ABC der dümmsten Sätze

VERÖFFENTLICHT 27. MAI 2022

„Wandel durch Handel ist erledigt“

„Deutschland tut nicht genug“

„Unser Kriegsziel ist, dass die Ukraine gewinnt“

„Der zögerliche, arrogante, kommunikationsunfähige Bundeskanzler“

Irgendwann in den sechziger Jahren fand ich in einem Buchladen ein Taschenbuch von Egon Jameson: „ABC der dümmsten Sätze“. Ich weiß nicht, ob seitdem noch weitere Auflagen erschienen sind, aber ich bin sicher, dass das Buch inzwischen viel umfangreicher sein müsste.

Ein Lehrer ermunterte uns immer wieder mit den Worten: „Fragen Sie! – Es gibt keine dummen Fragen“ – Seit dem Ausbruch der Talkshow-Kultur zweifle ich allerdings an der Geltung dieser Aussage. Es gibt sie wirklich: die dummen Fragen – aber darum soll es hier nicht gehen. Mir geht es hier um einige dümmste Sätze aus der aktuellen Debatte.

Eine Standardsituation, aus der heraus Tore und Böcke geschossen werden, ist der Hinweis darauf, dass der Slogan „Wandel durch Handel“ sich mit dem russischen Überfall auf die Ukraine erledigt habe – jetzt kommen noch die Bilder aus Folterlagern in China hinzu, damit sei der Satz nun endgültig widerlegt. Eigentlich sollten wir nur mit Demokraten Handel treiben – und dann am besten auch nur mit denen, die auf ganzer Linie mit unseren politischen, sozialen, ökologischen und moralischen Vorstellungen übereinstimmen.

Der ukrainische Botschafter Andrej Melnik singt vor und viele deutsche und ausländische Politiker und Medien fallen in den Chor ein: „Deutschland tut nicht genug!“ – gemeint ist die Unterstützung des ukrainischen Widerstandes gegen den russischen Überfall auf ihr Land. Vor allem geht es dabei um die Lieferung von Waffen. Alle anderen scheinen alles richtig zu machen und alle Arten von Waffen großzügig zu verschenken. Da fragt sich, warum Deutschland überhaupt noch gebraucht wird. Der ukrainische Botschafter Melnik wirbt jedenfalls weiterhin nicht um Freunde in der größten deutschen Regierungspartei und im Bundeskanzleramt.

Einige deutsche Politiker fordern, dass Deutschland „seine“ Kriegsziele klar benennt. Der Abgeordnete Kiesewetter (CDU) hat in infamer Weise dem Bundeskanzler unterstellt, er wolle nicht, dass die Ukraine „siege“. Im Gegenteil sende der Kanzler subtile Signale an Putin. Sein Fraktionskollege Norbert Röttgen unterstützte diese Diffamierung. Natürlich muss die Opposition die Regierung kritisch kommentieren – aber solche unfairen Grenzüberschreitungen waren seit der Debatte über die Ostverträge eigentlich nicht mehr üblich.

Es vergeht auch kein Talkshowabend ohne den Satz vom vielleicht behutsamen, aber zögerlichen, kommunikationsunfähigen und gegenüber der Presse arrogant auftretenden Bundeskanzler Olaf Scholz. Ob Markus Lanz, Anne Will oder Sandra Maischberger, sie alle haben das bereits so oft wiederholt bis es auch der letzte glaubt. Wenn ihre Talk-Gäste dann mal etwas zurückhaltender sind, dann werden sie geradezu penetrant daran erinnert, wenigstens eine dieser Etikette an den Bundeskanzler anzukleben. Eine Regel aus der antiken Rednerschule hieß: Inculcanda-repetunda, wiederhole etwas ständig, dann wird es sich einprägen.

Lassen Sie uns diese vier Sätze etwas näher betrachten:

1. „Wandel durch Handel ist erledigt“

Der Satz unterstellt, dass die deutsche Außenwirtschaftspolitik der gesamten Nachkriegszeit in erster Linie ideologisch motiviert war. Angeblich setzte sie darauf, dass unsere Handelspartner durch den Warenaustausch mit uns ihre innere Verfassung zum Besseren verändern werden. Putin habe nunmehr durch den Angriff auf die Ukraine bewiesen, dass dieser Satz von Anfang an falsch gewesen sei. Die Politik müsse deshalb grundlegend revidiert werden.

