Bekenntnis eines Russlandverstehers (2014)

VON GEORG BOOMGAARDEN · VERÖFFENTLICHT 19. DEZEMBER 2014

Ja ich bin gerne ein Russlandversteher. Acht Jahre habe ich in zwei sehr unterschiedlichen Perioden in Moskau gelebt, dort Freunde gefunden und die Russen schätzen gelernt. Ich liebe die russische Kultur, die Musik, die Literatur, die Kunst und die Menschen, die ich dort bei den Konzerten, Lesungen und Ausstellungen traf. Die Erfahrungen mit dem russischen Klima waren extrem: im Dezember 1978 sank die Temperatur auf 37 Grad unter Null. Im Sommer darauf hatten wir 35 Grad Hitze. 

Und so war es auch im täglichen Leben: in den Jahren 1976-1980 begegnete ich täglich Menschen, die ich am liebsten an Ort und Stelle umarmt hätte, und ich begegnete anderen, die ich verachtete oder sogar hasste. Letztere traten mir nicht als Menschen gegenüber sondern als Funktionsträger. Und sie nahmen ihre Funktion als KGB-Mitarbeiter ernst, bespitzelten und provozierten uns, demonstrierten ihre Arroganz der Macht. Vor allem aber drangsalierten sie diejenigen Russen, die ins Visier der „Organe“ gerieten, weil sie selber zu denken wagten. 

Ein Regime, das Dichter verfolgt, ist so ziemlich das verachtenswürdige, das es gibt. Die Sowjetunion war ein System der Lüge. Die Träger des Regimes belogen andere, aber auch sich selbst. Der Zusammenbruch der Sowjetunion war der größte Glücksfall für das russische Volk. Aber es gab natürlich auch Verlieren: die Profiteure des Ancien Regime, die Korken, die stets oben schwammen und die Speichellecker der Herrschenden, die nun nicht mehr viel zu lecken hatten.

In den Jahren 1992-1995 erlebte ich ein ganz anderes Russland, ein Russland der Gedankenfreiheit und des Aufbruchs, aber auch ein Russland des Verbrechens und des Betrugs am russischen Volk. Die schamlose Bereicherung einiger früherer Wirtschaftsfunktionäre, die sich nun zu Oligarchen mauserten, während Renten monatelang nicht mehr ausgezahlt wurden und Löhne ausblieben, die hohe Rhetorik und die niedrigen Geschäfte vieler sogenannter „Demokraten“ brachten die Demokratie in Verruf. Russland schaffte den direkten Übergang von einer Karikatur des Sozialismus (den sie realen Sozialismus nannten) zu einer Karikatur des Kapitalismus.

Der alte Sinnspruch: „An Russland kann man nur glauben“ kam in den Sinn. Es war klar, dass das Land nicht auf den Umbruch vorbereitet war. Die Menschen waren orientierungslos. Das ist die Situation, wo der starke Mann gefragt ist, jemand der mal „aufräumt“ und – wie Putin es nannte – die „Diktatur des Rechts“ durchsetzt. Manche haben Putin missverstanden und glaubten, dass Diktatur in diesem Satz eine Metapher für die Stärke war, die dem Rechtsstaat zukommen solle. Aber Putin versteht unter dem Recht eher das „gesunde Volksempfinden“ und unter Diktatur keineswegs eine Metapher.

Soll man das alles „verstehen“? – Oder gilt hier: „tout comprendre c’est tout pardonner“?
Ich glaube, dass wir immer noch zu wenig von Russland verstehen. Und nur, wer versteht, kann auch unterscheiden zwischen dem, was „verständlich ist“ und was nur „Unverständnis verdient“. Zum Verstehen eines Landes und seiner Menschen gehört zu allererst, dass differenziert wird: wie bei uns auch gibt es viele verschiedene Charaktere, Meinungen und Handlungsweisen in Russland. Es wäre eine völlig unzulässige Verallgemeinerung, diese Vielfalt außer Acht zu lassen. 

Aber aus dieser Vielfalt sticht natürlich hervor, was herrschende Meinung ist, was populär ist, und was diejenigen tun, die für Russland handeln, weil sie die Macht dazu haben. Zum Verstehen gehört auch, dass die Dynamik der Entwicklung beachtet wird und nicht von einem statischen, unveränderlichen Zustand ausgegangen wird. Das bedeutet: kein Verstehen ohne auch die Kultur und die Geschichte und ihre Wirkungsmacht zu kennen. Und kein Verstehen, das nicht auch die Möglichkeit zukünftiger Veränderungen einbezieht.

Es ist hilfreich eine Art goldene Regel des Verstehens zu beachten: so wie du nicht missverstanden werden willst, so missverstehe auch andere nicht. Das setzt vor allem Offenheit im Gespräch voraus, nicht das Verharren im Ressentiment oder in vorgefassten Meinungen. Das verlangt Empathie, sich einfühlen auch in die Gefühlswelt der Anderen. Verstehen setzt Verstehen-Wollen voraus.

Eine Grenze findet das Verstehen, wenn das Gegenüber gar nicht verstanden werden will, sondern seinen Weg mit Gewalt und Unterdrückung geht. Wer verstanden werden will, muss seine Handlungsweisen erklären. Wer Unterwerfung will, braucht nichts zu erklären.

Ich bin gerne ein Russlandversteher. Was die russische Kultur hervorgebracht hat, gehört zum schönsten Erbe der Menschheit. Viele Russen sind mir sympathisch, einige nicht – das gilt für Deutsche, Spanier, Briten und viele andere genauso. Auch die Politik Russlands möchte ich verstehen. Vieles davon ist verständlich, manches nicht. 

Ich höre zu, wenn es erklärt wird. Wenn aber Gewalt an die Stelle des Erklärens tritt, wenn der Wille verstanden zu werden fehlt, dann gibt es nicht viel zu verstehen. Viele russische Politiker glauben sich unverstanden, machen sich aber wenig Mühe, sich verständlich zu machen. Ich will Russland verstehen – aber ich erwarte auch, dass Russland – um es pauschal zu sagen – sich auch verständlich macht und auch die anderen versteht. Und da ist der Einsatz von Gewalt unverzeihlich.