Willy Brandt
Rede am 30.Januar 1983
zum 40.Jahrestag von Hitlers "Machtergreifung" 

Rede des SPD-Vorsitzenden Willy Brandt
im Berliner Reichstag am 30. Januar 1983 

"30. Januar 1933 - 30. Januar 1983 - Erfahrungen der Geschichte"

 

Wir sollten der Versuchung zur Rechthaberei widerstehen. Aber Lehren zu vermitteln, gehört zu den Pflichten von uns Älteren gegenüber den neuen Generationen. Wir hülfen niemandem, wenn wir wegliefen vor der Last einer bösen Vergangenheit, die hineinwirkt in alles, was unsere deutsche Wirklichkeit ausmacht - und die deutsche Existenz in Europa.

Oder wenn wir wegzuerklären versuchten, womit das dunkelste Kapitel unserer Geschichte eingeleitet wurde. Oder wenn dieser Tag bloß dazu dienen sollte, uns für die anderen Tage Beruhigung zu verschaffen.

Das Brandzeichen, das die Volksverdreher diesem Datum aufsetzten, ist auch nach einem halben Jahrhundert nicht verwittert. Ich hoffe, viele von uns haben gelernt: Vergessen ist der Erzfeind unserer Zukunft. Und ich rate dazu, das weiterzusagen. Wie anders sollten wir bestehen vor dem Leid, vor den Opfern an Menschenleben und geistiger Substanz! Den Opfern in Folterkellern und Schandlagern. Denen in besetzten Ländern. Denen, die an den Fronten oder in Bombennächten oder bei der Vertreibung zugrunde gingen, seitdem mit der sogenannten Machtergreifung die Weichen in Richtung Knechtschaft und Krieg und Hass gestellt worden waren.

Es sah so aus, als sei dieses Volk der europäischen Mitte bereit, das Erbe der Aufklärung, der Vernunft, seiner geistigen und angestammt religiösen Traditionen ein für alle Mal aufzukündigen. Und dahin kam es ja auch. Inzwischen sollte sich herumgesprochen haben, daß es die Hitler-Leute, ihre Wegbereiter und Helfershelfer waren, die zusätzlich zu allem anderen - nationalen Verrat im Übermaß betrieben. Unser Berlin lädt in besonderem Maße dazu ein, nicht von Mauer und Stacheldraht zu reden, ohne auch diesen Zusammenhang klar vor Augen zu haben. Wir können es uns nicht erlauben, zu vergessen. Und ich kann den Jüngeren wirklich nicht raten, sich der Illusion hinzugeben, die Geschichte ließe sich abschütteln.

Mißtrauen wir, so möchte ich den Jüngeren sagen, allen, die uns zu Geschichtslosigkeit oder zu Süßholzraspeln einladen: Die Gefahr ist nicht, daß die Auseinandersetzung um die Nazizeit die deutsche Ge- schichte auf zwölf Jahre verkürzen könnte. Gefährlich wäre ein Schweigen, daß den Schuldigen wie ein Versteck wäre und uns der Waffen beraubte, die wir für die Zukunft brauchen.

Das Versagen derer, die Hitler die Macht zuspielten - jener Macht, von der er behaupten ließ, daß er sie ergriffen habe, war nicht "schicksalhaft" vorherbestimmt. Und er wurde ja zunächst Kanzler einer Regierung, in der Deutschnationale (mit oder ohne Mitglieds- buch) im Verhältnis 3 zu 1 vertreten waren. Niemand wird heute noch ernsthaft die Rolle psychischer Faktoren und seelischer Vorgänge im Leben der Völker geringschätzen. Doch nirgends war "schicksalhaft" vorausbestimmt, daß die demütigenden Folgen des Krieges, die verständnislosen Attitüden ausländischer Regierungen und die zerstörerischen Ergebnisse der Weltwirtschaftskrise sich nur einseitig zu Lasten von Demokratie und Menschen würden auswirken können.

Mehr als an irgendetwas anderem liegt mir an diesem Tag daran, über alle möglichen Schuldzuweisungen hinweg zu sagen: Es mußte nicht so kommen. Hitler kam nicht über uns, er wurde emporgetragen. Die Nazis wurden erst belächelt, danach als nützlich erkannt oder verkannt - und dann hochgepäppelt.