Exporteure, Importeure, Unternehmer und Händler waren darauf aus, ihre Märkte zu entwickeln und durch globalen Handel Gewinne zu erwirtschaften. Sie verwiesen darauf, dass Handel und Investitionen zu einem enormen wirtschaftlichen Aufschwung beispielsweise Südkoreas, der ASEAN-Staaten und natürlich Chinas geführt hätten. „Wandel durch Handel“ bedeutete hier also, dass wir den ökonomischen Aufstieg der Partnerländer durch unsere Aktivitäten begünstigten.

Linke Politiker kritisierten Gewinne als „Profite“, was anrüchig klang, die Marktentwicklung wurde unter „Ausbeutung“, die Arbeitsteilung zwischen zu teuer exportierenden Industriestaaten und ausgebeuteten Rohstoffproduzenten als „neo-imperialistische“ oder „neo-koloniale“ Beziehungen verbucht. „Wandel durch Handel“ bedeutete nach dieser Auffassung also, dass wir den sozialökonomischen Aufstieg der rohstoffproduzierenden Entwicklungsländer durch unsere Aktivitäten behinderten.

In beiden Fällen wurde unsere Rolle allerdings maßlos überschätzt. Deutschland ist weder verantwortlich für den wirtschaftlichen Erfolg Chinas, noch für den Niedergang und Aufstieg mancher Entwicklungsländer. Unser Land hat die Chancen genutzt, die sich boten, als China seine (bei uns noch in den siebziger Jahren von vielen damaligen „Maoisten“ und späteren Grünen bewunderten) katastrophalen kommunistischen Wirtschaftsexperimente beendete. In Afrika haben einheimische Investoren sehr sensibel auf politische Rahmenbedingungen reagiert. Aus manchen Ländern gab es deshalb eine massive Kapitalflucht – und ein ausländischer Investor musste verrückt sein, dort zu investieren, wo Einheimische fliehen. Andere Länder – leider zu wenige – waren erfolgreich und konnten die Lebensbedingungen ihrer Einwohner deutlich verbessern. Deutsche Firmen nutzten die damit entstandenen Chancen eher zu wenig.

„Wandel durch Handel“ findet auch bei uns statt. Die globale Vernetzung wirkte auch auf uns zurück. Die internationale Arbeitsteilung führte zu wachsender Effizienz, Waren konnten billiger importiert werden, unsere Produkte fanden in den wachsenden Gesellschaften vor allem in Asien neue Käufer. Auch Investitionen waren keine Einbahnstraße mehr. China oder die ölreichen Golfstaaten kauften sich in die deutsche Wirtschaft ein, GAZPROM kaufte wichtige Teile der deutschen Energie-Infrastruktur. Staatliche Eingriffe zum Schutz nationaler und europäischer Interessen galten damals zumindest im Bundeswirtschaftsministerium als Todsünde.

Ein schleichender Wandel tritt ein, wenn Lieferketten zu Abhängigkeiten führen. Die Subventionen für die Landwirtschaft in der EU wurden immer wieder als Beispiele marktwidriger Ineffizienz dargestellt. Das Argument, dass Europa gerade bei der Versorgung mit Grundnahrungsmitteln unabhängig bleiben müsse, fand wenig Widerhall. Immerhin hat die Bundesregierung Merkel/Steinmeier gemeinsam mit dem BDI 2007 ein Symposium veranstaltet, wo es um die Abhängigkeiten von Rohstoffen ging, denen wir nicht entgehen können. Denn unser Handel muss uns mit vielen Rohstoffen versorgen, für die es nur einen oder wenige Lieferanten gibt.

In den Jahren zwischen 2005 und 2007 argumentierte ich gegen die Forderung der Wettbewerbs-Kommissarin der EU, Neelie Kroes, die das „unbundling“ der europäischen und vor allem der deutschen Energiekonzerne mit blindem Fanatismus vorantrieb und die Firmen zwang, ihre Transportnetze und Speicher zu verkaufen, ohne die Wirkung auf die globalen Märkte zu berücksichtigen. Italien war schon damals ins Visier von GAZPROM geraten, Deutschland drohte das gleiche – denn die Brüsseler Politik war blind gegenüber der Gefahr, dass private nationale Monopole direkt in staatliche ausländische Monopole überführt wurden.

