Meine Damen und Herren,
Im April dieses Jahres erhielt ich einen Artikel über den Traum. Ich versuchte, einen Antwortbrief zustandezubringen. Es wollte mir einfach nicht gelingen! Aus den Entwürfen blieb immerhin ein Satz bestehen. Ich lese ihn Ihnen vor: Ich weiss immer weniger, was über den Traum zu sagen wäre und ich denke mit Entsetzen, dass ich in Wien einen Vortrag mit dem Titel "Träume" halten muss. Eines Tages nun, samt Entsetzen und Nicht-wissen, machte ich mich tastend-schreibend auf den Weg der Träume.
Als Wegzeichen stand mir eine Stelle aus der "Odyssee". Dort wird die Fahrt der Seelen der von Odysseus getöteten Freier zum Hades geschildert. Die hier relevanten Verse lauten übersetzt: ...sie gingen vorbei an den Toren der Sonne, an der Gemeinde Träume, und kamen dann schnell an ihr Ziel, zur Asphodeloswiese. Die "Gemeinde Träume"... Sie liegt bei den "Toren der Sonne" und Hades - der "Asphodeloswiese".
Die Stelle war mir ursprünglich aus Versen eines neugriechischen Dichters bekannt: Die Toten kennen nur die Sprache der Blumen [der Asphodelen]; / deswegen schweigen sie / sie reisen und schweigen, sie dulden und schweigen / [und jetzt folgen die homerischen Worte, die zweimal wiederholt werden:] PARA DĒMON ONEIRŌN, PARA DĒMON ONEIRŌN [an der Gemeinde Träume vorbei, an der Gemeinde Träume vorbei]. Ich habe die Verse erstmals vor etwa vierzig Jahren gelesen. Keine Rede von den Träumen hat mich je so bewegt wie diese. Meine "Bewegung" ist jedoch bis heute stumm geblieben. Was ich Ihnen zu sagen habe, kommt aus einem Versuch, sie zur Sprache zu bringen.
Zu Beginn erzähle ich Ihnen einen kurzen Traum. Er stammt aus der Zeit meines Aufenthaltes im deutschsprachigen Raum, die mir anlässlich dieses Vortrages erneut präsent wurde: Ich bin mit Medard Boss [meinem damaligen Lehrer] an einem unbekannten Ort im Freien. Er schenkt mir einen Ring. An dem Abend, wo ich diese Zeilen zum ersten Mal aufs Papier brachte, hatte ich auch einen Brief an meinen Freund und Kollegen Hansjörg Reck geschrieben.
Eine Nacht war es, als ich den Boss-Traum hatte. Eine Nacht war es, als ich den Reck-Brief schrieb. Sind hier Nacht und Nacht gleich? Habe ich Ihnen gerade zwei nächtliche Ereignisse - Boss-Traum und Reck-Brief - erzählt?
Die Nacht des Reck-Briefes war die Nacht vom 15ten Mai. Ich war in meiner Praxis in Athen; es war Vollmond; ich hab' an meine Frau im 500 Kilometer entfernten Thessaloniki gedacht; ich sass an meinem Arbeitstisch bei einem Glas Schnaps; in den Nachrichten war das Neueste von der Pneumonie in China zu hören usw. Diese Nacht ist vom Reck-Brief nicht wegzudenken. Sie ist auch nicht von den sonst erwähnten Orten und Menschen wegzudenken, denn mit ihnen versammelte sich meine Lebenszeit zur Gegenwart jener Nacht.
Wie steht es nun mit der Nacht des Boss-Traumes? Sie, als die Nacht des Boss-Traumes, lässt sich nicht so wie die Nacht des Reck-Briefes beschreiben - der Boss-Traum kam mir ja erst beim Erwachen in den Sinn. Es hat keinen Zeitpunkt gegeben, wo ich zum Boss-Traum sagte, oder hätte sagen können: "Es träumt mir heute Nacht." Hat das Verbum "Träumen" eine Gegenwartsform?, fragt Wittgenstein. Aber was nie gegenwärtig war, kann auch nie vergangen sein: Mein Traum ist nicht vergangen, so wie der Reck-Brief vergangen ist. Sofern das Verbum "Träumen" keine Gegenwartsform hat, hat es auch keine Vergangenheitsform: Der Satz "Ich habe geträumt ..." kann nicht so gesagt werden wie der Satz "Ich habe einen Brief ... geschrieben".