Ein Bürgertum, das sich in seiner Tüchtigkeit weithin unpolitisch wähnte, hätte einem vergifteten Nationalismus und einer dummen Republikfeindlichkeit widerstehen können. Die demokratische Linke hätte es fertigbringen können, sich zu einer einfallsreicheren und kraft- volleren Politik durchzuringen. Die mit Volkssouveränität ausgestatteten Staatsbürger brauchten die Volksverderber nicht zu einer unwiderstehlich erscheinenden Massenbewegung werden zu lassen.

Man muß kein eingefleischter Schwarzseher sein, um sich vorzustellen, daß wir, wenn auch auf ganz andere Weise, erneut gefordert sein könnten. Im Kern wird es darum gehen, ob wir gelernt haben, existentielle Entscheidungen zu fällen, ohne den richtigen Kompass zu verlieren. Daß der Wahnsinn zur handelnden Macht werden kann, wenn wir ihm nicht mit Vernunft zuvorkommen, sollten wir verstanden haben. Und wenn es darauf ankommt, bedeutet keine Entscheidung die Entscheidung gegen einen selbst ... Das ist eine Lehre des 30. Januar.

Nicht um nachträgliche Besserwisserei kann es gehen, sondern um das Weitertragen der Erkenntnis: In der Beantwortung existentieller Fragen darf man nicht warten, bis es zu spät ist. Wir berufen uns gern auf die Solidarität der zweiten deutschen Republik, der des Grundgesetzes. Und es ist wahr, wir hatten mit ihr mehr Glück als mit der ersten. Die Gründe sind deutlich: Die Niederlage von 1945, auch die moralische, konnte nicht geleugnet werden. Die traditionellen "Eliten", die dem Staat von Weimar mit Widerwillen und Verachtung begegneten, hatten ihre Autorität eingebüßt.

Das Volk erkannte, zuerst zögernd, dann bereitwillig, die sittliche Überlegenheit der demokratischen Zivilisation an. Es erfuhr schließlich, daß die Demokratie leistungskräftiger ist als die Diktatur. Die zweite Republik brachte ihm größeren Wohlstand, mehr Gerechtigkeit, mehr Sicherheit als jede deutsche Staatsordnung zuvor.

Es gelang schließlich, auf dem Weg der Reformen, die bürgerliche Revolution, die unsere Vorfahren im vergangenen Jahrhundert versäumten, in evolutionärer Gestalt halbwegs nachzuholen. Ich bin alt genug, sagen zu können: Die Mentalität unseres Volkes, zumal der Jüngeren, hat sich nicht wenig verändert. So weit, so gut, so sehr gut. Doch mehr als zwei Millionen Arbeitslose und andere Folgen einer neuen weltweiten Rezession, die möglicherweise schon eine Depression ist, dämpfen das Pathos, das sich hier einstellen könnte.

Der weltweite Rüstungswahn lähmt einen nicht geringen Teil auch unserer nationalen Energien. Der Gegensatz zum Welthunger kann nur Empörung auslösen. Auf der anderen Seite fehlt es nicht an Parolen, die an so viele Wände geschmiert sind, zumal solchen des Ausländerhasses, die auch nicht geeignet sind, eine Festtagslaune aufkommen zu lassen.

 Sie erlauben es uns nicht, daß wir uns in die Brust werfen: Ja, damals aber schaut uns heute an...  Wir würden vielmehr gut beraten sein, uns aufmerksam genug um das zu kümmern, was manche der Jungen umtreibt. Damals war in Grunde fast alles angekündigt worden, was nach dem 30. Januar geschah, von der blutigen Verfolgung Andersdenkender bis zur millionenfachen Vernichtung der Menschen jüdischer Herkunft, Aber keine düstere Aussicht reichte hin, die zerstrittenen nichtnazistischen, demokratischen, prorepublikanischen Kräfte von links und aus der bürgerlichen Mitte oder aus dem gesittet-konservativen Lager zu einer entschlossenen und handlungsfähigen Abwehr zusammenzuschweißen,

Ja, manchmal will es mir in Nachhinein scheinen, als hätten die Ankündigungen nicht alarmierend, sondern fast eher betäubend gewirkt: man hatte sich daran gewöhnt, als es noch Absicht war, und als es dann Wirklichkeit wurde, war es nichts unerwartet Neues mehr. Freilich will ich auch an dieser Stelle billige Verallgemeinerungen nicht unwidersprochen lassen. Es stimmt nicht, daß es 1933 keinen Widerstand gegeben habe.

