beschwichtigte? milderte? - entwaffnete ....
Ich sah, spürbar für den andern, mit ihm zugleich seine Sache mit: den Baum, unter dem er gerade ging, das Buch, das er in der Hand hielt, das Licht, in dem er stand, auch wenn es das künstliche eines Ladens war; den alten Stenz mit seinem hellen Anzug und seiner Nelke in der Hand; den Reisenden mit seiner Gepäckslast; den Riesen mitsamt seinem unsichtbaren Kind auf den Schultern; mich selbst mitsamt dem aus dem Parkwald wirbelnden Laub; jeden von uns mit dem Himmel zu seinen Häupten.
Und wenn es solch eine Sache nicht gab?
Dann schuf meine Müdigkeit sie, und der andere, der gerade noch im Leeren geirrt war, empfand um sich von einem Augenblick zum nächsten seiner Sache Aura. - Und weiter: Jene Müdigkeit machte, daß die tausend unzusammenhängenden Abläufe kreuz und quer vor mir sich ordneten über die Form hinaus zu einer Folge; jeder ging in mich ein als der genau da hinpassende Teil einer - wunderbar feingliedrigen, leichtgefügten - Erzählung; und zwar erzählten die Vorgänge sich selbst, ohne Vermittlung über die Wörter. Dank meiner Müdigkeit wurde die Welt ihre Namen los und groß.
… erzählt die Welt, unter Schweigen, vollkommen wortlos, sich selber, mir wie dem grauhaarigen Zuschauernachbarn da und dem vorbeiwippenden Prachtweib dort; alles friedliche Geschehen war zugleich schon Erzählung und diese, anders als die Kampfhandlungen und Kriege, die erst einen Sänger oder Chronisten brauchten, gliederte sich in meinen müden Augen von selber zum Epos, noch dazu, wie mir da einleuchtete, zum idealen: Die Bilder der flüchtigen Welt rasteten ein, eins und das andere, und nahmen Gestalt an.
Ideal?
Ja, ideal: denn es ging darin alles mit rechten Dingen zu, und es passierten Dinge noch und noch, und von nichts war zu viel da, von nichts zu wenig - alles, wie es sich für ein Epos gehört; sich selbst erzählende Welt als sich selbst erzählende Menschengeschichte, so, wie sie sein könnte. Utopisch? »La utopia no existe«, las ich hier auf einem Plakat, was übersetzt heißt: Den Nicht-Ort gibt es nicht. Bedenk das einmal, und die Weltgeschichte fangt sich zu drehen an. Meine utopische Müdigkeit von damals ergab jedenfalls einen Ort, zumindest den einen. Viel mehr Ortssinn fühlte ich da als je sonst. Es war, als hätte ich, obwohl kaum erst da, den Ortsgeruch angenommen in meiner Müdigkeit, sei da alteingesessen. - Und an diesen Ort reihten sich in den ähnlichen Müdigkeiten der folgenden Jahre noch mehr. Auffallig, daß dabei oft Fremde mich Fremden grüßten, weil ich ihnen bekannt vorkam, oder einfach nur so...
In der Stunde der letzten Müdigkeit … Diese Zeit ist zugleich der Raum, dieser Zeitraum ist zugleich die Geschichte. Was ist, wird zugleich. Das andere wird zugleich ich. Die zwei Kinder da unter meinen müden Augen, das bin jetzt ich. Und wie die ältere Schwester den kleinen Bruder durch das Lokal schleppt, das ergibt zugleich einen Sinn, und hat einen Wert, und nichts ist wertvoller als das andre - der Regen, der dem Müden auf den Puls fallt, ist gleich wert wie der Anblick der Gehenden jenseits des Flusses -, und es ist so gut wie schön, und es gehört sich so, und so soll es auch weiter sein, und es ist, vor allem, wahr. Wie die Schwester, ich, den Bruder, mich, um die Hüften packt, das ist wahr. Und das Relative zeigt sich im müden Blick absolut, und der Teil als das Ganze...
Ich habe für das »Alles in einem« ein Bild: Jene, in der Regel niederländischen, Blumen-Stilleben des siebzehnten Jahrhunderts, wo an den Blüten lebensecht, hier ein Käfer, hier eine Schnecke, dort eine Biene, dort ein Schmetterling sitzt, und obwohl vielleicht keins eine Ahnung von der Gegenwart des andern hat, im Augenblick, in meinem Augenblick, alle beieinander.
Meine höchsten Müdigkeiten erschienen mir immer zugleich als die unsrigen … Die Müdigkeit entwirft am andern, auch wenn ich nichts von ihm weiß, seine Geschichte … Dem ideal Müden »wird Phantasie«, nur eine andere als etwa den Schlafenden in der Bibel oder der Odyssee, die Gesichte haben: ohne Gesichte: ihm zeigend, was ist …
Die Inspiration der Müdigkeit sagt weniger, was zu tun ist, als was gelassen werden kann. Müdigkeit: der Engel, der des einen träumenden Königs Finger berührt, während die anderen Könige traumlos weiterschlafen. Gesunde Müdigkeit - sie allein schon die Erholung. Ein gewisser Müder als ein anderer Orpheus, um den sich die wildesten Tiere versammeln und endlich mitmüde sein können. Die Müdigkeit gibt den verstreuten Einzelnen den Takt. Philip Marlowe - noch ein Privatdetektiv - wurde im Lösen seiner Fälle, je mehr schlaflose Nächte sich reihten, immer besser und scharfsinniger. Der müde Odysseus gewann die Liebe der Nausikaa. Die Müdigkeit verjüngt, so wie du nie jung warst. Die Müdigkeit als das Mehr des weniger Ich. Alles wird in ihrer, der Müdigkeit Ruhe erstaunlich - wie erstaunlich doch der Papierpacken, den der erstaunlich gemächliche Mann dort unter dem Arm über die erstaunlich stille Calle Cervantes trägt!
Gut und schön ... Aber wie sind dergleichen Müdigkeiten nun zu schaffen? Sich künstlich wachhalten? Kontinentalflüge unternehmen? Gewaltmärsche? Eine Herkulesarbeit? Sich probeweise aufs Sterben einlassen?
Ich weiß kein Rezept, auch mir selber nicht. Ich weiß bloß: Solche Müdigkeiten sind nicht zu planen; können nicht im voraus das Ziel sein. Aber ich weiß auch, daß sie nie grundlos eintreffen, sondern immer nach einer Beschwernis, im Übergang, in einer Überwindung.