Man könnte entgegnen, dass ich z.B. in einem Schlaflabor wohl wissen kann, wann einer träumt; ich kann ihn wecken; er kann es bestätigen und seinen Traum erzählen. Das Verbum "Träumen" hätte also doch eine Gegenwartsform! Dieser Einwand gibt mir die Gelegenheit, auf einen Unterschied hinzuweisen: Ein anderes ist es, zu wissen und ein anderes, zu sehen. Der Unterschied zwichen Sehen und Wissen ist in der Psychoherapie von äusserster Wichtigkeit. Er ist der Prüfstein, an dem entschieden wird, ob die Deutung, entsprechend ihrer Herkunft vom griechishen Wort DEIKNUMI ("zeigen"), ein Sehenlassen bedeutet, das einen ermuntert, die Augen aufumachen, oder ein Erklären, das zu nichtssagenden Verbindungen und Konstruktionen führt. Ich kann die Nacht des Boss-Traumes als die Nacht eines Traumgeschehens wohl erschliessen, aber nie sehen.
Die Nacht, die im Satz "Es träumte mir vergangene Nacht ..." angesprochen wird, ist weder zur Gegenwart noch zur Vergangenheit meiner Lebenszeit je geworden. Nie hat sie mich in sich aufgenommen. Nie bin ich in ihr heimisch geworden. Ihr Unheimisches geht mich aber doch an - sie war ja die Nacht jenes Traumes. Diese Nacht ist un-heimlich.
Die gemeinte Unheimlichkeit kommt noch reiner zu Gesicht dort, wo es um die Nacht des traumlosen Schlafes geht. Der Unterschied des Satzes "Ich habe einen Brief geschrieben" vom Satz "Ich habe geschlafen" ist noch augenfälliger. Hier sticht das Fehlen der Gegenwarts- und der Vergangenheitsform des Verbums "Schlafen" in seiner geläufigen Verwendung schärfer ins Auge. Darauf kann ich mich aber heute nicht weiter einlassen.
Das Fremde der Träume und des Schlafes, das von den Behausungen der Menschen fernab Liegende, ihr Un-menschliches trifft das, was die Alten veranlasste, Träume und Schlaf als zum Göttlichen und zum Tode - zur "Asphodeloswiese" - bezogen zu sehen. Es verbietet uns, den Traum sowohl im neuzeitlichen psychologischen Sinn vorzustellen, nämlich als etwas in einem phantastischen "Inneren" Ablaufendendes, als auch ins Anthropologische hineinzuzwängen, nämlich als vom Schlaf- und Wachzustand des Menschen Bestimmtes. Das Unheimliche ihrer Nächte lässt die Träume in einem anderen Licht erscheinen. Es zwingt die stutzenden Augen, sich daran zu gewöhnen.
Ich kann mir noch zwei Gruppen von Phänomenen denken, die diese seltsame Zeit-, besser: Weltlosigkeit - diese Unheimlichkeit - aufweisen.
Zum Einen sind es die alten Märchen. Oft beginnen sie mit dem Satz: Dar wöör maal eens... [Es war einmal...]. Dieses "einmal" ist von dem einen Mal, wo z.B. ich im Sommer des Jahres 1965 Wien besucht habe, radikal verschieden. Es verweist auf ein Uraltes, das genauso ausserhalb jeglichen Altertums und jeglicher Datierbarkei liegt wie die anscheinend greifbare "vergangene Nacht", in der ich dies und jenes träumte.