In den Tagen nach dem 30. Januar und während der Februarwochen hat es in vielen Städten - so in Lübeck, wo ich aufwuchs - die größten Demonstrationen seit Ende des Krieges gegeben. Niemand, der das bewußt miterlebte, hat es je vergessen können. Die Arbeiterschaft, die zu Abertausenden in Erscheinung trat, obwohl sie schon durch Verhaftungen eingeschüchtert wurde, war allerdings durch Spaltung und Isolierung geschwächt. Sie wartete auf ein Kampfsignal, das ihr nicht gegeben wurde. Die einen hatten sich von der Wirklichkeit meilenweit entfernt, die anderen scheuten davor zurück, die Verantwortung für die Opfer von bürgerkriegerischen Auseinandersetzungen auf sich zu nehmen. Sie haben damit vorsichtig gesagt, die späteren, unendlich viel größeren Katastrophen nicht verhindern können.

Das gilt dann aber auch für die Kurzsichtigkeit jener ausländischen Mächte, die Hitler gaben, was sie der Republik verweigert hatten. Auch diese Verweigerung trug zu jenem ungeheuerlichen Exzess bei, der Europa mit Deutschland in Trümmer legte. Die Vorgeschichte des 33er Debakels reicht weit zurück: Die abstrakte, komplizierte deutsche Staatsidee hatte sich vom Einzelnen und seinen Bedürfnissen sehr entfernt. Sie wurde denn auch bald aus ihren abstrakten, kalten Höhen herabgezwungen.

Das Verlangen nach einer lebensvollen und oft romantischen Vergegenwärtigung verirrte sich in einen nationalen Determinismus, der keine Besonderheit der Deutschen war. Nur: ihr Nationalismus war als ein Gegen-Nationalismus entstanden, war von Beginn an romantisch und konservativ, nur flüchtig von den demokratischen und universellen Impulsen berührt, ohne die die bürgerliche Revolution der Briten, die anti-imperialistische Revolution der Amerikaner, die große sozial- nationale Revolution der Franzosen nicht denkbar waren. Vom nationalen zum biologischen Determinismus war es bei uns nur ein Schritt, wenn- gleich ein riesenhafter und schrecklicher. Jawohl, die geschichtliche Entwicklung hatte in Deutschland ein Bürgertum hervorgebracht, dem weithin der Bürgergeist fehlte. Ohne die demokratischen Impulse, die das Staatsleben unserer Nachbarn im Westen und Norden bestimmte. Ohne festverwurzelte Verpflichtung auf die Menschenrechte.

Die Republik von Weimar war von ihrem Beginn an geprägt von der Unfähigkeit zu handeln auf der demokratischen Seite und der skrupellosen Entschlossenheit der verschiedenen reaktionär antirepublikanischen Kräfte: ein Bürgerstaat ohne Bürger, eine Demokratie ohne Demokraten. Oder doch von beidem zu wenige, zu schwache, zu ängstliche.

Eine Minorität zunächst, dann, unter der Pression der Sorgen, eine Majorität ließ sich fortreißen von den "Bewegungen", die sich als "schicksalhaft" ausgaben: dem Traum von "nationaler Größe", hinter dem sozial sich aufbäumendes Ressentiment sich verbarg: gegen die Niederlage, die man nicht wahrhaben wollte, sondern durch die Legende vom "Dolchstoß" aus dem Bewußtsein zu verscheuchen suchte, gegen "Versailles", gegen die sogenannte Kriegsschuldlüge.

Man floh aus der schockierenden Erfahrung des technisierten Mordens in den "Materialschlachten" in eine Romantisierung der "Stahlgewitter", die zutiefst unwahrhaftig war. Und man begab sich auf die Jagd nach den Sündenböcken, um das "Schicksal" am Ende doch dingfest zu machen.

Das verächtlich so genannte "System" von Weimar wurde nie wirklich zum System - überall saß der Wurm drin. Das hätte sich ändern lassen. Da man die Wurmstichigkeit sich ausbreiten ließ, konnte die Hitler-Clique ihr fürchterliches, beispielloses System errichten, dessen eigentliches Kennzeichen eine bis dahin unvorstellbare Organisierung von Mord und Unterjochung geworden ist.

Junge Leute, die heute auf den Bibliotheksregalen die großen Schriftsteller-Namen der Weimarer Jahre sehen, könnten dem Mißverständnis erliegen, sie seien für die Intellektuellen, die "Gebildeten", repräsentativ gewesen. In Wirklichkeit war der durchschnittliche Akademiker antidemokratisch, nationalistisch - nicht selten antisemitisch.

