Ukraine, Taiwan, Russland, China, North Stream 2, Swift
Hängt alles mit allem zusammen?

Veröffentlicht 16. JANUAR 2022

In der Politik hängt alles mit allem zusammen. Das ist ein Allgemeinplatz – der so nicht stimmt. Denn die Zusammenhänge sind deutlich abgestuft, und manches hängt eben gar nicht zusammen. Aber manchmal gibt es ungewöhnliche, manchmal auch unerwartete Verbindungen. So hatte das spätkoloniale Suez-Abenteuer Frankreichs und Großbritanniens im Jahre 1956 nichts mit der Unzufriedenheit der Ungarn mit ihrem kommunistischen Regime zu tun. Aber dann wurde beides im Kreml zusammen in den Blick genommen.

Über die Suezkrise gerieten die Briten und Franzosen in einen Gegensatz zu den Amerikanern. Die sowjetische Regierung war sich zuvor nicht ganz sicher gewesen, dass der Westen Ungarn unter keinen Umständen unterstützen werde. Ein massives Eingreifen gegen eine sowjetische Intervention in Ungarn galt als wenig wahrscheinlich, aber verdeckte Operationen bis hin zu Waffenlieferungen an Freiheitskämpfer wären vielleicht möglich gewesen. Aber ein gespaltener Westen mit zwei Staaten, deren Intervention in Ägypten gerade scheiterte, während die USA sich gegen sie stellte, machte 1956 damals eine entschlossene Reaktion auf die Unterdrückung in Ungarn unmöglich.

Russland und China sind sich in den letzten Jahren näher gekommen. Der alte ideologische Streit um die Führung der kommunistischen Welt ist obsolet. Die Grenzprobleme sind weitgehend aus der Welt geschafft, Russland ist aus chinesischer Sicht keine ernstzunehmende Bedrohung mehr, sondern allenfalls Juniorpartner Chinas – und ein interessanter Rohstofflieferant. Aus russischer Sicht hat die Furcht vor einer chinesischen Durchdringung des russischen fernen Ostens abgenommen, in Zentralasien gibt es neben gewisser Konkurrenz auch gemeinsame Interessen an der Stabilität der Regime gegen die Herausforderung des Islamismus.

Russland hat die Obsession, dass die Ukraine eigentlich ein Teil Russlands sei, China hat die Obsession, dass Taiwan eigentlich ein Teil Chinas sei. Russland hat allerdings die Unabhängigkeit der Ukraine und die Unverletzlichkeit ihrer Grenzen anerkannt, während die Volksrepublik China und die Republik China (Taiwan) beide den Anspruch erheben, das ganze China zu repräsentieren. Jede Form einer Unabhängigkeitserklärung Taiwans hat Peking zum casus belli erklärt.

Beide Fälle sind aber sehr unterschiedlich: Die Unabhängigkeit der Ukraine ist international anerkannt, auch von China, während die Ein-China-Politik Pekings weithin akzeptiert wird, solange das Ziel der Vereinigung friedlich verfolgt wird.

Russland hat massiv Truppen an der Grenze zur Ukraine aufmarschieren lassen. Die Krim wurde 2014 gewaltsam annektiert, im Donbas werden angebliche Separatisten unterstützt – de facto handelt es sich um eine russische Besetzung. China hat an der Küste gegenüber Taiwans starke Truppenverbände stationiert, die chinesische Regierung erklärt, dass die Taiwanfrage nicht mehr beliebig lange auf eine Lösung (im Sinne Pekings) warten könne.

Es liegt nahe, dass sowohl in Moskau als auch in Peking beide Themen zusammengedacht werden.

Die USA haben in der Taiwanfrage eine Politik der Ambivalenz verfolgt, indem sie sich jede Reaktion auf einen chinesischen Angriff auf Taiwan vorbehielten – es besteht kein Automatismus, kein formelles Bündnis, aber die USA könnten Taiwan dennoch massiv unterstützen.

Die NATO hat bisher einen Beitritt der Ukraine (und Georgiens) nicht weiter vorangetrieben. Es gibt keine Bündnisverpflichtung des Westens gegenüber der Ukraine. Doch im Falle eines russischen Angriffs sind die Interessen der USA und der Europäer massiv betroffen. Gemeinsam mit Russland haben 1994 auch die westlichen Mitglieder des Sicherheitsrates die Unverletzlichkeit der Grenzen der Ukraine garantiert, als die Ukraine im Gegenzug auf Kernwaffen verzichtete.