Zum Anderen denke ich an die vergangenen Dinge. Mit dem Wort "vergangen" meine ich jetzt gerade nicht z.B. eine kindliche Furcht, die im Erwachsenenalter immer wieder lebendig wird, oder einen Toten, der Einem über Jahre hinweg präsent bleibt, oder das, was Einem angetan wurde und ihn nicht in Ruhe lässt und nach Rache verlangt. Diese Dinge sind nur zum Schein vergangen. Das wortwörtlich Ver-gangene dagegen ist in die Fremde einer Ferne und Nähe gerückt, wo sein Datum nunmehr völlig irrelevant ist. So kann es mit all den gerade angeführten Beispielen geschehen. Der Weg dieser Verwandlung wird unter anderem in der therapeutischen Begegnung ausdrücklich eingeschlagen: Das Vergangene ist unterwegs zu seinem Vergangensein. Am Ende dieses Weges nimmt das jetzt wortwörtlich Vergangene eben Traum- oder Märchengestalt an. Man könnte dieses Ende "Gedächtnis" nennen.
Als ich Ihnen den Boss-Traum erzählte, hab' ich eigens erwähnt, dass es ein Traum war. Hätte ich das Wort "Traum" ausgelassen und gesagt, Boss habe mir einen Ring geschenkt, so wären Sie mit Sicherheit getäuscht. Wenn ich Ihnen aber erzählt hätte: "Am 15ten Mai hab' ich im Wachen einen Brief an Reck geschrieben", so wäre der Hinweis auf meinen Wachzustand absurd.
Wie wird das Wort "Traum" in der Erzählung des Boss-Traumes verwendet? Es gehört zwar nicht zur Sache, wo Boss mir einen Ring schenkt, aber es ist für meine Erzählung unerlässlich. Warum? Weil an der Erzählung der Boss-Ring-Sache Sie nirgends erkennen können, dass es ein Traum war. Wenn ich sage: "Ronaldo hat ein herrliches Tor geschossen!", brauche ich nicht eigens zu erwähnen, dass ich vom Fussball spreche, weil Ronaldo allgemein als ein Fussballspieler bekannt ist und das Torschiessen zum Fussballspiel gehört. Mit dem Traum verhält es sich anders. Es gibt nichts, was eigens zum Traum gehört, so dass wir aus einer Traumerzählung erkennen würden, dass es ein Traum ist. Selbst die verrücktesten Sachen könnten genausogut in einer Phantasie, einer Halluzination, einem Märchen, im Fabulieren oder sogar in einer Lügengeschichte vorkommen. Und übrigens, wenn die Behauptung zuträffe, dass die Traumerfahrungen sich von denen des Wachens unterscheiden, dass es also Traumerfahrungen gibt, dann müsste ein Traum schon in der unauffäligsten Erzählung als solcher erkennbar sein, so wie das Fussballspiel in der Beschreibung jeder Phase erkennbar ist. Dann müssten Sie aus dem Satz "Boss schenkte mir einen Ring" erkennen, dass es ein Traum war. Wenn Sie es nicht können, dann hat das Wort "Traumerfahrung" keinen Sinn und der behauptete Unterschied ist unbrauchbar.
Damit meine ich keineswegs, Traum und Wachen seien ein undifferenziertes Gemisch. Ich will nur mir Klarheit darüber schaffen, wie das Wort "Traum" ins Spiel kommt. Und nun versuche ich, dieses "Spiel" zu beschreiben: Ich erwache und - es kommt mir das Wort: Traum! Genauer gesagt, es ist kein Wort, sondern ein Name. Man könnte den Namen "Traum" mit einem Doppelpunkt vergleichen: er gibt eine Aussicht frei, wo alles von einem bestimmten Licht beschienen ist: Da ist der unbekannte Ort; Da ist Boss; Da bin ich; Da schenkt er mir einen Ring.
