Behaltet die politische Verantwortung!
Lasst Euch nicht von den Medien treiben!
VERÖFFENTLICHT 9. MÄRZ 2022
In den Talkshows und anderen Medien findet derzeit ein gefährlicher „Mission Creep“ statt. Ich verstehe, dass Vertreter der Ukraine verzweifelt versuchen, die NATO in den Krieg mit Russland hereinzuziehen – weil das aus ihrer Sicht eine Chance ist, dem Angriff so lange standzuhalten, bis Russland verhandlungsbereit ist. Die NATO und der amerikanische Präsident haben sehr klar gesagt, dass die NATO einerseits NICHT direkt eingreifen wird, jedoch bisher beispiellos harte Sanktionen gegen Russland verhängen wird.
Die Argumentation des ukrainischen Präsidenten, die auch in den deutschen Talkshows wiederholt vorgetragen wurde, ist:
der Krieg sei schon längst ein Krieg des ganzen Westens gegen die russische Autokratie
Russland werde nach einem Erfolg in der Ukraine das Baltikum angreifen
der Westen verrät seine Werte, wenn er dem Leiden der Ukraine zuschaut ohne einzugreifen
jetzt müsse eine no-fly-zone her, und direkte Luftkämpfe der NATO gegen Russland
Deutschland müsse sofort auf russisches Öl und Gas verzichten, damit nicht länger der russische Krieg mit den daraus folgenden Einnahmen finanziert würde
Die Sanktionen wirken bereits. Ich habe mich ausdrücklich für Waffenlieferungen an die Ukraine ausgesprochen, die anfangs angekündigte Lieferung von Helmen schien mir ein Hohn zu sein! Ich habe kritisiert, dass die SWIFT-Maßnahmen zunächst zu schwach waren. Die Bundesregierung hat bei der Sondersitzung des Bundestages am 27.Februar 2022 die deutsche Außenpolitik so umgesteuert wie es notwendig war.
Das ändert aber nichts daran, dass wir es mit einer sehr gefährlichen Situation zu tun haben, in der auch irrationale Entscheidungen oder Fehlkalkulationen zu einer weiteren Eskalation führen können, die niemand will. Das bedeutet eine schwere politische Verantwortung. Der Bundeskanzler und die Regierung, angesichts der Lage auch unter Einbeziehung der größten Oppositionspartei, stehen vor schwierigen Entscheidungen.
In einer Demokratie werden die Medien oft als „vierte Gewalt“ bezeichnet. Doch gerade in einer so schweren Krise darf das keine „Gewalt“ sein, die über Krieg und Frieden entscheidet: die Verantwortung liegt ALLEIN bei der Politik und nicht bei Amateurstrategen aus den Medien, auch nicht bei denen, die den Kaffeesatz aus zeitgebundenen Umfragen herauslesen, nicht einmal bei Experten aller Art von pensionierten Generälen bis zu Think Tanks. Einen „mission creep“ zu ständiger Eskalation getrieben von Medien (und ihren Umfragen) darf es nicht geben!
Die Debatte darf natürlich in den Medien stattfinden, aber nichts kann den demokratisch legitimierten Politikern der Bundesregierung und der anderen westlichen Regierungen ihre Verantwortung abnehmen. Gerade Fernsehbilder haben schon oft Emotionen geweckt – und die Bilder aus der Ukraine können niemanden ungerührt lassen! Doch die Politik – jedenfalls die westliche – muss rational entscheiden. Geheimdiplomatie wird eine Rolle spielen. Medien sollten sich bewusst sein, dass sie von den Kriegsparteien genau beobachtet und ausgewertet werden. Sie sollten immer prüfen, ob alles, was sie wissen, auch in die Öffentlichkeit gehört.
Jede politische Entscheidung – was wir können, was wir wollen – muss unter Berücksichtigung vieler Faktoren fallen: einer klaren Risikoeinschätzung für die militärischen und wirtschaftlichen Folgen, einer Einschätzung unserer eigenen Resilienz (wie schnell schalten „das Volk“ und die Medien um, wenn es „ernst wird“), wie ist unsere tatsächliche Stärke, wie die Durchhaltefähigkeit, wie ist unsere Leidens- und Verteidigungsfähigkeit, wie ist die Lage im Bündnis – und zwar langfristig? Das darf nicht nach Stimmungslage in den Medien entschieden werden.
Ich habe die „Daten“ nicht, die zu so einer Einschätzung notwendig sind. Ebensowenig können die Medien die Lage beurteilen (auch wenn sie das oft glauben!). Wenn der Gegner wiederum Spekulationen und Debatten in den Medien zu ernst nimmt, besteht die Gefahr gefährlicher Fehlkalkulationen. Vielleicht hat Putin schon vor seinem Angriffsbefehl die westliche Entschlossenheit auch deshalb unterschätzt, weil die Mediendebatte, wie sie in demokratischen Gesellschaften (z.B. in deutschen Talkshows) stattfindet, den Eindruck erwecken konnte, dass alle angedrohten Maßnahmen schnell zerredet werden würden, bevor wirklich gehandelt werden konnte. Man schaue sich nur das Schicksal der „Impfpflicht-Debatte“ an. Diktatoren unterschätzen, dass demokratische Regierungen trotz solcher Debatten in existenziellen Fragen durchaus entschlossen handeln können.