Und vielen wird es ein Rätsel bleiben, daß die Machterpressung und -erschleichung einer Gruppierung gelingen konnte, die bei den Reichstagswahlen 1928 nicht einmal drei Prozent der Wählerstimmen hinter sich zu bringen wußte. Gewiß, schon ein paar Jahre später war aus der Splitterpartei eine Massenbewegung geworden, Jedoch: zur Mehrheit im Reichstag hat es nicht einmal bei den Wahlen vom März 1933 gereicht, obwohl die schon weithin durch Terror geprägt waren.

Andere verhalfen den Nazis - "Ordnung muß sein" - zur Mehrheit im Reichstag, in dem nur noch über die formale Abschaffung der demokratischen Rechte zu entscheiden blieb. Das war am 23. März 1933, und es wird bei der 50-jährigen Wiederkehr im übernächsten Monat meine Ehrenpflicht sein, des Mannes zu gedenken, der damals allein dem Ermächtigungsgesetz widersprach - und der es, wie andere auch, nicht verdient hat, als Toter gegen die ihm Nach- folgenden ausgespielt zu werden:

Es war der damalige Parteivorsitzende Otto Wels, der die Stimmabgabe seiner politischen Freunde begründete - sofern sie anwesend sein konnten: nicht wenige waren schon verhaftet - Julius Leber, der kämpferische Demokrat, den es vom Elsass nach Lübeck verschlagen hatte und der seinen zähen Widerstand nach dem 20. Juli 1944 mit dem Leben bezahlte, wurde festgenommen, als er drüben die Krolloper betreten wollte; dorthin war der Reichstag ausgelagert. worden.

Den KPD-Abgeordneten, für die am 5. März 1933 immerhin noch fast fünf Millionen Stimmen abgegeben worden waren, hatte man die Man- date schlichtweg aberkannt.

Die Abgeordneten der, wie man sagte, "bürgerlichen" Parteien wollten mit ihrer Zustimmung zu Hitlers Begehren gewiß nicht eigentlich dessen Politik unterstützen. Sie hofften, wie es in solchen Situationen immer wieder heißt, "noch Schlimmeres" verhüten zu können.

Nichts wäre falscher, als in den Nazis eine Art exotische Kraft zu sehen. Sie trafen auf breite Zustimmung - über die hinaus, die. sie bei einem ungebremsten Spießertum und bei den Angehörigen breiter entwurzelter Schichten schon in den Jahren zuvor gefunden hatten. Kein Zweifel, sie waren damals auf verhängnisvolle Weise volkstümlich.

Man kann keine Realität bewältigen, der man sich nicht stellt. Verdrängung heilt nicht, sondern verschleppt bloß. Sie ist in Wahrheit Resignation. Die Schulen und zumal die Elternhäuser der Nachkriegszeit sind ihrer Verantwortung, einer nachwachsenden Generation. Orientierung zu geben, in diesem Sinne nicht hinreichend gewachsen gewesen.

Auf der anderen Seite: Hat jemals eine Gesellschaft ein nationales und moralisches Debakel mit solch bemühter, manchmal auch geschäftiger Gründlichkeit bedacht? War es nicht des Guten und nicht immer Guten zu viel? Konnte die unentwegte Belehrung, die fortgesetzte Anklage, die chronische Arbeit an der Frage von Schuld und Verantwortung nicht eine Art Immunisierung bewirken?

Auch darüber haben wir nachzudenken. Wie auch darüber, daß man sich Wahrheit und Einsicht auch vom Halse reden kann, Man kann in der Tat mit oberflächlich aufwendigen Kolloquien die Realität in Grund und Boden und aus der Welt diskutieren. Man kann durch fortgesetzte Unterweisung der eigenen Betroffenheit ziemlich lang entgehen.

Viele haben, wenn sie sich nur streng genug erinnern, eine ganze Weile fast vergessen, daß die Teilung Deutschlands mit jenem 30. Januar 1933 zu schaffen hat, an dem die Mächtigen auf Hitler und damit die Nation aufs Spiel setzten. Man hat auch heute noch vielfach vergessen, daß die Selbstbestimmung für unser Volk als Ganzes zunächst einmal deshalb nicht auf der Tagesordnung inter- nationaler Politik steht, weil diesem Deutschland angelastet wird, daß es das Recht so vieler Völker, ja schließlich jedes Recht und jede sittliche Ordnung zertrümmert hatte.

Vielleicht sollten wir einen Schritt weiter gehen und uns alle ins Gedächtnis rufen, daß große Teile unseres Volkes - wie irregeführt und betrogen auch immer - ihr eigenes Recht auf Selbstbestimmung der Zwangsherrschaft opferten. Und daß dies unseren weiterwirkenden Rechten schweren Abbruch getan hat.