Ich kenne dieses Licht aus anderen Fällen, wo ich erwacht bin und den Namen "Traum" laut oder lautlos ausgesprochen habe. Jedesmal sehe ich mich da drin, diesmal mit Boss und dem Ring. Man könnte sagen, dass Boss mir den Ring im Namen des Traumes schenkt, wenn wir hier das "in..." wortwörtlich hören: Es ist in diesem Lichte, dass die Boss-Ring-Geschichte stattfindet.
Der Traum als Traum wäre also ein Phänomen des Erwachens. Das Phänomen des Traumes wäre aber nicht im "Traummaterial", in den "Traumbegebenheiten" zu suchen - diese sind ja nicht traumspezifisch -, sondern in jenem Licht. Dazu könnte Einiges gesagt werden, wenn wir das Erwachen nicht auf den Menschen beschränkt vorstellen, der morgens die Augen aufmacht. Das Erwachen ist nämlich nicht ohne den Aufgang der Sonne denkbar. Erwachen und aufbrechendes Licht sind eins und dasselbe, genauso wie, Parmenides, Vernehmen und Sein eins und dasselbe ist. Es ist gerade dieses, das aufbrechende Licht, das den Ort der Träume bescheint. Besser: Was von diesem Licht beschienen, erscheint im Namen des Traumes. Aber von welchem Licht ist jetzt die Rede? Lässt es sich noch näher beschreiben?
Was ich dazu sagen kann, habe ich mittelbar von Boss gelernt - ich weiss nicht mehr, ob ich es gelesen oder von ihm gehört habe: Eine Frau sieht eine Maus in der Küche herumlaufen. Sie schreit, springt auf dem Stuhl usw. Boss sagt nun, die Frau sehe nicht das blosse Tierchen "Maus". Denn die Maus, während sie aus dem Dunklen der Erde herauf- und hereinschleicht, bringt dieses Dunkle mit - herauf ins Freie und herein ins Haus. Das sei es, was die Frau sieht und mit Panik beantwortet. Es ist analog zum Denken des späten Heidegger, der die Unverborgenheit als die sich entbergende Verbergung fasste: Das Entborgene wird nicht der Verbergung geraubt, wie es noch in "Sein und Zeit" steht. Entborgen wird das Sich-Verbergen als solches. Erst die Maus hat es mir deutlich vor Augen geführt. Es waren solche Augenblicke, die Boss zu meinem Lehrer machten.
Im aufbrechenden Licht bricht das Dunkle der Nacht auf! Im "Es" des Ausdrucks "Es tagt" ist die Nacht angesprochen: Die Nacht tagt! Von hier aus wäre Heraklits Spruch zu hören: Tag und Nacht - einendes Eins. Es ist das Lichtlose, das im Licht als solches sich lichtet. Der erwähnte neugriechische Dichter spricht vom engelhaften und schwarzen Licht.
Wozu Dichter?, könnte man mit Hölderlin und Heidegger und mit dem gemeinen Verstand fragen. Weil je aufmerksamer das Auge, desto dichterischer sein beschreibendes Sagen. Aufmerksamkeit ist das natürliche Gebet der Seele. Es ist ein Satz von Malebranche, der über Walter Benjamins Kafka-Studien von Paul Celan übernommen wurde. Die Aufmerksamkeit ist eine Sache des sagenden Auges - des äugenden Sagens -, das dem Wirklichen versprochen ist. Die Genauigkeit dagegen ist eine Sache des vorstellenden Denkens, dem es um seine eigene Sicherstellung geht. Der angehende Therapeut hat seine Aufmerksamkeit zu schärfen und das Denken abzugewöhnen.
Zurück zum Erwachen. Die Träume, könnten wir jetzt sagen, gehören zu jenem Dunklen des Schlafes, d.h. der Nacht, das, wie Bosses Maus, im aufbrechenden Licht aufgeht. Dort, in diesem Licht, bei den Toren der Sonne, haben die Träume ihren Ort. Dort ist ihre Gemeinde angesiedelt - weitab von den Wohnungen und den Gewöhnungen der nur-lebenden Menschen.