Russland sollte sich im Klaren darüber sein, dass ein Angriff zu einer deutlichen Reaktion des Westens führen wird. Ähnlich wie in Taiwan gibt es auch hier eine Ambivalenz, die viele Optionen offenlässt. Das sollte aber nicht so missdeutet werden, dass es bei verbalen Protesten bleiben könnte. Im Gegenteil kann auch eine militärische Unterstützung der Ukraine z.B. durch Waffen und andere Maßnahmen nicht ausgeschlossen werden. Eine russische Aggression in der Ukraine wäre ein Spiel mit dem Feuer.

Der Kreml mag – nicht zu Unrecht – gewisse Gegensätze und Spaltungen im Westen feststellen. Die wichtigste ist, dass die USA und Europa schon aus geopolitischen Gründen unterschiedliche Prioritäten haben. Präsident Biden sieht wie die meisten Amerikaner die größte Gefahr von der Großmachtrivalität zwischen den USA und China ausgehen. Moskau mag spekulieren, dass Biden bereit sein könnte, die Moskauer Front ruhig zu halten, um seine Spielräume in Asien zu behalten. Die europäischen NATO-Verbündeten (und auch die Neutralen in der EU) wiederum könnten versucht sein, die chinesische Front ruhig zu halten, um sich auf die russische Bedrohung zu konzentrieren.

Das Zusammendenken der beiden Fragen könnte zu dem Missverständnis führen, dass damit eine Spaltung des Westens möglich ist – zumal die EU derzeit auch nicht gerade ein Muster von Einigkeit vorführt. Zugleich glaubt man vielleicht den Medien, die behaupten, dass nach dem Abzug aus Kabul gerade in den USA eine Abneigung gegen weitere militärische Interventionen bestehen würde. Dabei wird nicht beachtet, dass zwar keine Neigung mehr besteht aus idealistischen Gründen wie „nation building“ für andere zu intervenieren – aber zugleich die Bereitschaft, harte eigene Interessen zu vertreten, dadurch keineswegs betroffen ist. Das gilt natürlich ganz besonders, wenn das NATO-Bündnis angegriffen wird, z.B. im Baltikum – das würde einen Krieg auslösen. Aber auch ein Angriff auf die Ukraine kann eskalieren.

Es wäre auch ein Missverständnis, zu glauben, die USA könnten ihre Interessen an einer der beiden „Fronten“ vernachlässigen. Im Gegenteil, die Folge eines Doppelangriffs wäre nicht eine Spaltung des Westens, sondern ein Zusammenrücken – und im Zweifel eine hochgefährliche Krise mit der Gefahr einer globalen Eskalation.

Putin und Xi sollten beide genau überlegen, ob sie mit dem Weltfrieden spielen wollen. Wenn es nach einem Konflikt noch eine Geschichte gibt, werden sie als Kriegstreiber dort nicht gut wegkommen. Der Westen reagiert oft spät und demokratische Meinungsbildung dauert länger – aber wenn sie herausgefordert werden, haben Demokratien sich entschlossen verteidigt.

Nun ist derzeit trotz aller Gefahren einer Eskalation weniger von militärischen Reaktionen die Rede als von wirtschaftlichen Sanktionen. Um zu wirken, müssten diese sehr weit gehen und auch dem Westen erhebliche Opfer abverlangen, die aber im Vergleich zu einer militärischen Auseinandersetzung tragbar und vor allem reversibel sind.

Besonders im Visier ist seit längerer Zeit die Pipeline North Stream 2. Die Bundesregierung hat dies als rein wirtschaftliches Projekt bezeichnet – und das war über lange Zeit auch richtig. Ebenso waren die Einwände aus Polen und der Ukraine wirtschaftlich motiviert – man wollte weder auf die Gebühren für die Durchleitung verzichten noch den Finger vom Gashahn nehmen. Leider hat Deutschland mehrmals erfahren müssen, dass zu seinen Lasten leichtsinnig damit gespielt wurde. Nicht nur Russland, auch Deutschland wollte diese Abhängigkeit nicht weiter dulden. Die von antideutschen Emotionen getragene Politik der polnischen PiS-Regierungen trägt auch nicht dazu bei, dem EU- und NATO-Partner Polen unbegrenzt zu vertrauen. Die Sowjetunion hingegen hatte sogar mitten im kalten Krieg ihre Lieferverpflichtungen stets ohne Unterbrechung erfüllt.

Doch die Lage hat sich verändert. Schon als Gasprom vor mehr als einem Jahrzehnt begann, damit zu drohen, Lieferungen von Öl und Gas aus politischen Gründen zu kürzen, war das Vertrauen nicht mehr wiederherzustellen. Die Energiepolitik wurde unter Putin zu einem politischen Druckmittel nicht nur gegenüber der Ukraine und unseren NATO-Partnern im Baltikum, sondern auch direkt gegenüber Deutschland. Das war der Moment, an dem eine Diversifizierung der Bezugsquellen notwendig wurde. Damals hätte man ohne Probleme auf North Stream 2 verzichten können und vor allem die LNG-Kapazitäten ausbauen sollen.