Wie ging es mit „Wandel durch Handel“ in Russland voran? – Gerade im Zusammenhang mit Russland habe ich den Spruch oft gehört. Aber er hat nie gestimmt. Die Bundesrepublik Deutschland war zur Zeit des Kalten Krieges der größte westliche Handelspartner Russlands. Der Ostausschuß der Deutschen Wirtschaft – lange geleitet von Otto Wolff von Amerongen – hatte politisches Gewicht. Das Volumen von Handel und Investitionen war allerdings geringfügig verglichen mit den Beziehungen zu westlichen Partner.

Das Schlagwort vom „Wandel durch Annäherung“, das Egon Bahr zugeschrieben wird, bezog sich auf politische Beziehungen und die Überwindung der Sprachlosigkeit zwischen Ost und West. Einige interpretierten das naiv als ideologische Annäherung. Willy Brandt hielt das für illusorisch, während Erich Honecker sie fürchtete und mit harter ideologischer „Abgrenzungspolitik“ reagierte.

Der Handel spielte dabei nicht die Hauptrolle. In der KSZE-Schlussakte von Helsinki war für Moskau der politische Korb I entscheidend – die Anerkennung der nach Jalta entstandenen Machtverhältnisse – also der sowjetischen Hegemonie in Mittel- und Osteuropa, für den Westen der Korb III – also die Öffnung für eine liberale Politik des Austausches von Ideen und menschlichen Begegnungen, beide Seiten suchten eine Balance im Korb II – dem Ausbau beiderseits vorteilhafter Wirtschaftbeziehungen.

Allerdings glaubten viele in Deutschland, dass eine zunehmende Verflechtung der Wirtschaft vertrauensbildend und damit friedensfördern wirke. Andere, darunter der CSU-Vorsitzende Franz-Josef Strauß, sahen in einer zunehmenden Abhängigkeit Russlands und der DDR von westlichen Krediten eine Chance, den westdeutschen Einfluss auf Russland auch politisch zu verstärken. Die Machtpolitik der Sowjetunion wurde durch deutsche Politik nicht beeinflusst, nicht durch Annäherung, nicht durch Handel. Im Gegenteil: erst die klare Einbettung der deutschen Ostpolitik in die NATO und das Bündnis mit den USA gab der Bundesregierung den Spielraum für ihre Rolle.

Die Erfahrung der siebziger und achtziger Jahre zeigte, dass das Konzept „Abhängigkeit durch Handel und Finanzen“ aufging. Am Ende mussten die Sowjets Hilfe im Westen suchen. Den Zusammenbruch der kommunistischen Systeme haben diese Länder allerdings weitgehend selbst herbeigeführt, weil sie unfähig waren, moderne Gesellschaften und effiziente Volkswirtschaften zu entwickeln. Die Sowjetunion scheiterte auch am klassischen Problem von „Kanonen-oder-Butter“. Nicht erst Reagans verstärkte Rüstungspolitik, sondern der andauernde Vorrang von Machtpolitik vor Wohlstand hat die Sowjetunion ruiniert. Die russischen „Siloviki“ haben das auch nach Ende der UdSSR nie begriffen. Putin setzt diese ruinöse Politik fort.

Als Boris Jelzin und sein de facto Premierminister Jegor Gaidar Russland reformieren wollten, als Außenminister Andrej Kosyrew sich nach Westen orientierte, waren die alten Kräfte nicht einfach verschwunden. Sie hatten schon 1991 versucht, Gorbatschow zu stürzen, sie versuchten 1993 Jelzin abzusetzen. Nach 1995 wählten sie den Marsch durch die Institutionen. Immer mehr ehemalige KGB-Kader besetzten Schlüsselpositionen, nationalistische Töne wurden lauter und an der Vergangenheit orientierte imperialistische Ideologien verbreiteten sich in Führungskadern. Gewaltbereite Kriminelle und kleptokratische Funktionäre erstickten die Entstehung eines innovativen selbständigen Unternehmertums. Eine Karikatur des Kapitalismus ersetzte die sowjetische Karikatur des Sozialismus.

In dieser Lage hatte der Westen und ganz besonders Deutschland ein großes Interesse daran, dass Russland den Übergang in eine neue stabile Wirtschafts- und Sozialordnung bewältigt. Bis 1994 standen noch bis zu 400.000 russische Soldaten auf deutschem Territorium.