Nun kann ich zu meiner Beschreibung Folgendes hinzufügen: Die Art und Weise, in der beim Erwachen mir ein Traum in den Sinn kommt, ist anders als etwa eine Erinnerung, z.B. an den Reck-Brief. Der Traum, Wittgenstein, ist kein Gedächtnisphänomen. Die Weise seines In-den-Sinn-Kommens ist eher die eines Aufbruchs. Man könnte es mit einem Wort Heraklits wiedergeben: AGCHIBASIĒ, "Nahegehen", besser: "Nahgang". Vermutlich ist es ein Name für das einende Eine, wenn im engelhaften und schwarzen Licht Tag und Nacht, Wachen und Schlaf, Leben und Tod nahe zueinander kommen.
So gesehen, gehören die Träume weder zur einen Seite (Schlaf) noch zur anderen (Wachen), so wie die Maus, die weder zum Dunklen der Erde noch zum Offenen des Freien gehört. Sie zeigen sich aus jener, um ein treffendes aber selten über Freud hinaus bedachtes Wort Freuds zu gebrauchen, freischwebenden Mitte heraus, die sich dem Aufmerksamen öffnet.
Wenn die Träume aus dieser Mitte heraus- und zur Seite des Wachens herübergezogen werden, dann werden sie in den Dienst einer "Therapie" gestellt, die eine wie auch immer zu verstehende "Gesundheit", "Selbstverwirklichung", "Offenheit" usw. sich zum Ziel gesetzt hat. Wenn die Träume zur Seite des Schlafes herübergezogen werden, dann entweder schlagen sie ins Magische um, etwa im Sinne des Prophetischen, des Symbolischen, des Archetypischen usw., oder sie gehen in die Maschinerie des Schlaflabors unter.
Das Übertreten des Masses kann aber auch hinsichtllch der erwähnten Zeitlosigkeit der Träume erörtert werden: Wenn ihr Freischwebendes auf die Seite der Vergangenheit schlägt, dann kommt es zur genetischen Deutung der Psychoanalyse freudianischer Provenienz; wenn auf die Seite der Zukunft, dann werden die Träume z.B. in Hinsicht auf unvollzogene Möglichkeiten ausgelegt, wie etwa in Bosses "Daseinsanalyse".
Man könnte wiederum einwenden: "Willst du denn das Offenbarste leugnen, dass ein Traum mit dem Leben des Träumers doch immer irgendwie zusammenhängt? Dass der Traum ihm doch etwas bedeutet?" Ich antworte: Natürlich hängt mein Traum mit meinem Leben zusammen. Hätte je mein fünfjähriger Sohn von Medard Boss träumen können? Aber das sagt nichts weiteres als: Was ich immer wahrnehme, wird irgendwie unter den Bedingungen meines Lebens wahrgenommen. Damit spreche ich keinem Solipsismus das Wort. Ich denke eher an den Vorsokratiker Xenophanes, der soll geschrieben haben: ...wenn aber Rinder und Pferde und Löwen / Hände hätten / und wie Menschen mit den Händen zeichneten und werkten / dann würden die Pferde pferdehafte und die Rinder rinderhafte Bildnisse der Götter zeichnen und Körper schaffen / von solcher Gestalt, wie sie selbst haben. Insofern das Geträumte nach dem "Augenmass" erscheinen muss, sowohl im Generellen als auch beim jeweiligen Menschen, insofern also eine Zusammenhangslosigkeit zwischen Träumen und Wachen undenkbar ist, rennt der Zusammenhänge Suchende offene Türen ein.
Und jetzt ein Traum von mir aus meinen ersten zürcher Jahren: Ich bin bei der Facharztprüfung. Ein mir unbekannter Oberarzt ist mein Prüfer. Er fragt mich, ob ich altgriechisch kann. Ich wundere mich, was denn das Altgriechische mit der Psychiatrie zu tun hat. Es ist Tatsache, dass ich mich in den Jahren danach immer intensiver mit altgriechischen Texten beschäftigte. Kann ich hier von einem Zusammenhang zwischen dem Traum und meinem Wachleben sprechen? War es z.B. ein prophetischer Traum? Oder ein archetypischer? Ist die Altgriechischprüfung die verschobene und verdichtete Gestalt von Situationen aus meiner frühen Kindheit? Hat mich der Traum auf noch unvollzogene Möglichkeiten aufmerksam gemacht?
