Weltmacht Religion


VERÖFFENTLICHT 4. SEPTEMBER 2018

auf Grundlage meiner Rede vom 9.November 2007


Im Auswärtigen Amt ging am 9.November 2007 ein Forum „Globale Fragen – Weltmacht Religion“ zuende. Die Veranstalter hatten mich um ein Schlusswort gebeten. Da der Umgang mit Religion heute wieder ein sehr aktuelles Thema ist, veröffentliche ich diesen damaligen Beitrag hier, mit kleineren Korrekturen zum besseren Verständnis. Farblich abgesetzt füge ich in blauer Farbe Kommentare aus heutiger Sicht (2018) hinzu. Da mich das Thema sehr beschäftigte, hatte ich den Redetext selbst ausgearbeitet und mich nicht auf Vorlagen von Mitarbeitern gestützt. 

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Eine Tagung zusammenfassen, an der ich nur kurz teilnehmen konnte, ist mir verwehrt. Den Schluss-Segen geben kann ich auch nicht. Daher möchte ich nur einige Fragen anreißen, die ich Ihnen mit auf den Weg geben kann.

Religion ist eine starke individuelle Motivationsmacht. Sie bedarf dazu keinerlei Erklärung durch anderes, sie ist aus sich selbst heraus eine ausreichende Erklärung für Motivation zu gutem, moralischem Handeln, aber auch für Fanatismus und Gewalt.

Natürlich ist Religion auch eine kollektive Motivationmacht. Ich wollte hier ausdrücklich der in Europa verbreiteten Tendenz entgegentreten, Religion als eine Art „Überbau“ zu betrachten, und die eigentlichen Motive für menschliches Handeln in der sozialen und wirtschaftlichen Lage, marxistisch gesprochen in der „Klassenlage“ zu suchen. Selbstverständlich sind Motive vielschichtig, ich halte aber die Religion für eines der stärksten Motive für moralisches wie für fanatisches Handeln.

Ein religiöser Mensch stellt einen hohen Anspruch zunächst an sich selbst. Allerdings stellt die Religion auch einen hohen Anspruch an andere Menschen. Einen so hohen, dass schon mancher die äußerste Gewalt seitens religiöser Kräfte erfahren musste, wenn jemand im Namen der Religion „ad maiorem dei gloriam“ gerettet oder bestraft werden soll. Wo also – fragen wir uns – endet der Anspruch an den anderen?

Religion ist gemeinschaftsbildend. Das führt zu einer starken Solidarität, es gibt Orientierung. Aber damit ist auch oft Abgrenzung und Ausgrenzung verbunden. Und ich denke noch nicht einmal sofort an die Abgrenzung nach außen. Gerade im Christentum haben wir immer ein „Ketzerproblem“ gehabt, mancher hat abweichende Auffassungen auf dem Scheiterhaufen gebüßt.

Religion gibt dem Individuum in seiner Gemeinschaft auch eine Orientierung in der Zeit – sie gibt dem Leben als Teil eines vorher und nachher Sinn – oft auch von Ewigkeit zu Ewigkeit.

Wir müssen uns fragen ob diese Sinngebung nicht zu einer Übersteigerung der religiösen Identität führt. Amartya Sen, der mit elf Jahren zum ersten Mal einen Mord beobachtete – den Mord eines Hindu an einem Moslem, als Indien und Pakistan entstanden – hat zu Recht auf die vielfältigen Identitäten hingewiesen, die jeden Menschen charakterisieren – es wäre gefährlich, diese auf die religiöse Identität zu verkürzen.

Religiöse Identitäten sind starke Identitäten. Deshalb ist die Gefahr der Absonderung gegenüber „Ungläubigen“ sehr groß. Wer nicht zur Gemeinschaft gehört, dem wird die Sinnhaftigkeit seines Lebens abgesprochen, die Toleranz für abweichende Meinungen ist gering, wer die Gemeinschaft verlässt, muss mit gewaltsamen Reaktionen rechnen. Das Thema ist heute leider wieder sehr aktuell, weil Apostasie von vielen Moslems als todeswürdig betrachtet wird und in manchen islamischen Ländern auch mit Todesstrafe bedroht wird.