Wie viele Jahrzehnte mußten vergehen, ehe wir uns einzugestehen wagten, daß die Verbrechen des Dritten Reiches nicht einer schwarzen Teufelsgarde allein zur Last gelegt werden dürfen.

Die Ermordung von mehr als drei Millionen russischer Kriegsgefangener läßt sich nicht einfach dagegen aufrechnen, daß auch mehr als eine Million deutscher Kriegsgefangener in der Sowjetunion elend zugrunde gegangen sind. Generale und Marschälle haben sich der Frage entzogen, was aus den von ihnen beschworenen "blanken Schild" der Wehrmacht geworden war.

Wir erinnern uns heute der fürchterlichen Ereignisse, die sich seit dem 30. Januar 1933 jagten und unweigerlich zur Katastrophe führen mußten: nicht, um in Depression zu versinken. Im Gegenteil: die depressive Verfassung der zivilisierten Kräfte machte damals den vorübergehenden Sieg der braunen Volksverderber möglich, einen Sieg, der immerhin ausreichte, weite Teile unseres Kontinents in Schutt und Asche zu legen.

Wir erinnern uns, weil wir Überlebenden wollen, daß die uns Nachfolgenden leben und menschenwürdig leben können. Wir erinnern uns an die Millionen Opfer, all die vielen einzelnen Ermordeten und Gefallenen.

Normal in einem Sinn etwa, als hätte es diesen menschenfeindlichen Exzess nie gegeben, konnte für manchen von uns das Leben nicht mehr werden, jedenfalls für die Nachdenklichen und Empfindsamen nicht.

Der zweite Versuch, auf deutschen Boden demokratische Verhältnisse zu sichern, ist nicht nur darin vom ersten verschieden, daß wir versuchen, die alten Fehler möglichst nicht alle zu wiederholen. Nein, unsere Verfassung, auch die innere, ist nach jener hemmungslosen Unmoral eine andere, notwendigerweise.

Doch ich füge hinzu: wenn wir zuversichtlich sind, die Demokratie in der Zweiten Republik krisenfester gestaltet zu haben, wo es um den eigenen Entscheidungsrahmen geht, dann sollten wir umso mehr darauf achten, im Umgang untereinander nicht Worte zu gebrauchen, die aus der Zeit der Nazis unrühmlich in Erinnerung geblieben sind.

Weimar wurde - wie ich mich gut erinnern kann - kaputtgeschimpft, bevor es kaputtgetrampelt wurde. Dieser Hinweis hat mit künstlicher, oder gar schleimiger Einigkeit nichts zu tun.

Doch ich habe das böse Wort von den November-Verbrechern noch ungut im Ohr, ebenso wie den üblen Versuch, dem Gegner die nationale Zuverlässigkeit streitig zu machen. Wir sollten daraus gelernt haben: Demokraten sind Gegner, wo sie um den richtigen Weg streiten. Sie dürfen nicht zu Feinden werden, wo es um die gemeinsame Verantwortung geht. Wer sich darüber hinwegsetzt, hat aus dem 30. Januar nichts gelernt und versündigt sich an der zweiten Demokratie.

Die Bundesrepublik Deutschland ist bestimmt nicht die Weimarer Republik, aber vielleicht steht uns die eigentliche Bewährungsprobe doch noch bevor: Wir sollten unsere Verantwortung erkennen, auch wo es sich um die veränderten Grundlagen unserer Existenz handelt. Auch wo es sich darum handelt, das begrenzte Gewicht unseres Staates klug einzusetzen.

Nämlich so, daß es dem Überleben dient. Hoffentlich ist es ja noch nicht zu spät. Oder wollen wir nicht sehen, was sich an uns bedrohenden Gefahren zusammenballt? Und was dies für die Friedensverantwortung der Deutschen bedeutet?

Die Probleme wachsen weiter, und eines raschen Tages wachsen sie zusammen. Irgendwann gibt es die Möglichkeit zur Überprüfung nicht mehr. Daß uns dann niemand mehr fragen kann, wie war das möglich, kann kein Trost sein. Fehler, die diesmal gemacht werden, könnten die Menschheit als Ganzes ins Verderben ziehen.

Ich setze darauf, daß wir es mit Hilfe der schöpferischen und unverbrauchten Kräfte unseres Volkes schaffen werden, der Verantwortung gerecht zu werden, die uns die Schrecken der Vergangenheit miteinander auferlegen.