Ein instabiles, aggressives Russland wäre schon damals eine große Gefahr nicht nur für Deutschland, sondern auch für alle ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten und die ehemaligen Sowjetrepubliken gewesen. Russland war der Schlüsselstaat, wo die Ressourcen, die Schulden, die militärischen Kapazitäten und die Bevölkerungsmehrheit versammelt waren. Über 700 ehemalige DDR-Firmen waren noch in Moskau vertreten. Die meisten hatten ihre Märkte verloren, seit die verordnete Arbeitsteilung im Rahmen des RGW (Rat für gegesweitige Wirtschaftshilfe) verschwunden war.

Hier sprachen dann die Medien gerne von „Wandel durch Handel“ – aber es war nur ein Slogan. Die immense Unterstützung des Westens ging weit über den Handel hinaus (auch wenn mäkelnde Nationalisten wie Sergej Karaganov beklagten, dass sie zu gering und unverschämterweise ein wenig konditioniert war), Programme der EU wie TACIS initiierten eine Unzahl von Projekten der technischen Hilfe, mit der EBRD (European Bank for Reconstruction and Development) wurde eine Entwicklungsbank geschaffen, die zunächst ihren Schwerpunkt in Russland setzte.

Die Bundesregierung entsandte den ehemaligen Kartellamtschef Prof. Wolfgang Kartte, um den Russen zu helfen, die notwendigen Institutionen und Gesetze zu schaffen, um die Marktwirtschaft einzuhegen und die Entwicklung zu einem Raubkapitalismus zu verhindern. Karttes Einfluss blieb gering. Wichtiger waren neoliberale Ökonomen wie Jeffrey Sachs aus den USA oder Anders Aslund aus Schweden. Die G7 schuf eine SIG (Support Implementation Group mit Mike Gilette (USA) als Vorsitzendem, ich war sein Stellvertreter), die allerdings nie irgendetwas koordinierte. Der Dialog mit Russland wurde in politische Foren der NATO, der G7 (später G8) und der OSZE geführt, die EU bot Russland ein umfassendes Kooperationsabkommen an.

Zwischen 1992 und 1995 war Russland bei den marktwirtschaftlichen Reformen gegenüber allen anderen ehemaligen Sowjetrepubliken (außer den baltischen Staaten) weit voraus. Die Ukraine blieb dahinter zurück und tat zunächst wenig, ihren Willen zur Unabhängigkeit auch durch Reformen zu untermauern. Die Ausgangslage in der Ukraine war schwieriger als in Russland. Der Westen konnte nur helfen, wenn der politische Wille zu Reformen in den Nachfolgestaaten vorhanden war. „Wandel durch Handel“ allein hat noch nie funktioniert. Handel, Investitionen, Hilfen – alles zusammen kann Wandel nur unterstützen, aber nicht herbeiführen.

„Wandel durch Handel“ war schon immer ein Slogan – das zum Kern langjähriger deutscher und westlicher Außenpolitik zu erklären, ist schlicht Unsinn. Damit wird von den Sprücheklopfern in den Medien ein Satz erschossen, der schon vorher nur ein Pappkamerad war.

„Wandel unterstützt durch vielfältige Beziehungen, darunter auch Handel“ hingegen, das war immer eine Hoffnung. Es war einen Versuch wert, als in Russland eine Regierung das Sagen hatte, die Reformen wollte und – wenn auch nicht perfekt – demokratische Freiheiten respektierte. Ab wann man diese Hoffnung aufgeben musste, mag umstritten sein. Aus der Entwicklungspolitik kennen wir das Dilemma: Hilfe für unappetitliche Regime lässt sich moralisch nicht vertreten, wenn wir aber nicht einmal versuchen, die ökonomischen Grundlagen so zu verändern, dass neue Kräfte entstehen, die solche Regime herausfordern können, dann resignieren wir vielleicht zu früh.

Auch in Russland gab es immer ein Nebeneinander von Reformern und Reaktionären, von Demokraten und Autokraten, von Slawophilen und Westlern, von Friedens- und Kriegspartei. Wenn Politik genetisch bedingt, deterministisch und unveränderlich wäre, dann gibt es keinen Wandel. Aber dann hätten die Westmächte 1949 auch nicht auf die Bundesrepublik Deutschland setzen dürfen, auf ein anderes Deutschland (obwohl noch vom Nationalsozialismus belastete Personen bis in hohe Positionen vertreten waren). Wandel ist immer möglich, bleibt immer eine Hoffnung. Nur darf es keine Illusionen darüber geben, mit wem dieser Wandel möglich ist. Nicht wir führen den Wandel herbei – aber unser Handeln kann dabei helfen.