Damals hatte ich an den ersten Treffen des vom damaligen Innenminister Wolfgang Schäuble eingerichteten Islamdialogs teilgenommen. Dabei wurde mir noch mehr bewusst, wie sehr wir zur Fixierung auf die religiöse Identität beitragen, wenn wir andere auf ihre Religion als „Muslime“ reduzieren, anstatt unsere Mitmenschen in der ganzen Bandbreite ihrer vielen Identitäten als Mensch, Mann oder Frau, in ihrer ethnischen, politischen, künstlerischen und sportlichen Vielfalt annehmen. Religiöse Führer fragen natürlich zuerst nach der religiösen Identität, so wie Fußball-Hooligans zuerst nach der Fan-Identität fragen. Aber ich hatte kein gutes Gefühl, wenn die Politik anfängt, Identitätspolitik zu betreiben.

Religion findet in der Gesellschaft statt. Es macht einen Unterschied, ob die Gesellschaft eine offene Gesellschaft im Sinne Poppers ist oder eine geschlossene. Dialogisches Verhalten ist Zeichen der offenen Gesellschaft – allerdings zähle ich das Missionsgespräch nicht zu den wirklichen Dialogen, denn ich glaube nicht, dass ein Missionar bereit ist, sich von seinem Gegenüber seinerseits missionieren zu lassen. Religion geht mit einem Wahrheitsanspruch einher, oft genug wird der Anspruch auf absolute Wahrheit nicht nur für die religiösen Grundlagen selbst sondern von ihren menschlichen Interpreten erhoben.

Die Wahrheitsansprüche der meisten Religionen schließen einander aus. Die Diskurse und Dialoge, die für das Zusammenleben notwendig sind, müssen davon ausgehen, dass Menschen durch Argumente überzeugt werden können. Menschen, die von ihrer unfehlbaren Religion auf ihre unfehlbare Person schließen, sind aber zu einer Argumentation nicht fähig.

Wenn es um die offene Gesellschaft geht – müssen wir dann nicht auch an bestimmten Stellen gegen die Religion gegenhalten? So, wenn Heils- und Rettererwartung in chiliastischem Wahn zu Realitätsverlust führen, zu Verdrängung der Diesseitigkeit durch die Jenseitigkeit. Wir haben das in Europa immer wieder, besonders stark um das Jahr 1000 herum erlebt.

Wie grenzen wir uns ab gegen politische Religionen und Pseudoreligionen, die die Ideologien des 20. Jahrhunderts geprägt haben? Politische Theologie – wie sie Carl Schmitt nannte – ist mit offener Gesellschaft nicht vereinbar. Dolf Sternberger sagte einmal: „bürgerliche Legitimität und apokalyptische Legitimität stehen in keiner logischen Beziehung zueinander, nicht einmal in derjenigen des Gegensatzes.“

Damit sind wir beim Verhältnis von Staat und Religion. Der Staat muss sicherstellen können, dass wir getrennt glauben und zusammen leben können. Religionsfreiheit ist dafür eine unerlässliche Grundlage. Ein Zeichen für Religionsfreiheit ist vor allem auch die Freiheit des religiös Anders-Denkenden oder des Nicht-Religiösen.

Die europäische Aufklärung war antiklerikal, teilweise antireligiös. Zugleich setzten sich viele der großen Aufklärer paradoxerweise für Religionsfreiheit ein. Laizismus bedeutete nicht das Ende der Religion, aber das Ende der Hegemonie der Religion im politischen Leben. Was als sektiererischen Realitätsverlust erscheint, betrachten fundamentalistische Religionsführer als den Weg zum Heil. Mit einer lauwarm weichgespülten Religion als Privatsache haben sie sich nie abgefunden. Die verschiedenen Wahrheitsansprüche spalten Religionen und Konfessionen. Doch eint sie die gemeinsame Abneigung gegen die Nicht-Religiösen.

Religion in der internationalen Gemeinschaft ist also ambivalent. Deshalb sollte jede Religionsgemeinschaft darauf achten, die Kräfte für Frieden und Entwicklung zu stärken. Die Arbeit der Kirchen in der Entwicklungspolitik ist dafür vorbildlich. Zugleich sollte verhindert werden, dass Gewalt anstelle von Argumenten tritt, dass Konflikte durch Religion noch verstärkt werden.

Religion kann Fundament und Instrument sein: wo sie Fundament für das Handeln ist, müssen wir das respektieren und in Rechnung stellen – auch wenn jemand wie George Bush glaubt, einen direkten Draht nach oben zu haben. Wenn aber Religion zum Instrument wird, ist Vorsicht angesagt. In Zeiten der Orientierungslosigkeit ist auch in der Politik die Suche nach Sinn häufig. Wir sollten den Religionen Respekt bezeugen, aber zugleich-im Sinne von Klaus Leggewie – stolz auf unseren auf der Aufklärung beruhenden säkularen Staat bleiben. Ich danke den Veranstaltern und den Teilnehmern.