All die Fragen... Ich überlege sie mir. Ich merke, dass ich keiner von ihnen nachgehen will. Es ist zunächst eine Ahnung, die mich unwillig macht. Sie würde zugundegehen, wenn ich mich auf eine der vorgeschlagenen Deutungen einliesse und einen Zusammenhang meines Traumes mit meinem Wachleben herzustellen versuchte. Das will ich ihr nicht antun. Ich horche. Es heisst, was ich suche sei schon da. Aus ihrer Ferne kommt der Hauch eines Aufatmens, besser, der leise Wind einer, und hier gebrauche ich mit aller Vorsicht ein Wort Paul Celans, Atemwende.
Nun glaube ich, es klarer zu sehen: Dieser Traum ist von meiner Beschäftigung mit dem Altgriechischen im Wachen nicht mehr wegzudenken. Mit anderen Worten: Das Altgriechische ist nicht mehr bloss Sache meines Wachlebens. Seine Reichweite übetrifft die des Wachen unendlich: Es ist nunmehr vom Traumhaften gezeichnet, so wie der Jude der Nazi-Zeit von seinem Stern - seinem Schicksal - gezeichnet ist. Aber so ist es auch mit Boss und mit all den Menschen und Dingen, denen ich je im Traum begegnet bin. Sie alle sind nun vom Traumstern gezeichnet. Zu ihnen gesellen sich noch der Ort und der Ring und all die Menschen und Dinge, die mir im Wachen unbekannt sind.
Diese Wesen versammeln bei sich Wachen und Traum. Die Spannweite dieser Versammlung reicht vom Dr.-Karl-Lueger-Ring bis zu den Toren der Sonne. Prospero sagt einmal in Shakespears "Gewitter": Wir sind aus dem Stoff, aus welchem die Träume gemacht sind und unser kleines Leben wird von einem Schlaf umgeben. "Von einem Schlaf umgeben" heisst: von Verweisungen und Bezügen und Verbindungen unantastbar, ohne vorher und danach, ruhend bei sich selbst: unheimlich. Und was wird dann aus dem Zusammenhang, der ja Wachen und Traum zueinander versammeln soll? Er ist von der Art der Bäume eines Waldes. Heidegger deutet ihn einmal durch Verse Hölderlins an: Und unbekannt einander bleiben sich sich, / Solang sie stehen, die nachbarlichen Stämme.
Langsam wird es mir klarer, worauf sich mein Entsetzen vor der Aussicht, einen Vortrag unter dem Titel "Träume" zu halten, bezog. Es war die Aporie, wie von den Träumen sprechen zu können, ohne über die Träume sprechen zu müssen - und dies unter anderem auch als Therapeut, d.h. als Einer, dessen Rede zwar jetzt Sie anspricht, aber eigentlich dem vor meinem Sessel und auf dem Couch Liegenden zugewandt ist. Damit meine ich nicht, dass ich je das Vorangegangene ins therapeutische Gespräch gebracht hätte. Diese Ausführungen sind eher einer Notenschrift vergleichbar, die ja erst in der musikalischen Praxis zur Wirklichkeit eines Werks wird. Wie das nun in der Therapie vor sich geht, werde ich versuchen, zunächst anhand der Traumerzählung einer Frau zu beschreiben:
Sie ist in der Analysestunde; Arbeitskollegen sind mitanwesend; einer bringt ihr ein Glas Wasser; er stellt es aufs Kissen; es kippt um; ich wische das Wasser vom Boden; sie steht auf und wartet draussen; ist böse mit mir wegen all dem Chaos; denkt, sie wolle die Stunde nicht zahlen... Es kommt nun zum folgenden Dialog:
Sie: Was sagen Sie zum Traum?