Lassen wir also den dümmsten Satz: „Wandel durch Handel“ sei erledigt links liegen. Damit ist die bisherige Russlandpolitik nicht richtig gekennzeichnet – und somit auch nicht diskreditiert.

2. „Deutschland tut nicht genug“

Selbstverständlich müssen Präsident Selensky und sein Botschafter Melnik in der verzweifelten Lage, in der sich die Ukraine durch den russischen Angriffskrieg befindet, Hilfe suchen, ja einfordern. Deutschland hat gegenüber der Ukraine keine Bündnisverpflichtungen, es ist auch keine Garantiemacht des Budapester Protokolls von 1994, in dem die Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine nochmals beschworen wurde.

Es gibt drei wesentliche Gründe dafür, dass Deutschland und der Westen der Ukraine hilft:

Dazu kommen drei Prinzipien, die unsere Unterstützung leiten:

Was unter diesen Umständen „genug“ ist, muss die Bundesregierung in Abstimmung mit den Verbündeten entscheiden. Der Grat zwischen „zu wenig“ – vor allem aus Sicht der Ukraine – und „zu viel – vor allem aus der russischen Sicht – ist eng.

Die von Bundeskanzler Olaf Scholz verkündete „Zeitenwende“ war für Deutschland ein gewaltiger Schritt. Es war auch ein notwendiger Schritt. Aber die Debatte innerhalb Deutschlands und des Westens ebenso wie mit der Ukraine, wie die Hilfe mit Waffen und Sanktionen, mit humanitärer Hilfe und politischer Flankierung im Einzelnen aussieht, wird täglich weitergeführt.

Die technische und operative Durchführung der Hilfen ist sehr empfindlich gegenüber russischer Einwirkung – von Sabotage bis zu Angriffen auf Nachschublinien, sobald der NATO-Raum verlassen wurde. Auch wenn es den Medien nicht passt: das fällt unter Geheimhaltung, wer diese aus Sensationslust bricht, sollte sich schämen!

Präsident Selensky hatte schon lange vor dem Angriff Russlands die deutsche Ukrainepolitik massiv kritisiert. Ich nehme an, dass sein Botschafter in Berlin ihm ein Bild der deutschen Politik vermittelt, das von tiefen Ressentiments geprägt ist. Gleich woher diese kommen und ob sie begründet sind, ist es aber sehr wichtig für den ukrainischen Präsidenten, über Machtverhältnisse und politisches Denken, über politische und technische Möglichkeiten und Probleme, auch über die öffentliche Meinung des gesamten Spektrums gut unterrichtet zu sein. Wenn der Botschafter so einseitig berichtet wie er öffentlich auftritt, dann fehlt Präsident Selensky die Grundlage für eine korrekte Einschätzung seiner Möglichkeiten gegenüber der deutschen Regierung.

Ein Botschafter muss nicht dem Gastland gefallen, sondern seiner eigenen Regierung. Aber er sollte so klug sein, dass er Freunde gewinnt und nicht verliert, er sollte fähig sein, die Interessen seines Landes mit denen seines Gastlandes so zu verknüpfen, dass beide Seiten eine gute Grundlage für gemeinsames Handeln finden. Botschafter Melnik ist unklug genug, Freunde zu verprellen, und unfähig, Gemeinsamkeiten zu finden – das schadet der Ukraine massiv und ist sicher die Ursache für viele Missverständnisse trotz der klaren Haltung Deutschlands an der Seite der Ukraine.

Was „genug“ ist, das ist ein bewegliches Ziel (a moving target). Wenn es sich daran orientiert, dass die Ukraine sich behaupten kann, dann sollte das ein Minimum sein. Schwieriger ist es das Maximum der Hilfe zu definieren. Denn das erfordert eine sehr subjektive politische Einschätzung der Risiken in jedem Einzelfall. Die letzte Entscheidung kann uns niemand abnehmen.

Weil der Westen nur gemeinsam stark ist, muss diese Einschätzung auch innerhalb der NATO abgestimmt werden. Wenn Deutschland tatsächlich „zu wenig“ tut, dann wäre es doch folgerichtig, wenn die Ukraine dort anfragt, wo bereits „genug“ getan wird.