Zu den Argumenten zu einer weiteren Eskalation ist zu bemerken:
Der Krieg ist bisher NICHT ein Krieg zwischen der NATO / dem Westen und Russland. Westliche und globale Interessen sind betroffen und Russland kann nicht erwarten, dass die Verletzung des Völkerrechts und der internationalen Ordnung einfach hingenommen wird.
Die NATO ist erst dann im Spiel, wenn ein NATO-Land angegriffen wird – dann allerdings ist die ganze NATO im Spiel. Ein Angriff auf das Baltikum wäre Selbstmord für Russland.
Die Ukraine ist genau deshalb nicht NATO-Mitglied geworden, weil der Wille, einen Ukraine-Russland-Krieg als Angriff auf die NATO anzusehen, weder in den USA noch in Europa bestanden hat. Die USA und die NATO sind weder willens noch in der Lage, eine „Weltpolizei“ zu sein, die überall eingreift, wo Unrecht geschieht. Das ist tragisch, aber real.
Russland hat offenbar die Bündnisfreiheit der Ukraine als Freibrief dafür verstanden, das Land zu überfallen. Putin sollte seine historische Lektüre vielleicht einmal erweitern und nachlesen, welche Folgen die Verletzung der belgischen Neutralität durch den deutschen Einmarsch in 1914 hatte! Ein russischer Angriff gegen EU-Mitglieder wie Finnland und Schweden – die Putin ja auch bedroht hat – wäre eine so schwere Verletzung unserer Interessen, dass ein Eingreifen mir auch unabhängig von Bündnisverpflichtungen sicher erscheint. Genau das war hingegen bei der Ukraine nicht der Fall.
Eine no-fly-zone müssen die Ukrainer selbst herstellen, die notwendigen Waffen dürfen sie wie jeder souveräne Staat erwerben. Die NATO will ausdrücklich nicht in die Kämpfe eingreifen. Im Vietnamkrieg in den sechziger Jahren hat die Sowjetunion übrigens Hanoi mit allen gewünschten Waffen beliefert, aber eben nicht selbst gegen die USA eingegriffen. Das ist eine zwischen den Kernwaffenmächten gebotene Vorsichtsmaßnahme.
Die Wirtschaftssanktionen sind bereits beispiellos stark und werden auch uns Opfer abverlangen – aber sie müssen gut vorbereitet, durchhaltbar und langfristig tragbar sein, sonst verlieren sie den Rückhalt in der Bevölkerung und wirken letztlich auch nicht. Der Vorwurf der Finanzierung von Putins Krieg trifft nicht wirklich zu: dafür ist Russlands Kriegskasse längst gefüllt. Wesentlich stärker trifft Russland die langsame Umstellung unserer Energieversorgung in einer Weise, die ein autokratisches Russland für die Zukunft als Lieferanten ausschließen wird. Wenn Russland uns den Gashahn abdrehen will, sollten wir gewappnet sein – aber wir müssen über das ob und wann eigener Maßnahmen rational und politisch entscheiden und nicht nach Stimmungslage in den Talkshows.
Auch China sollte sich darüber klar sein, dass die engen und gegenseitig vorteilhaften Handels- und Investitionsbeziehungen in Zukunft danach bewertet werden, wie das politische Risiko eingeschätzt wird. Wenn China glaubt, es müsse Verbündeter eines aggressiven Russland sein, dass die EU bedroht, dann muss die EU daraus Konsequenzen ziehen. Ein starkes, aufsteigendes China, das Teil einer stabilen internationalen Ordnung – ein „stakeholder“, wie es Bob Zoellick einmal nannte, ist uns recht (ebenso ein Russland, das sich auf den Wohlstand seiner Bürger konzentriert und nicht auf Unterdrückung). Das Investitionsabkommen mit der EU war eine Chance zu weitergehender Zusammenarbeit. Es war sicher nicht klug von China, die gleichen EP-Abgeordneten, die das Abkommen ratifizieren sollten, für ihre unbequemen Meinungen „bestrafen“ zu wollen, aber die Haltung, die jetzt gegenüber dem Krieg in der Ukraine eingenommen wird, hat eine weit größere Bedeutung: ein China, das eine russische Bedrohung Europas zu verstärken bereit ist, wäre auf lange Sicht kein zuverlässiger Partner mehr.
Eine Politik der „Autarkie“ ist ineffizient und teuer. Aber Europa und die USA gemeinsam mit ihren Partnern in Asien können eine für alle vorteilhafte Weltwirtschaft auch ohne Russland und China voranbringen, wenn diese Länder sich – wie in den fünfziger Jahren – als Außenseiter der internationalen Ordnung isolieren wollen. Ich habe Präsident Xi so verstanden, dass er keine Isolierung will – dann muss er aber erkennen, dass er nicht beides haben kann: Partnerschaft mit Europa und ein Bündnis mit Putin-Russland.