Ich: Was stellen Sie sich vor? Haben Sie schon irgendeine Ahnung? Hab' ich irgendwie schon etwas dazu gesagt?
Sie: Es sei nicht positiv, ich sei misstrauisch ...
Ich: Sie meinen, dass das Negative, das Misstrauen zwischen uns nicht sein darf?
[Es wird noch eine Weile darüber hin und her gesprochen. Dann:]
Sie: Und was ist mit dem Traum? Sie haben es mir nicht gesagt...
Ich: Sie sehen ja, wie Vieles vorbereitet sein muss damit wir zum Traum kommen...
Sie: Und jetzt, wo wir es wissen...?
Ich: Das genügt nicht. Zuerst müssten Sie von all dem frei werden. Der Traum kommt nachher... Die Frage, die wirklich nach dem Traum fragt, ist noch nicht gestellt!
Was kommt hier dazwischen? Die Frau hat ihren Traum schon gedeutet, nämlich als Zeichen für ein Misstrauen mir gegenüber, das sie überdies als "negativ" wertet. Insofern ist ihre Frage an mich: "Was sagen Sie zum Traum?" unzutreffend. Richtig gestellt, hätte sie etwa die Form: "Sehen Sie den Traum ebenfalls negativ?" Oder sogar: "Sie Sehen doch, etwas klappt zwischen uns nicht!"
Über das Misstrauen und das Negative kann man mit der Frau sprechen, was ich ja auch getan habe. Man kann ferner auf ihre Neigung hinweisen, gleich das "Negative" herauszuhören. Dies und anderes noch könnte mit ihr erörtert werden und es wäre auch therapeutisch sinnvoll. Bloss hat es mit ihrem Traum nichts zu tun. Denn ihre Frage an mich bezieht sich auf ihre und meine angebliche Deutung, und diese Deutung ist in Tendenzen und Neigungen ihres Wachlebens vorgezeichnet.
Das gilt auch für die mehr ausgeklügelten "professionellen" Traumdeutungen und -auslegungen. Die Fragen, mit denen sie sich einem Traum zuwenden, z.B. "Welcher unbewusste Wunsch wird im Traum erfüllt?", oder: "Welche noch unvollzogene Möglichkeiten melden sich da?" usw., haben ihren Vor-urteil zur Sache der Träume schon gefällt: Der Traum sei Wunscherfüllung; Der Traum sei die sinnlich gegenwärtig wahrnehmbare Version unvollzogener Möglichkeiten usw. Insofern sind sie keine echte Fragen: Sie reichen nicht bis zum Traum heran. Sie sind keine Fragen, die es einem Traum erlauben, im Offenen zu atmen. Sie sprechen von Wachen her aufs Wachen zu, den Pferden und Löwen des Xenophanes vergleichbar. Sie reichen nicht bis zum Ungleichen an Gestalt und Undenkbaren, das in einem anderen Fragment genannt wird, und das hier als das Unheimliche der Träume angesprochen wurde. Die Frömmigkeit des Denkens, Heidegger, fehlt ihnen. Dies ohne grosse Worte und missionarischen Eifer im therapeutischen Gespräch zu zeigen, würde zur erwähnten Vorbereitung gehören.
Die verschiedenen Thesen zum Traum stehen Antwort zu einer Leitfrage, die lautet: "Was ist der Traum?" oder, ins Psychologische gewendet: "Was bedeutet der Traum?" Hier ist stillschweigend angenommen worden, dass der Traum etwas ist; etwas bedeutet. Die uralte Gewohnheit, in diesem Stil zu fragen und zu sagen, hat die fatale Folge, dass man sich vom Traum weg und auf dieses Etwas hin orientiert wird. Die Träume werden aus ihrem Ort hinausgejagt - ihrem Ort, ich erinnere halb im ernst halb im Scherz, bei den Toren der Sonne und der Asphodeloswiese; sie werden auf den Markt der psuchologischen und neurobiologischen Verrechnungen geworfen.