3. „Unser Kriegsziel ist, dass die Ukraine gewinnt“

Als Putin am 24.Februar 2022 den Angriff auf die Ukraine begründete, hat er die russischen Kriegsziele relativ freimütig bekanntgegeben: Die Zerstörung der Ukraine als souveräner Staat, die Umerziehung derjenigen, die so „geistesgestört“ sind, ihre Nationalität als ukrainisch zu bezeichnen, den Einfluss des dekadenten, demokratischen Westens in ganz Europa zu brechen und die USA aus Europa zu verdrängen.

Die Ukraine wollte den Krieg nicht und hatte bis zuletzt gehofft, dass Putin blufft. Somit hatte die Ukraine auch keine Kriegsziele außer sich mit allen Kräften zu verteidigen. Präsident Selensky hat mehrmals zu erkennen gegeben, dass er mit Russland – ja mit Putin selbst – verhandeln will.

Die deutsche Debatte über die Semantik des Unterschiedes zwischen Bundeskanzler Scholz, der sagte, dass die Ukraine nicht verlieren dürfe, und einigen Oppositionsabgeordneten, die darauf bestehen, dass die Ukraine „gewinnen“ müsse – und Russland aus allen zur Ukraine gehörenden Territorien vertreiben müsse, ist grotesk.

Der Abgeordnete Kiesewetter (CDU) unterstellte dem Kanzler, er sende subtile Signale an Putin, die zeigten, dass er nicht wolle, dass die Ukraine siege. Ganz abgesehen davon, dass damit eine infame Diffamierung des Bundeskanzlers beabsichtigt war, steckt dahinter ein reales Problem.

Prognosen für Kriege sind noch viel unzuverlässiger als für Wahlen oder Aktienkurse. Die Ukraine wird immer wieder prüfen, was sie KANN. Denn was jede Seite WILL, nützt wenig, wenn man es nicht kann. Auch die bestmögliche Hilfe aus dem Westen kann kein vorgegebenes Ziel sicherstellen. Die Ukraine kann ihre Verteidigung nur dann als erfolgreich ansehen, wenn die Kämpfe definitiv beendet werden, sei es durch Waffenruhe, Waffenstillstand oder Friedensschluss.

Der status quo vom 21.Februar 2022 war keine Waffenruhe, sondern ein Kampf um die Ostukraine, der bereits seit mehr als acht Jahren andauerte. Die russische Annexion der Krim ist international nicht anerkannt, so dass die Ukraine völkerrechtlich gut begründen könnte, wenn sie russische Streitkräfte nicht nur aus der ganzen Ostukraine sondern auch von der Krim vertreiben würde, wenn sie das denn könnte. Sie dürftte sogar mit guten Gründen Belarus von seinem Diktator Lukaschenko befreien, der sein Land Russland als Aufmarschgebiet für den Angriff auf die Ukraine zur Verfügung gestellt hatte, wenn sie das denn könnte.

Für Deutschland und den Westen stellt sich allerdings die Frage, ob die Unterstützung der Ukraine gegen den russischen Angriff auch alle diese Ziele einschließt. MdB Kiesewetter ist offenbar dieser Auffassung, Henry Kissinger hingegen gab Selensky den Rat, zu territorialen Abtretungen bereit zu sein. Der deutsche Bundeskanzler tut gut daran, beiden nicht zu folgen.

Der Geruch eines Diktats nach Vorbild der Vergewaltigung der Tschechoslowakei durch das Müncher Abkommen von 1938 liegt in der Luft, wenn Kissinger „peace in our time“ (wie es Chamberlain nannte) durch Nachgeben sichern will. Zugleich liegt in der Luft, dass nach einer Rückeroberung der Krim durchaus die Frage auftauchen könnte, ein Referendum – diesmal demokratisch und international überwacht – auf der Krim zu veranstalten, ob man nicht doch zu Russland gehören möchte. Was tun, wenn das mit 51% FÜR Russland ausginge?

Die Bundesregierung gibt die „Kriegsziele“ nicht vor, sie vermeidet den Begriff „gewinnen“ (den darf Selensky natürlich verwenden!) – gerade weil unklar ist, wann dieser Punkt erreicht ist, und sagt genauso klar, dass Putin NICHT gewinnen darf – SEINE Ziele also nicht erreichen darf.