Inzwischen sind so hohe Investitionen in die neue Pipeline geflossen, dass es nicht sinnvoll erscheint, diese einfach im Orkus zu versenken. Allerdings halte ich im Falle eines russischen Angriffs auf die Ukraine einen Gas-Boykott für unumgänglich, soweit die anderen westlichen Partner, insbesondere die USA gemeinsam mit uns eine alternative Versorgung sichern.

Bei jedem Konflikt muss immer auch daran gedacht werden, wie man ihn beenden kann. Wenn die Pipeline North Stream 2 nicht fertig gebaut wird, dann wird die Abkopplung dauerhaft und damit politisch unwirksam. Nur eine fertige und betriebsbereite Pipeline kann an- und abgeschaltet – im Falle einer Beendigung des Konfliktes also auch wieder eingeschaltet werden. Nur so kann sie der politischen Instrumentalisierung der Energiepolitik durch Russland entgegengesetzt werden, als Sanktionsinstrument ebenso wie als Anreiz zu völkerrechtskonformem Verhalten.

Wenn Putin den gleichen Weg gehen will wie Hitler, indem er stückweise die Grenzen in Europa infrage stellt, dann muss der Westen schneller und früher massiv reagieren. Appeasement ist dann keine Lösung. Aber die Reaktion sollte möglichst reversibel sein – der für Russland eintretende Schaden auf Maßnahmen begrenzt bleiben, die man leicht wieder zurücknehmen kann, falls Putin selbst oder mögliche Nachfolger zur Vernunft kommen.

Auch die Schließung des internationalen SWIFT-Zahlungsverkehrs ist in dem Zusammenhang diskutiert worden. Der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz sieht das für so gefählich für die Weltfinanzwirtschaft an, dass er davon abrät. Aber ohne Opfer wird auch ein Wirtschaftskrieg nicht zu führen sein – und ich halte diese Möglichkeit tatsächlich für gangbar, denn es muss frühzeitig sehr massive Sanktionen geben und kein Klein-Klein, das man im Kreml mal einfach so wegsteckt. Es ist genau die Einschätzung, dass der Westen Risiken scheut, die Putin und auch Xi zu Risiken ermuntert – genau darin aber dürften sich beide täuschen.

Ein von Putin vom Zaun gebrochener Krieg (gleich, wem die russische Propaganda das dann in die Schuhe zu schieben versucht!) gegen die Ukraine wäre eine Tragödie für die Menschen in beiden Ländern. Am Ende wird es darauf ankommen, ob die Ukrainer sich verteidigen wollen – ich bin sicher, dass sie ihre Freiheit nicht wieder aufgeben wollen. Die Sowjetunion ist ebenso wie das Russische Imperium eine Vergangenheit, die trotz aller Verklärung keine guten Erinnerungen weckt.

2 KOMMENTARE

Clemens (24. Februar 2022 um 14:39 Uhr)

Jetzt ist es zu spät für konsequente Sanktionen und Deine Vorhersage ist eingetreten  Putin agiert gerade wie Hitler und greift großflächig an – nicht nur in den Regionen der prorussischen Separatisten.

Meine Antwort (24. Februar 2022 um 16:34 Uhr)

Ich überschätze nicht die Wirkung von Sanktionen auf einen entschlossenen Krieger. Aber sie sind dennoch nötig. Außerdem müssen wir ähnlich wie im kalten Krieg unsere eigene Sicherheit und die der NATO-Verbündeten weit stärker als bisher schützen. Das heißt, dass die COCOM-Listen wieder in Kraft treten müssen und gewisse Technologien nicht geliefert werden. Die Wirkung ist schwächer als früher, weil insbesondere China viele der Elemente liefern kann. Wir müssen uns auch daran erinnern, wie Nixon und Kissinger China umworben haben. Das fällt bei Xi nicht leicht, aber damals war immerhin Mao an der Macht – und der war sicher kein leichter Partner.
Am Ende müssen wir auch überlegen, wie wir mit Russland zu einem friedlichen Nebeneinander zurückkehren können – dazu muss der Krieg beendet werden. Aber das neue Verhältnis wird nicht so sein wie das bisherige, weil zu viel Vertrauen verspielt wurde. Lawrow hat sehr früh angefangen, systematisches Lügen zu seinem Instrument zu machen – ihm traue ich gar nicht mehr – also muss alles mit Hardware gesichert werden.