Eine halbe Stunde, bevor ich diese Überlegungen erstmals notierte, bekam ich eine Traumerzählung von einer Psychologin zu hören. Und dann:
Sie: Haben Sie etwas zum Traum zu sagen?
Ich: Was steht hier überhaupt in Frage? In Hinblick worauf fragen Sie mich?
Sie: Ich frage nach einer Erklärung des Traumes.
Ich: Und was erwarten Sie von einer Erklärung? Was wäre nach der Erklärung anders?
Sie: Ein besseres Verständnis von mir selbst, von diesen Dingen.
Ich: Haben Sie so etwas schon erlebt? Dass eine Erklärung Ihnen in diesem Sinne geholfen hat?
Sie: Einmal hat mir ein Traum geholfen, eine wichtige berufliche Entscheidung zu treffen. Ein anderes Mal hab' ich anhand eines Traumes einen Fehler von mir in einer Arbeit erkennen können.
Ich: In diesen Fällen war es also keine Erklärung, die Ihnen geholfen hat. Eher sind diese Dinge nach dem entsprechenden Traum in einem anderen Licht erschienen.
Es gibt wiederum Fälle, wo ich zu einer Frage im Stil von "Was bedeutet der Traum?" schweige, oder antworte: "Ich weiss nicht".
Es geht mir, und das habe ich von Parmenides und den Alten, von Heidegger und Wittgenstein gelernt, um die Schärfung des Auges für die Unterscheidung zwischen dem, was sich fragen und sagen lässt und dem, worüber das Fragen und Sagen sinnlos ist.
Diese Haltung, die sich ja nicht auf die Träume beschränkt, bringt oft Ärger und wiederholtes Anrennen gegen meine Weigerung, dort mitzumachen, wo Grenzen überschritten werden. Aber nur so lernt Einer: nicht durch Deutungen und Erklärungen, sondern durch die Stösse gegen die Wand seiner Unmöglichkeiten - seiner Sinnlosigkeiten -, an welche diese vom Therapeuten gemalt werden. Der Therapeut muss oft Beispiel für diese Wand stehen.
Es ist kein Dozieren. Und kein Pathologisieren. Es geht mir um unsere Begegnung, besser, um die Flurreinigung, wo wir uns zuweilen begegnen, d.h. sprechen, d.h., Hölderlin, hören können voneinander. Es glückt, wenn wir zu der in Frage stehenden Sache wirklich kommen: wenn wir uns im Ton ihres Masses finden - der Akzent liegt auf den "Ton", nicht auf "uns".
Die therapeutische Begegnung, wenn man hier noch überhaupt von "Therapie" sprechen kann, hätte dann eben den Charakter der Aus-einander-setzung. Im Spiel stehen die Masse, d.h. die Unterschiede, überall dort, wo gegen sie vergangen wird. Sie wird aber vom Therapeuten nicht feindselig, sondern in einer Stimmung der Akzeptanz ausgetragen. Er weiss ja, dass unsere Wege nur sich vergehenden Schrittes gangbar sind. Sein Gesprächspartner wird angehalten, vor allem dies zu beherzigen.
Wo diese Begegnung einigermassen glückt, wo, wie Hölderlin in einem späten Gedicht schreibt, höher zeigen die Unterschiede sich, wird das Heimliche heimlicher und das Unheimliche unheimlicher und das Leben, wiederum Hölderlin, ein wohnend Leben.
Ob ich die Frage nach den Träumen zu einem Abschluss gebracht habe? Mitnichten! Ich breche nur ab, wie ein Wanderer, der sich erschöpft niederlegt und die Konturen von Start und Weg und Ziel in der Ermattung verschwommen werden und in den Schlaf mitentgleiten. Und Gott weiss, wo er sich wiederfindet, wenn er aufwacht. Und was er hier und heute sagte, wird ihm morgens scheinen, als wäre es ein Traum.