4. „Der zögerliche, arrogante, kommunikationsunfähige Bundeskanzler“

Arroganz liegt unseren Medien-Stars natürlich völlig fern. Es ist ja die Aufgabe einer kritischen Presse, denen da oben mal den Marsch zu blasen, vor allem einem Bundeskanzler, der sich selbst für kompetent und die Talk-Masters-of-the-Universe für inkompetent zu halten scheint. Demokratie heißt nun einmal, dass Politiker zur Rechenschaft gezogen werden müssen – und das heißt, sie müssen 90% ihrer Zeit damit verbringen, sich zu rechtfertigen und 10% damit, gute Fototermine zu liefern – ab und zu ein Skandälchen ist auch hilfreich – das belebt die Medienlandschaft.

Die Kritik am Bundeskanzler wird selten von den Talkmastern vorgetragen. Sie zitieren gerne andere: „der Herr sowieso, die Frau sowieso-wie-auch-immer haben gesagt: …“ – so können auch infame Verleumdungen wie der Verratsvorwurf von MdB Kiesewetter wiederholt werden, ohne dass sich der Showmaster damit gemein macht.

Natürlich gibt es in Situationen, die Diskretion und Geheimhaltung erfordern. Die ukrainische Regierung macht das meisterhaft: nur karge Berichte über eigene militärische Bewegungen, Probleme, Verluste oder Kollateralschäden. Auch Umfang und Wege der Waffenlieferungen werden erfolgreich geheimgehalten. Offenbar halten sich auch viele unserer Verbündeten, die der Ukraine helfen, mit öffentlichen Äußerungen dazu zurück. „Feind hört mit!“ – ist ja kein Witz.

Es gibt Situationen, die so gefährlich sind, dass jedes falsche Wort schlimme Folgen haben kann. Im Krieg schwatzen vor allem die Propagandisten – das ist Teil der Kriegführung. Unsere Medien wollen den „human touch“, die emotionale Rede, am besten mit Tränen – oder aber flotte Sprüche, die jeden Stammtisch in Twitter, Instagram oder Facebook entzücken würden.

Ein Kanzler, der wenig spricht, gilt den Medien als langweilig, Besonnenheit gilt als Zögerlichkeit, der Hinweis an einen Journalisten, er oder sie seien inkompetent verbietet sich ganz und gar. Olaf Scholz sagt das ja nicht, aber er lässt ungeschickterweise die Gewissheit seiner überlegenen Kompetenz an seiner Körpersprache erkennen. Selbst wenn er recht hat, darf er sich nicht über giftige Reaktionen wundern. Es nimmt aber den Charakter einer Kampagne an, wenn kein Talk mehr ohne Hinweis auf den zögerlichen, langweiligen, einschläfernden, unfähigen Kanzler auskommt.

Ist Bundeskanzler Olaf Scholz kommunikationsunfähig? – Offenbar hätte sich die Presse nach sechzehn Jahren Merkel etwas mehr Abwechslung gewünscht, jemanden wie Robert Habeck, der Emotionen zeigt, jemanden wie Analena Baerbock, die schnell gelernt hat, mit vielen Worten wenig zu sagen und noch weniger Konsequenzen daraus zu ziehen. Von Christian Lindner schweige ich lieber, denn er hat auch keine guten Karten bei den Medien.

Doch wir müssen jetzt zwei Dinge auseinanderhalten: die Beurteilung der nüchtern-sachlichen, man kann auch sagen: knüppeltrockenen Kommunikation, die Olaf Scholz schon im Wahlkampf zeigte und die Notwendigkeiten, in einer Kriegssituation zu kommunizieren. In einer Krise muss der Kanzler sich mehr als sonst direkt an die Bevölkerung wenden. Merkel hat das in der Euro-Krise und in der Flüchtlingskrise versäumt. Scholz hat seine großen Auftritte dort gehabt, wo sie hingehören: im Deutschen Bundestag und in direkten Ansprachen – und nicht in Talkshows. Dort war er besonnen, aber auch klar und deutlich, keineswegs langweilig, höchst kommunikationsfähig. Das hat die Talkmaster beleidigt. Sie finden das arrogant und rächen sich.

Als ich studierte, hingen wir vor den Fernsehschirmen, wenn die großen Bundestagsdebatten zu Notstandsgesetzen oder zur Ostpolitik stattfanden. Heute hängen wir vor den Talkshows durch. Wenn Olaf Scholz die Debatte in den Bundestag zurückverlagert, dann tut er ein gutes Werk.